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Anti-Bolsonaro gegen Anti-Lula
An den beiden verbliebenen Präsidentschaftskandidaten spaltet sich Brasilien. Sonntag kommt es zum Showdown
Ein Mann steht am Fenster einer Wohnung, direkt am Copacabana-Strand. Er trägt ein knallgelbes Fußballtrikot und streckt einer tosenden Menschenmenge, die auf der Promenade vorbeimarschiert, ein Kreuz entgegen. Einige pfeifen, andere zeigen dem Mann den Mittelfinger. Im Chor brüllen sie »Olé, olé, olé, olé, olá, Lula, Lula«. Der Mann am Fenster ist ein Anhänger des rechtsradikalen Amtsinhabers Jair Bolsonaro. Die vorbeiziehenden Menschen unterstützen Ex-Präsident Luiz Inácio »Lula« da Silva und haben sich zu einer Wahlkampfveranstaltung am bekanntesten Strand Rio de Janeiros zusammengefunden. Die Szene spiegelt die aufgeheizte Stimmung in Brasilien kurz vor der Stichwahl wider.
An diesem Sonntag stehen sich dort zwei Männer gegenüber, die kaum unterschiedlicher sein könnten: der Rechtsradikale Bolsonaro und der Sozialdemokrat Lula. Es ist der große Showdown der zwei wichtigsten Protagonisten der brasilianischen Politik der letzten Jahre. Trotz aller politischen Differenzen haben die beiden einige Gemeinsamkeiten. Sie elektrisieren die Massen, sie erwecken Emotionen, werden gleichermaßen verehrt wie verachtet. An ihnen spaltet sich das größte Land Lateinamerikas.
Bei der Wahl 2018 inszenierte sich Bolsonaro als Saubermann und Anti-Establishment-Kandidat. Er versprach, die Korruption ein für allemal zu beenden, die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen und mit dem Verbrechen aufzuräumen. Mit einem geschickten Wahlkampf in den sozialen Medien gelang es ihm, den Hass auf die Arbeiterpartei PT zu kanalisieren und bestehende Ressentiments anzufachen. Die Rechnung ging auf, der Außenseiter Bolsonaro gewann die Wahl.
In den fast vier Jahren seiner Amtszeit hat der ultrarechte Präsident tiefe Spuren hinterlassen. Sein schulterzuckender Umgang mit dem Coronavirus stürzte das Land ins Pandemiechaos, wegen seiner Kahlschlagpolitik im Regenwald gilt Brasilien als Paria im Ausland, Korruptionsskandale kratzen am Saubermann-Image. Viele haben sich von Bolsonaro abgewendet, bei einigen gilt er als die Hassfigur schlechthin.
Einiges deutet darauf hin, dass Lula die Stichwahl gewinnen wird. In der ersten Wahlrunde lag er stolze sechs Millionen Stimmen vor Bolsonaro und schrammte nur knapp an einem direkten Wahlsieg vorbei. Doch Bolsonaro schnitt besser ab, als alle Demoskop*innen prognostiziert hatten. Das hat auch mit seinen treuen Anhänger*innen zu tun. Der Präsident hat es tatsächlich geschafft, eine Massenbewegung hinter sich zu scharen – und das nicht nur im Netz. Die Radikalität und der Waffenfetisch einiger bolsonaristas macht Analyst*innen Angst.
Einige befürchten Ausschreitungen, sollte Bolsonaro die Wahl verlieren. Denn der hetzt seit Monaten gegen die demokratischen Institutionen und verbreitet fleißig Lügen über das elektronische Wahlsystem. »Nur Gott« könne ihm die Präsidentschaft entziehen, sagte er einmal. Die Taktik scheint klar: im Stil von Donald Trump Unruhe stiften. Einige befürchten Bilder wie beim Kapitol-Sturm in Washington, andere noch Schlimmeres. Doch für einen offenen Bruch mit der Verfassung dürfte Bolsonaro die nötige Rückendeckung fehlen. Es gibt eine aktive Zivilgesellschaft, kritische Medien, und die demokratischen Institutionen funktionieren immer noch halbwegs. Auch im Ausland setzen viele auf eine Abwahl Bolsonaros. Unlängst gaben die USA zu verstehen, kein autoritäres Experiment Bolsonaros mittragen zu wollen.
Paulo Osvaldo França, ein älterer Mann in Badehose, Flip-Flops und Unterhemd, hat sich am Copacabana-Strand in den Protest der Lula-Fans eingereiht. »Dafür kämpfen wir«, sagt França und klopft auf ein laminiertes Bild. Darauf ist ein gefüllter Teller zu sehen: Reis, Bohnen, ein Stück Fleisch. »Bolsonaro ist der Kandidat der Reichen«, sagt 72-Jährige. »Er will, dass die Armen verhungern.«
França spielt auf die dramatische soziale Lage im Land an. Zwar ist die Inflation in den letzten Monaten leicht zurückgegangen, die Arbeitslosigkeit nimmt ab und im kommenden Jahr wird mit einem zaghaften Wirtschaftswachstum gerechnet. Doch die Verarmung trifft das Land hart. Mehr als die Hälfte der Brasilianer*innen ist laut Studien von Ernährungsunsicherheit betroffen, 33 Millionen von ihnen hungern. Viele machen den Präsidenten dafür mitverantwortlich. In Umfragen schneidet Bolsonaro gerade bei armen Brasilianer*innen schlecht ab. Doch es wäre zu einfach zu sagen: Die Reichen wählen Bolsonaro, die Armen Lula. Auch viele Schwarze aus den Vorstädten unterstützen den Rechtsradikalen. Das liegt vor allem am Einfluss der ultrakonservativen Pfingstkirchen, die in den Peripherien stark vertreten sind.
Im Wahlkampf gibt sich Lula jetzt als großer Versöhner, als Anti-Bolsonaro, als jemand, der das Land wieder zusammenbringt. Er spricht viel von Liebe und sagt, er wolle »das Glück« zurück nach Brasilien holen. Wie er das genau machen will, sagt er allerdings nicht. Oft bleibt er schwammig, spricht viel über seine vergangenen Amtszeiten, fast schon nostalgisch. Doch die goldenen Zeiten sind vorbei. Die Fronten sind verhärtet, die Gesellschaft gespalten. Und der Bolsonarismus, jene Bewegung des Hasses, wird sich nicht einfach in Luft auflösen, selbst wenn der Namensgeber dieses Phänomens nicht mehr Präsident sein sollte. Die extreme Rechte ist gekommen, um zu bleiben.
So schafften in der ersten Wahlrunde etliche Bolsonaro-nahe Politiker*innen den Einzug in das Parlament. Seine Partei wird die stärkste Fraktion stellen. Das heißt: Lula wird im traditionell stark zersplitterten Parlament hart um Mehrheiten kämpfen müssen, sollte er gewählt werden. Der alte Taktiker Lula ist sich der Kräfteverhältnisse bewusst und bewegt sich merklich zur Mitte. Sein Vize ist der konservative Ex-Gouverneur von São Paulo, Geraldo Alckmin. Zuletzt erklärte Lula dann noch, gegen Abtreibungen zu sein, polemisierte gegen Uni-Sex-Toiletten an Schulen. An der linken Basis löste das Unmut aus. Doch allzu große Kritik wird im Wahlkampf zurückgehalten. Es müsse erst einmal darum gehen, Bolsonaro zu schlagen, sagen viele. Dann könne man weiterschauen.
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