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Zurück ins Herz der Finsternis

Ben Becker über Kolonialismus, Kapitalismus und kulturelle Aneignung

  • Olaf Neumann
  • Lesedauer: 9 Min.
Ben Becker bei einer Lesung von "Herz der Finsternis" von Joseph Conrad im Prinzregententheater, München am 11. Oktober
Ben Becker bei einer Lesung von "Herz der Finsternis" von Joseph Conrad im Prinzregententheater, München am 11. Oktober

Joseph Conrads Roman »Herz der Finsternis« handelt vom Zivilisationsverlust in der belgischen Kolonie Kongo. Könnte man ihn auch als eine Verarbeitung von Faschismus und Holocaust lesen – wenn er nicht bereits 1899 erschienen wäre?

Interview

Ben Becker, Jg. 1964, steht als Schauspieler vor der Kamera, schreibt Bücher, macht eigenwillige Musik und gibt szenische Lesungen. Nun reist der Berliner mit der markanten Stimme mit einem ganz besonderen Programm durch die Lande: "Apokalypse". Es basiert auf Joseph Conrads düsterem Roman »Herz der Finsternis«, der Francis Ford Coppola zu dem oscarprämierten Film »Apocalypse Now« inspirierte. Wie auf der Bühne ist der Schauspieler Becker auch im persönlichen Gespräch wild, unberechenbar und sehr unterhaltsam.

Ich denke, das ist ein bisschen weit hergeholt. Diese Massenvernichtung kam ja in der Art zu Conrads Zeiten so nicht vor. Wir haben es bei »Herz der Finsternis« mit dem Beginn des Industriezeitalters zu tun. Es sind die ersten Dampfschiffe der Belgier, Holländer und Briten, die da runterfahren, um die Reichtümer aus diesen Ländern rauszuziehen. Das machen wir ja heute noch. Insofern teile ich die Meinung von Hannah Arendt, die über Joseph Conrad urteilte: eine kritische Einstellung des Frühkapitalismus, der mit der Industrialisierung kam und unter anderem auf Sklaverei aufgebaut war. Die rücksichtslose Ausbeutung der Länder der Dritten Welt, in denen Rohstoffe liegen, wird heute gerne vertuscht, aber letztendlich funktioniert es immer nach dem gleichen Prinzip.

Joseph Conrads Figur Cpt. Kurtz wird in einen vollkommenen Realitätsverlust getrieben. Auch die Nazis kippten immer mehr in Wahn um.

Ich weiß nicht, ob wir bei den Nazis und denen, die sie finanziert haben, von einem vollkommenen Realitätsverlust sprechen können. Einem Adolf Eichmann würde ich das nicht unbedingt bestätigen wollen; der hat sehr genau gewusst, was da passiert. Kurtz ist jemand, der seinen Auftrag vollkommen auf den Kopf stellt. Es artet aus in Anarchie. Er baut da unten seinen eigenen Staat auf; das macht ihn so gefährlich. Es lässt ihn erscheinen, als komme er direkt aus Dantes Inferno. Der Mann ist überhaupt nicht mehr einzuschätzen, auch nicht für die Menschen, die ihn eigentlich in den Kongo geschickt haben. Am Anfang des Romans wird Kurtz noch aus der Ferne groß gelobt als ein wichtiger Zulieferer von Elfenbein. Diesen Blutrausch erzählt der Film »Apocalypse Now« von Francis Ford Coppola sehr gut. Und da sind wir dann in der Apokalypse.

Kamen Sie über diesen Film auf Joseph Conrad?

Nein, ich habe ihn schon sehr früh gelesen. Der Dramaturg John von Düffel, mit dem ich viel zusammenarbeite, kam mit der Idee auf mich zu. Anfangs empfand ich es als schwierig, Joseph Conrad auf eine Lesung zu komprimieren. Wir haben dann einen Weg gefunden, der äußerst verstörend daherkommt. Ich finde es aber angebracht, die Leute momentan mit einer verstörenden Flussfahrt im übertragenen Sinne zu konfrontieren.

Bei vielen Menschen kommt derzeit ein bisschen Endzeitstimmung auf, weil sie ihre Zukunft durch die Folgen der Globalisierung bedroht sehen.

Durch die zunehmende Globalisierung wird alles immer enger und erreichbarer. Sowohl übersichtlicher als auch unübersichtlicher, auch im militärischen Sinn. Die Ängste werden immer größer.

Sind für Sie die Abgründigen und Bösen die interessanteren Figuren?

