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Better Believe the Hype!
Die Vergesellschaftungskonferenz konnte an den Erfolg der Enteignungskampagnen anknüpfen. Es entsteht eine vielversprechende Bewegung
Wir handeln in vielen Bereichen wirklich einfach dumm», stellte der Gesellschaftstheoretiker Alex Demirović am ersten Tag der Berliner Strategiekonferenz für «eine demokratische Wirtschaft» nüchtern fest. Tatsächlich läuft so ziemlich alles schief: Die multiplen Krisen verschärfen sich im «heißen Herbst» 2022, die Klimakrise nimmt mit gewaltigem Tempo Fahrt auf, und weiterhin verharrt alles im Normalbetrieb privater Gewinne und sozialisierter Verluste. Dabei tragen die kapitalistischen Besitzverhältnisse und Beziehungsweisen des Privateigentums erheblichen Anteil an der Zerstörung der Welt, auf stofflicher wie auf sozialer Ebene. Die Hoffnung besteht, dass genau das der Ansatzpunkt für eine konkrete Forderung und verbindende Erzählung der Linken sein könnte, um breite gesellschaftliche Gegenmacht und progressive Bündnisse aufzubauen.
Dafür trafen sich am vergangenen Wochenende über 1000 Aktive aus sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, Parteien, NGOs und Wissenschaft zur Vergesellschaftungskonferenz in Berlin. Fast genau ein Jahr nach dem erfolgreichen Volksentscheid von Deutsche Wohnen & Co enteignen (DWE) hatte der Verein Communia zu einer kritischen Diskussion über eine «Wirtschaft, die für uns alle funktioniert», eingeladen. Der dreitägige Austausch war geprägt von Euphorie und «einer Art Aufbruchstimmung», so einer der Organisator*innen. Die Konferenz sei «ein Quäntchen Hoffnung in diesen finsteren Zeiten», twitterte der Stadtsoziologe Philipp Möller am Samstagmittag und traf damit einen Nerv.
Zeitgleich demonstrierten nur wenige Kilometer von der Tagungsstätte entfernt rund 10 000 AfD-Anhänger*innen im Berliner Regierungsviertel. Eine Warnung und Mahnung zugleich: Momentan erleben wir das Zusammenfallen vielfacher Krisen, die über den Kapitalismus vermittelt sind und in eine staatliche Legitimationskrise münden. Rechte Kräfte haben es in dieser Situation leicht, mit vermeintlich einfachen Krisenlösungen zu mobilisieren. Die Linke hingegen hat ihrem Anspruch nach nicht die Möglichkeit, sich solcher Agitation zu bedienen. Sie muss solidarische Antworten finden und den Zusammenhang zwischen den Krisen klar benennen. «Unter Bedingungen der Vielfachkrise kann es keine Einfachantworten geben», so die feministische Autorin Bini Adamczak am Freitagabend vor einer Woche.
Eisbrecher Eigentum
Entsprechend komplex fiel das Programm der Vergesellschaftungskonferenz aus. Entlang von sieben Themensträngen fanden über drei Tage verteilt zahlreiche Panels und Workshops statt. Die mit «den Stars und Sternchen der Vergesellschaftungsbewegung» besetzte Konferenz – etwa DWE, RWE enteignen und Hamburg enteignet! – bot theoretische Veranstaltungen zu Konzepten alternativer Wirtschaftsweisen und demokratischer Planung, kritische Rückblicke auf vergangene Enteignungs- und Vergesellschaftungsdebatten, etwa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und öffnete Räume für Austausch und Vernetzung.
Die Teilnehmenden stritten über große Fragen wie die Rolle des Staates, über Revolution oder Transformation und debattierten, wie der Austausch über Bedürfnisse in einer solidarischen Gesellschaft gelingen könnte. Ebenso widmete man sich konkreten politischen Problemen, etwa dem schwierigen Verhältnis zwischen Parteien und dem Vergesellschaftungsbegehren im Falle Berlins. Dazu wurden weitere internationale Beispiele des Munizipalismus vorgestellt, kritisch eingeordnet, und in praxisorientierten Workshops – etwa zum Kampagnenaufbau und zur Öffentlichkeitsarbeit – tauschten Teilnehmende sich aus.
Auch die Theorie kam nicht zu kurz: Die Politikwissenschaftlerin und Verlegerin Sabine Nuss problematisierte Eigentumsverhältnisse und deren Ideologie, Bini Adamczak die kapitalistischen Beziehungsweisen, die bis in unser alltägliches Miteinander reichten. Der Staat wurde als Verdichtung von Kräfteverhältnissen thematisiert, der in Gesetzen und Institutionen eine strategische Selektivität zugunsten des Kapitals eingeschrieben sei. Dazu gab es Diskussionen um Postkapitalismus, Commons, die neue Planungsdebatte, Organizing und vieles mehr.
Auf den Vernetzungstreffen und den Foren sowie nicht zuletzt auch in den vielen Pausen und auf der samstagabendlichen Party in Kreuzberg wurden unter dem Codeword «Eisbrecher Eigentum» Verbindungen geknüpft, Kontakte ausgetauscht und erste Allianzen geschmiedet. «Debatten um Vergesellschaftung haben nicht nur strategisches Potenzial, eine vage Bewegung hat sich formiert auf Basis einer politischen Hoffnung», resümierte am Sonntagnachmittag ein Mitglied des Organisationsteams.
