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- Richard David Precht und Harald Welzer
Pluralismus ist ein Pool
Richard David Precht und Harald Welzer kritisieren, »wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist«
Jüngst hat Wolf Biermann die beiden Autoren als »Secondhand-Kriegsverbrecher« bezeichnet. Bereits Ende April gehörten sie zu den Unterzeichnern eines »Offenen Briefes an Bundeskanzler Scholz«, in dem namhafte deutsche Intellektuelle vor einem dritten Weltkrieg warnten, sich für diplomatische Bemühungen um Frieden in der Ukraine und gegen die Lieferung immer stärkerer Waffen aussprachen. Wie »die Qualitätspresse von ›Taz‹ bis ›Welt‹ die Urheberinnen und Urheber mit Angriffen und Häme von bestürzender Aggressivität« überzog, musste ihnen unter die Haut gehen. Wobei dieses Buch nicht lediglich eine Reaktion auf diese Kränkung ist, wie manche Rezensionen anmerken. Die Meinung der Autoren zum Ukraine-Konflikt hat sich nicht geändert. In ihrem wägend rationalen Herangehen – eben auch im Sinne europäischer Interessen – können sie viele an ihrer Seite wissen.
Was sie generell interessiert: woher – auch zu diesem Thema – »die soziale Konformität der Realitätswahrnehmung in den Leitmedien und das damit einhergehende ›Gruppendenken‹« kommt. Da lässt sich leicht mit einem Zitat aus der »Deutschen Ideologie« von Marx und Engels antworten, das Richard David Precht und Harald Welzer denn auch in ihrem Buch anführen: »Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche herrschende Gedanken.« Doch das möchten die beiden lieber auf totalitäre Systeme beziehen als auf »moderne liberale Gesellschaften«. Denn wenn man unsere »Demokratie« so illusionslos betrachtet wie etwa der Wahrnehmungspsychologe Rainer Mausfeld in »Warum schweigen die Lämmer«, könnte man ja bezüglich ihrer Perspektiven entmutigt werden. Die beiden Autoren aber wollen aufklären, um etwas innerhalb der Machtverhältnisse zu verbessern. Innerhalb des intellektuellen Milieus, in dem sie sich bewegen. Sie wollen in Mediendebatten weiterhin ihre Stimmen behalten.
Das Buch macht eine breite Front auf, wenn von »den Leitmedien« die Rede ist. Es greift diejenigen an, die dort tätig sind und sich gegen Pauschalisierung wehren dürften. Im »nd« kann man da gelassener sein, weil diese Zeitung die Rolle als »Zentralorgan« längst hinter sich gelassen hat. Die Verführungen des Hauptstadtjournalismus, mit Vertretern der großen Politik auf Du und Du zu sein, treffen uns nicht. Umso interessanter zu durchdenken, wie Ideologie heute wirkt. Keines der medienkritischen Bücher – allein im Westend Verlag erschien eine ganze Menge – kommt ohne die Beschreibung solcher Mechanismen aus. Precht und Welzer konzentrieren sich auf die journalistische Praxis und fächern auf, was aus ihrer Sicht in die Irre geht. Und nicht nur aus ihrer Sicht: So verrückt wie unsere Medienlandschaft »tickt«, entsteht eine Kluft zu den Leuten, die eigentlich erreicht werden sollen. Viele kehren sich ab – verärgert, resignierend bis hin zu rechtem Ressentiment.