Nicht immer, manchmal braucht man auch eine Pause vom Bösewicht. Ich habe in Salzburg im »Jedermann« den Tod gespielt; das ist natürlich eine Figur, auf die warten alle – sowohl während dieses Theaterstücks als auch im richtigen Leben. Also geht von ihr das größte Geheimnis aus. Als kleiner Junge habe ich mich schon gern gegruselt. Das Dunkle, Unbekannte hat eine große Faszination und Aura. Das als Schauspieler herauszuagieren, bereitet schon Freude.

Haben Sie in Ihrer Kindheit die klassischen Abenteuerromane von Jack London bis Karl May gelesen?

Ich habe »Tom Sawyer und Huckleberry Finn« von Mark Twain gelesen. Karl Mays Verfilmungen hat man sich damals im Fernsehen angeschaut. Das war spannender, weil es dann Thema in der Schule war. Ich war komischerweise nie ein großer Fan von Jack London oder Ernest Hemingway, die immer wieder an mich herangetragen wurden.

Die Romane Karl Mays um Häuptling Winnetou und seinen Blutsbruder Old Shatterhand werden von diversen Medien aufgrund von Rassismus- und Diskriminierungsvorwürfen boykottiert. Wie denken Sie darüber?

Die haben eine Macke! Ganz radikal reagiert, könnte man auch sagen, es käme der Leugnung des Holocaust gleich. Man kann ja nicht behaupten, das N-Wort oder das Wort »Mohr« hätte es nie gegeben. Täte man es, nähme man denen, die Rassismus erleiden und erdulden mussten, ihre eigene tragische Geschichte. Dieses Vokabular zu streichen, ist so, als würde man sagen, Adolf Eichmann war nur ein Schaffner bei der Bundesbahn. Damit verdrängt man die Geschichte, anstatt sie verständlich zu erklären. Würde man Schwarze jetzt zum Beispiel »stark pigmentierte« Menschen nennen, wäre das ja noch viel schlimmer! Diese Verdrängungsmechanismen bringen nichts. Die Rolling Stones oder die Sex Pistols haben sich nicht umsonst in SS-Uniformen ablichten lassen. Sie wollten die Gesellschaft ärgern mit dem, was sie am liebsten vom Tisch hätte. Deswegen kann ich die Verdrängung von Winnetou nicht nachvollziehen.

Die politische Überkorrektheit macht auch vor dem Theater nicht halt. So gibt es die Forderung, die Sprache in Romanen bzw. Dramen müsse gesäubert sein von abwertenden Ausdrücken.

Wenn man beginnt, das Theater von bestimmten Stücken zu säubern, ist man auf dem falschen Weg. Aber das Nachfragen wird mehr und mehr verdrängt und verboten. Und das finde ich schlimm.

Zurück zum eigentlichen Thema: Ist »Apocalypse Now«-Protagonist Marlon Brando ein Schauspieler, an dem man sich heute noch orientieren kann?

Ich bin 58 Jahre alt, irgendwann ist es auch mal gut. Dass ich ein Marlon-Brando-Poster in meinem Zimmer hängen hatte, ist ein paar Jahre her. Als ich ein Kind war, war er für mich ein Hero. Den fand ich toll. Es gibt ganz wenige Schauspieler, die so viel Erotik auf Zelluloid erzeugten wie er. Ich bin mit dieser Art von Schwarz-Weiß-Filmen und Schauspielern aufgewachsen, die meine Tochter teilweise schon gar nicht mehr kennt.

Hauptdarsteller Martin Sheen erlitt während der Dreharbeiten einen Herzinfarkt und sein Gegenspieler Marlon Brando in der Rolle des Cpt. Kurtz einen Nervenzusammenbruch. Und was hat dieser harte Text mit Ihnen gemacht?

Gut, das waren die Dreharbeiten. Wim Wenders hat erzählt, dass er sich mit Dennis Hopper getroffen habe, der gerade vom Dreh zu »Apocalypse Now« zurückgekommen und völlig unzurechnungsfähig gewesen sei. Es war eine ganz andere Zeit; die haben da den totalen Wahnsinn mitgemacht. Mit so viel LSD, wie die am Set eingeworfen haben, wird »In aller Freundschaft« nicht gedreht. Das ist eine andere Tasse Tee von Kunst. Sich mit Joseph Conrads Originaltext zu befassen, ist natürlich etwas anderes, als einen Hubschrauber ankommen zu lassen und eine Marilyn Monroe halb nackt auf eine Bühne zu stellen. Das ist ein Roman aus dem Jahre 1899, ein Jahr vor der vorletzten Jahrhundertwende! Es ist jetzt nicht so, dass es mir die Schuhe auszieht, wenn ich solch ein Buch zum ersten Mal lese. Wenn ich Entsetzen und Grauen will, schalte ich den Fernseher ein. Ich will Conrads Text so präsentieren, dass er die Zuhörer noch interessiert. Ich will sie in diese Zeit mitnehmen.

