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Goodbye, Kapitalismus

Krisen, Kriege, Klima: Wo ist der Zusammenhalt? Beobachtungen von der Frankfurter Buchmesse 2022

Der Kapitalismus ist hinüber. Ende, over, tschüssikowski. Das ist die Botschaft von Ulrike Herrmanns neuem Buch »Das Ende des Kapitalismus«. Ein Bestseller. Ihre Lesung im Rahmen der Frankfurter Buchmesse, die am Sonntag zu Ende ging, war krachend voll – großer Saal im Haus am Dom, und man kam kaum noch hinein. Sie ist Wirtschaftsredakteurin bei der »Taz«, im linken Flügel dieser regierungsnahen Zeitung, in der oft an den lieben, netten Umbau der Industriegesellschaft geglaubt wird, als wäre das »grüne Wachstum« so etwas wie der Weihnachtsmann. Herrmann glaubt nicht dran, höchstens an ein »grünes Schrumpfen«. Der Untertitel ihres Buches lautet: »Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden«.

Sie hat ein gewinnendes Wesen, ist Talkshow-erfahren und spricht freundlich, flüssig und pointiert. Als aus dem Publikum Beschwerden kommen, man könne den Moderator der Lesung, Martin Breitfeld, Programmleiter Sachbuch bei Kiepenheuer & Witsch, nicht gut verstehen, rät sie ihm, so ins Mikrofon zu sprechen, »als wolle man hineinbeißen«. Nein, sie sei keine Kapitalismuskritikerin, betont sie, sie finde dieses Wirtschaftssystem faszinierend, weil sehr flexibel und dynamisch. Doch so schön der Kapitalismus bisher auch war, »er wird enden«, ist sie sich sicher. Denn die Industrialisierung basiere auf Wachstum, »das dürften Sie aus Ihren Schulbüchern kennen«. Und dieses Wachstum geht nicht mehr – es ist lebensgefährlich geworden.

Denn Wachstum braucht Energie, und fossile Energie macht den Planeten kaputt, weil sie ihn konstant erhitzt: »Die Klimakrise ist die andere Seite des Kapitalismus.« Die einzige Alternative zur fossilen Energie sei ökologisch erzeugter Strom, gewonnen aus Wind und Sonne. Doch damit wird man nach Herrmann nicht solche gigantischen Mengen bereitstellen können, wie sie heute an fossiler Energie verbraucht werden. Also muss der Strom vom Staat rationiert und verteilt werden.

Als Modell schwebt Herrmann die britische Kriegswirtschaft von 1939 vor: »Eine ökologische Kreislaufwirtschaft, in der nur so viel verbraucht wird, wie reingegeben wird.« Wenn es gut läuft, käme man damit auf ein Wohlstandsniveau der BRD von 1978, schätzt Herrmann. Wir Älteren können sagen: BRD 1978 war okay, ehrlich.

Klar ist für Herrmann allerdings: Individuelles Autofahren und Flugzeugreisen wird es dann nicht mehr geben. Nur um mal eine Zahl zu nennen: 2045 soll die Bundesrepublik klimaneutral sein, das wurde sogar als Gesetz beschlossen. Der Anteil von Wind- und Solarenergie an der Ener gieerzeugung beträgt gegenwärtig aber weniger als zehn Prozent. Und in der Auto- und Flugzeugindustrie, die es perspektivisch nicht mehr geben soll, arbeiten derzeit 3,5 Millionen Menschen. »Da bleibt kein Stein auf dem anderen«, ist sich Herrmann sicher. Und auch, »dass das CO2-Molekül keine Grenzen kennt« – Klimarettung kann also nur weltweit funktionieren. Klingt unrealistisch? Realistisch ist, dass China, Indien, Afrika genauso unter der Erderwärmung leiden werden wie Australien, Asien und weite Teile Europas. Wenn es da so heiß wie in der Sahara wird, dann kann man nicht mehr leben.

Wie hoffnungslos ist die Lage? Hoffnung ist da, wo man sich einbringt, meint die Klima-Aktivistin Luisa Neubauer, die mit ihrem Buch »Gegen die Ohnmacht« auf der Messe unterwegs war. Sie hat es zusammen mit ihrer 89-jährigen Großmutter Dagmar Reemtsma geschrieben. Darin erzählen sie persönliche Geschichten und von unterschiedlichen Krisen und Kriegen, die sie erlebt haben. Reemtsma organisierte unter anderem Demonstrationen gegen Atomkraft. Sie wurde 1933 geboren, als die Nazis an die Macht kamen. Ihr Vater starb in einem KZ.