So viele verschiedene Studien es in jüngster Zeit zum Vertrauen in die Medien und überhaupt in die Demokratie gegeben hat, keine ist ermutigend. Da nehmen die Autoren des Buches sogar die Politik gegenüber den Medien in Schutz. »Die vierte Gewalt«, so ihre Kritik, lässt »die Öffentlichkeit« verkommen, »zur Bühne permanenter Empörung« werden. Es ist eine interessante These, dass weniger die Politik die Medien bestimmt als umgekehrt. Tatsächlich gehört es zum Spiel, dass Politiker angegriffen, gar demontiert werden. Aber dass Bundeskanzler Olaf Scholz das bisherige Prinzip deutscher Außenpolitik aufgab, »keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern« – lag es wirklich nur am medialen Druck im eigenen Land? Welche Rolle transatlantische Lobbyorganisationen spielen, in denen sich »Militärs, Wirtschaftsbosse und Politiker in diskreter Atmosphäre treffen«, wird in dem Buch angemerkt. »Und eben Journalisten!«
»Nichtgewählte Journalisten wollen der Politik nicht nur auf die Finger schauen, sondern sie wollen sie machen«, heißt es schon zu Beginn des Buches. Ein berechtigter Vorwurf? Viele von ihnen sind doch in diesen Beruf gegangen, weil sie ihre Überzeugungen zum Ausdruck bringen, vielleicht gar etwas bewegen wollen. Dass sie diesbezüglich ein Privileg haben, auch klar. Die Frage ist, auf welche Weise sie es nutzen. Der »Hang zum Polarisieren, Simplifizieren, Moralisieren«, der hier mehrfach kritisiert wird, hat zunächst schon damit zu tun, dass sich solche Beiträge leichter herstellen lassen. Hinzu kommt, dass Menschen als soziale Wesen zu einem »Schwarmverhalten« neigen. »Man weiß, was die Gruppe erwartet, weil man selbst ihre Normen teilt. Weshalb man im Fall einer Stigmatisierung auch weiß, was der eigene Fehler ist – genau deshalb ist das Stigma wirksam.«
Nicht ausgespart ist die schwierige ökonomische Situation vieler Medien, was zu einem »zielgruppenorientierten Reichweitenjournalismus« führt. »Reiten von Aufmerksamkeitskurven und Empörungswellen« – im Glauben, dass es »der Krawall« ist, »der Quote macht«. Der aber irgendwann auch ermüdet. Dann wird die politische Tageszeitung abbestellt und »Landlust« gelesen. Stimmig ist die Beobachtung der Autoren, dass es bei der Berichterstattung zu Corona und zur Ukraine-Krise eine Tendenz zur »Geschlossenheit« gab. Die Rolle der Medienagenturen ist aus meiner Sicht dabei wohl nicht zu unterschätzen. Dass andere Meinungen partiell dennoch laut werden können – sei es in Leserbriefen –, dient der Beruhigung aufgebrachter Gemüter. Wie überhaupt auch das Stimmengewirr eine systemstabilisierende Komponente hat.
Auch im Medienbereich ist der Alltag härter geworden. Arbeitsverdichtung, Konkurrenz und Entlassungen – das »journalistische Prekariat« als Reservearmee und auf der anderen Seite die »Herstellung gefühlter Bedeutsamkeit« bei den Etablierten. In der neoliberalen Gesellschaft herrscht ein Zwang zur Selbstbehauptung, der bis zur Selbstinszenierung reicht: Du darfst nicht abrutschen, musst nach oben. Ausführlich analysiert werden die Folgen der Digitalisierung. Was wird nicht alles getan, um Klick-Zahlen zu erhöhen. »Hochgeschwindigkeitsjournalismus, Verlust an Sorgfalt.« Treffend ausgedrückt: »Pluralismus ist nicht mehr als ein Pool, aus dem die dicksten Fische herausgezogen werden.«
So wie sie pauschal mit den »Leitmedien« abrechnen und einer ganzen Gilde auf die Füße treten, mussten Richard David Precht und Harald Welzer auf Gegenwind gefasst sein – und kamen mit ihrem Buch auf Anhieb an die Spitze der »Spiegel«-Bestsellerliste. Kraftvoll formuliert, wird hier zugespitzt, wie »Mittel des Boulevards« überhand nehmen. »Im Gegensatz zu früher wird die Kommunikation immer hysterischer.« Sogar von einem »Emotionskindergarten« ist die Rede. In Zeiten innerer wie äußerer Krise sind derlei Ermahnungen an Journalistinnen und Journalisten gut gemeint, im Sinne von Demokratie Polarisierungen nicht noch zu verstärken, integrierend zu wirkend, statt sich in einer »Trivialwelt von Gut und Böse, Richtig oder Falsch« zu bewegen.
Da bietet die Lektüre durchaus Denkstoff, um eigenes Tun in dialektischen Zusammenhängen zu sehen. Denn aus bester Absicht, wenn emotional zugespitzt, kann auch Gegenteiliges entstehen. Alles hat eine Kehrseite. Mehr Ausgewogenheit, mehr Ernsthaftigkeit und Tiefgang im journalistischen Milieu – das klingt zunächst nur wie ein frommer Wunsch. Da sich aber noch viel mehr in dieser Gesellschaft ändern muss, mag es nicht bloß in den Wind gesprochen sein.
Richard David Precht/Harald Welzer: Die vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist. S. Fischer, 287 S., geb., 22 €.
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