«Wir wissen noch nicht, was wir meinen»
Aber was bedeutet nun diese Vergesellschaftung? Diese Frage zog sich in all ihren Dimensionen durch das gesamte Programm: Wie organisieren wir demokratische Prozesse so, dass sie den Bedürfnissen der Menschen entsprechen? Ist Enteignung per se emanzipatorisch? Und was bedeutet der juristische Eigentümer*innenwechsel, wenn sich der Kontext nicht ändert? Wie agieren Bewegungen im Verhältnis zu Parteien? Welche Rolle kommt dem Staat im Prozess der Vergesellschaftung zu? Und wie könnte der Alltag in einer vergesellschafteten Welt konkret aussehen? Nachhaltiger, solidarischer, sorgender und friedlicher als unsere jetzige – darin waren sich alle Teilnehmenden der Konferenz in Berlin einig.
Statt kapitalistischer Profitlogik und Wachstumszwängen brauche es eine an Suffizienz und gesellschaftlichen Bedürfnissen ausgerichtete und demokratische Wirtschaft. Und diese könne nur auf anderen Eigentumsformen als den exkludierenden privaten Verfügungsrechten aufbauen. Eigentum bildet also die Grundlage, aber zugleich auch eine Klammer für breite Bündnisse gegen die bestehenden Verhältnisse. Im politischen Diskurs, in den Nachbarschaften, in den Betrieben und auf der Straße bietet die Eigentumsfrage einen konkreten Ansatz zur Transformation. Nur: Wie umfangreich ist diese Forderung nach Vergesellschaftung eigentlich?
«Wir sind mit dieser Forderung ein Stück weit überfordert, und zwar alle gemeinsam», fasste es Katalin Genburg als Vertreterin der Partei Die Linke zusammen. Die Uneinigkeit über den Weg hin zu einem besseren Leben und einer Wirtschaft der vielen gehört dazu. Nur so kann Vergesellschaftung auch als hoffnungsvolle Erzählung auf eine verbindende emanzipatorische Klassenpolitik funktionieren.
Es gibt nicht die eine Vergesellschaftung, sondern viele Formen und konkrete Ausprägungen der Kämpfe. Das wurde auf der Tagung sehr deutlich: im Abgleich von Einsichten der Gewerkschafter*innen mit den Erfahrungen von DWE im Bereich des Wohnens, aus der Perspektive der Krankenhausbewegung, den Erfahrungen von Genoss*innen aus Kämpfen im Energiesektor, der Mobilität und vielem mehr. Die Herausforderungen, Kampagnen, Strukturen und Strategien der Initiativen sind unterschiedlich, und nicht alle sehen sich als Teil «einer Vergesellschaftungsbewegung».
Vergesellschaftung ist bunt und ein offener Prozess, der auf einer breiten radikalisierten Bewegung basiert und damit auch Dissens beinhaltet. «Nach der Konferenz haben wir keine fertigen Lösungen, der Weg wird sehr anstrengend und langwierig», sagte die Journalistin Laura Meschede. Die politische Konkretisierung ist diffizil. Kein Wunder, denn «das Krasse ist, dass wir noch nicht wissen, was wir meinen», so die Sozialphilosophin Eva von Redecker in einer Videobotschaft über die Erzählung einer alternativen politischen Ökonomie nach der Vergesellschaftung.
Fürsorglich miteinander streiten
Wenn man die Vergesellschaftungskonferenz selbst als Vorschein einer postkapitalistischen Gesellschaft nach der Transformation sehen will, dann ist diese professionell organisiert, inhaltlich ambitioniert, politisch radikal und stets solidarisch wertschätzend in einem kritischen Dialog über die eigene Praxis. Die Tagung hat dabei zentrale Debattenstränge der kritischen Wissenschaft und der sozialen Bewegungen aufgegriffen, die in den vergangenen Jahren zu einer Erneuerung linker Politik beigetragen haben. Vergesellschaftung als Fluchtpunkt war breit und gleichzeitig eng genug gefasst, um drei Tage lang produktiv und solidarisch miteinander zu streiten – was wohl eine der zentralen Dimensionen einer demokratisierten Wirtschaft kennzeichnen dürfte.
Im Abschlusspanel am Sonntagnachmittag fasste Laura Meschede zusammen: «Die Konferenz war von der konkreten Praxis geprägt. Alle Streits, die wir führen, sind Schritte auf dem Weg zur Einigkeit. Diese Schritte geben mir wahnsinnig viel Mut, dass das gelingt.» Mut macht auch, dass die Konferenz es geschafft hat, unterschiedliche Teile der gesellschaftlichen Linken zusammenzubringen und miteinander zu vernetzen. In Berlin wurden neue solidarische Beziehungen geknüpft, um mit Bini Adamczak zu sprechen. Damit hat die Konferenz eine zweite Dimension einer sorgenden Gesellschaft nicht nur behandelt, sondern praktisch erprobt: die Feminisierung von politischer Praxis.
Zum Abschluss der Konferenz feierten die Teilnehmenden den Schwung und Optimismus, den die drei Tage in Berlin verströmt hatten, mahnten sich selbst aber auch zu Realismus und anhaltender Basisarbeit und Organisierung. Denn: «Es ist anstrengend, Machtverhältnisse zu verschieben, es gibt immer wieder Rückschläge, und es ist langwierig», so Ruth Krohn vom Konzeptwerk Neue Ökonomie. Als Alternative dazu steht aber schlicht nur Krise und Barbarei.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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