Neubauer war auf der ARD-Bühne zu Gast, in der Gesprächsrunde »Sheroes – Streiterinnen für die Zukunft«, die von der Journalistin Jagoda Marinić moderiert wurde. Hier sollten nur Frauen die Welt erklären und Lösungen für die Zukunft liefern.

Neubauer versteht ihr Buch als Gegenentwurf zu verhärteten Debatten, zu einem Klimadiskurs, der sich sehr an Fakten aufhängt und zu wenig am Persönlichen, am Biografischen, an Geschichten. Sie erzählte dann davon, wie sie begonnen hatte, mit ihrer Großmutter darüber zu diskutieren, woher die Ohnmacht kommt, die einem die Kraft raubt. Und noch wichtiger: Was wir dem entgegenstellen können. Wird man so Aktivistin? Oder gibt es einen Moment, wo man bereit ist, Aktivistin zu werden? Für die großen Sachen sei man nie bereit, »weil eine Komfortzone in einem ist, die sagt: Nein, nicht heute, nicht jetzt, nicht du«, so Neubauer. Aktivismus heiße dann eben, »die eigene Komfortzone kennenzulernen und sich dann einmal freudig zu verabschieden«.

Für Ulrike Herrmann ist die aktuelle Gas- und Stromkrise nur ein Vorbote künftiger Einschränkungen. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine war auf der Buchmesse, wo mit 4000 Aussteller*innen nur halb so viele vertreten waren wie vor der Pandemie, präsent, aber nicht bestimmend. Russland war ausgeladen, und die Ukraine hatte einen größeren Stand, ohne Fahne, aber mit dem Slogan »Persistence of Being« (Beharrlichkeit des Seins). Gegenüber dann das Problemland Kosovo und dahinter, mit einem ganz kleinen Stand, Afghanistan, präsentiert von einem ehemaligen afghanischen Druckhaus, von Frauen ohne Schleier und Männern ohne Vollbart. Sehr zivilgesellschaftlich.

Auch die Lesung von Serhij Zhadan, dem diesjährigen Friedenspreisträger aus der Ukraine, in der St. Katharinenkirche fiel viel weniger martialisch aus, als die Interviews erwarten ließen, die der Schriftsteller und Musiker im Vorfeld gegeben hatte. Er las aus seinem neuen Buch »Himmel über Charkiw. Nachrichten vom Überleben im Krieg«, ein öffentliches Tagebuch, das er seit Kriegsbeginn auf Facebook geführt hat.

Zu hören war hier nicht »ein ganz neues Vokabular«, wie einleitend vom Podium behauptet wurde. Was würden Sie denn schreiben, wenn Ihre Stadt bombardiert wird? Da ist man nicht originell, sondern hat Angst, versucht sich Mut zu machen und hasst die Angreifer. »Ihr könnt euch nicht mehr hinter Dostojewski verstecken«, lautet ein Post von Zhadan, der meint, dass »Tolstoi, das russische Ballett, die russische Avantgarde, das russische Eishockey und der russische Fußball eine vernichtende Niederlage erlitten« haben. Er notiert dies »in der zweiten Woche des Dritten Weltkriegs«, eine Formulierung, die der Suggestion vieler Politiker*innen, dieser Krieg wäre globalpolitisch betrachtet ein Rundum-Sorglos-Paket, widerspricht.

Für die deutschen Medien von »Bild« bis »Taz« konstatieren Richard David Precht und Harald Welzer in ihrem neuen Buch »Die vierte Gewalt« eine »geschlossene Meinung« (für Waffen gegen Russland), von der nur wenig Abweichung möglich sei. Sie stellten es in der Nationalbibliothek vor, moderiert von Michel Friedman. Er wies darauf hin, dass die beiden Medienprofis einleitend schrieben, die Kritik an den Medien müsse durch die Medien hindurch. Dieser Transfer scheint gut zu laufen, denn das Werk steht auf Platz eins der »Spiegel«-Bestsellerliste. Herrmanns Buch ist derzeit übrigens auf Platz drei zu finden.