Ist der Roman wie der Film eine Antikriegsgeschichte?

Nein, er dreht sich eher um Kolonialismus, Ausbeutung und Sklaverei auf böseste Art und Weise durch die Belgier, Holländer, Engländer. Wir Deutschen sind ja auch nach Afrika runter und haben dort eine Spur blutiger Verbrechen hinterlassen. Die aufkommenden Industrienationen haben alle das Gleiche betrieben. Wir beuten bis heute die Dritte Welt aus. Für mich ist »Herz der Finsternis« eine ernst zu nehmende Kritik am Kapitalismus – wie er mit diesem Planeten, seinen Rohstoffen und seinen Menschen umgeht. Der eine steigt in seine S-Klasse, wickelt sich um einen Baum und bestellt sich ein neues Fahrzeug, während die alleinerziehende Mutter und ihr Kind im R4 mit Knüppelschaltung den Unfall nicht überstehen. Ist es unsere freie Entscheidung, so miteinander zu leben? Der eine macht jetzt die Heizung aus, dem anderen ist es scheißegal. Ist es richtig, Billigtextilien im Nahen Osten von Kindern nähen zu lassen oder für McDonald’s den Regenwald abholzen zu lassen?

Wie sehen Sie das?

Ich halte es nicht für richtig. Ich halte es für richtig, dass die Indianer sagen: »Alles ist rund« und nur einen einzigen Büffel schießen, von dem sie eine gewisse Zeit leben können. Ich hielt es schon für falsch, als John Wayne deren Land betrat und alle Büffel erschoss. Diese ganz naive kindliche Kritik wird ein Realpolitiker so nicht mit mir teilen. Mir ist sie aber nicht abhandengekommen. Deswegen habe ich mich in dieser Zeit für diesen Roman entschieden.

Duschen Sie jetzt eigentlich kalt?

Nein, noch nicht, wofür arbeite ich denn? Aber mit dem Fahrrad fahre ich eh. Und ich bin dafür, die Coca-Cola-Reklame abzuschalten. Sollen doch die da oben erst mal anfangen, Energie einzusparen. Ich brauche keine Reizüberflutung wie am Times Square in New York, auch wenn es schön aussieht.

In Rosa von Praunheims neuem Dokudrama »Rex Gildo – der letzte Tanz« spielen Sie Gildos heimlichen Geliebten, künstlerischen Ziehvater und Manager Fred Miekley.

Rosa von Praunheim ist sehr eigen, aber er weiß, was er will. Da herrscht jetzt nicht die große Anarchie auf dem Set, sondern es ist alles sehr geordnet. Aber doch gewöhnungsbedürftig. Man lässt sich auf seine Fantasie ein und macht das mit – oder man hat damit nichts am Hut. Ich finde, dass Rosa von Praunheim es verdient hat, sich darauf einzulassen. Vor über 20 Jahren habe ich bereits in seinem Film »Der Einstein des Sex« über den Sexualforscher Magnus Hirschfeld mitgespielt. Da war Otto Sander noch mit an Bord. Insofern war es eine Ehre für mich, dass Rosa jetzt noch einmal auf mich zukam.

Welchen Einfluss hatte Fred Miekley auf den Schlagersänger Rex Gildo?

Einen sehr starken. Es war wie eine väterliche Liebe. Und in der Umkehrung eine Abhängigkeit Gildos von ihm. Das kann der Film besser erklären als ich. Ich habe versucht, mich in diese Figur irgendwie hineinzuversetzen. Er hatte auch etwas Schmieriges und Unangenehmes, was ich durchaus versucht habe darzustellen – und es ihm gleichzeitig wieder zu nehmen, um eine gewisse Sympathie zuzulassen. Das ist nicht einfach, wenn man sich rein biografisch mit der Figur auseinandersetzt.

Oliver Hirschbiegel, »Der Untergang«, hat gerade den Film »The Painter« fertiggestellt – mit Ihnen als Albert Oehlen.

Ich habe mit dem Maler und Installationskünstler Albert Oehlen sogar zwei Filme gedreht – jeweils in Zusammenarbeit mit Oliver Hirschbiegel. »The Painter« kommt nächstes Jahr heraus, und momentan haben wir »Van Gogh« in der Mache. Also ich als van Gogh. Das sind Ausflüge, die ich wahnsinnig liebe.

Wie muss man sich das vorstellen?

Schauen Sie sich ein Bild von Albert Oehlen an! Das ist hintergründig, intelligent, witzig. Man kann es nicht erklären: Es ist einfach schön anzuschauen.

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