Weitere Debatten sollten im Frankfurt-Pavillon auf dem Messegelände stattfinden, einer temporären Holzkonstruktion auf der Agora, entworfen für das Zusammenkommen von Ideen und Meinungen. Eins dieser Panels ging der Frage nach, ob unsere Gesellschaft überhaupt noch etwas zusammenhalten kann, während die Spaltung täglich bedrohlicher scheint, sei es die Spaltung zwischen Arm und Reich, Ost und West, Jung und Alt oder eben zwischen unterschiedlichen Identitäten und Geschlechtern. Mit anderen Worten: die Spaltung zwischen »uns« und »ihnen«. Diese Frage diskutierten die Frankfurter Kulturdezernentin Ina Hartwig, der Politikberater Johannes Hillje, der »FAZ«-Mitherausgeber Jürgen Kaube und Deborah Schnabel, Direktorin der Bildungsstätte »Anne Frank«, moderiert von der Journalistin Bascha Mika.

Hartwig war der Meinung, dass die Gesellschaft nicht gespalten sei und dass man eher von Konflikten reden sollte. Kaube fand, jeder habe seine eigenen Konflikte. Und die Konflikte der einen Gruppe seien nicht unbedingt die der anderen. Überhaupt zu erkennen und zu akzeptieren, dass man nicht mit allen solidarisch sein könne (Ausnahme: eine »Twitter-Solidarität«) – dies würde schon zum Zusammenhalt beitragen. Das sei sehr individualistisch gedacht, meinte Schnabel und ergänzte, dass man so ein Thema wie »Klima« nicht nur als Konflikt wahrnehmen sollte, sondern dass man dafür eher kollektive Lösungen brauche. Die scheinen weit weg zu sein. Aber: »Wenn man nur darüber nachdenkt, was mehrheitsfähig ist, dann kann man das Denken einstellen«, hatte Ulrike Herrmann noch gesagt.

Der Jugendroman »Sanctuary – Flucht in die Freiheit« ist schon 2021 erschienen und war für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2022 nominiert. Er spielt in einer sehr nahen dystopischen Zukunft: in den USA 2023. Die jugendliche Protagonistin Vali ist mit ihren Eltern aus Kolumbien in die USA geflüchtet. Doch bald entpuppt sich das Land als ein sehr feindlicher Ort. Die Äußerungen über Flüchtlinge werden Tag für Tag aggressiver, die Überwachung der Menschen schärfer. Schließlich ordnet der Präsident an, dass allen »legalen« Einwohner*innen ein ID-Chip implantiert werden soll, damit man »Illegale« einfach aufspüren kann. Der einzige Bundesstaat, der sich diesem Befehl entzieht, ist Kalifornien. So geht für Vali und ihre Familie die Flucht weiter.

Die Autorinnen Paola Mendoza und Abby Sher haben den Roman zusammen geschrieben. Mendoza ist in Kolumbien geboren und kam als Säugling mit ihrer Familie in die USA. Die Filmregisseurin und Aktivistin war auch Mitbegründerin des »Women’s March« – des Protestmarschs für Frauen- und Menschenrechte, der 2017 in Washington, D.C. stattfand, am ersten Tag nach der Amtseinführung von Donald Trump. Abby Sher ist neben Jugendbuchautorin auch Journalistin, unter anderem für die »New York Times«. Über ihre Zusammenarbeit sprachen sie auf einer Veranstaltung des Carlsen-Verlags mit ihrer Übersetzerin Stefanie Frida Lemke. Wie man in der Erzählung von einem Punkt zum nächsten kommt, sei etwas, was Mendoza sehr gut könnte, meinte Sher, während sie selbst sich eher mit der Entwicklung der Charaktere beschäftige. Bemerkenswert ist zudem, wie Lemke für jeden Charakter eine andere Form der Sprache gefunden hat; spricht die 16-jährige Vali, wird gegendert, spricht der Präsident, wird die männliche Form verwendet. Auch »Sanctuary« bedeutet für die Frauen auf dem Podium jeweils etwas anderes. Mal Zuflucht, mal Hoffnung. Oder es ist einfach ein Ort, wo man sich sicher fühlt und nicht verurteilt wird.

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