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Geistlose Literaturgeschichte
Der italienische Literaturwissenschaftler Franco Moretti blickt selbstkritisch und resigniert auf die digitale Wende in seiner Disziplin zurück
Mit »Reading ›more‹ is always a good thing, but not the solution« umriss der italienische Literaturwissenschaftler Franco Moretti in seinem Buch »Distant Reading« von 2013 sein gleichnamiges Verfahren. Darin problematisierte er das Verhältnis zwischen dem literarischen Kanon und dem »great unread«, der schieren Menge vergessener Werke: Der Kanon ist im Verhältnis zu den publizierten Büchern sehr klein und wenig repräsentativ dafür, was in einer Epoche geschrieben wurde. Um die 99,5 Prozent an Texten sind zwar überliefert, aber unbekannt oder vergessen und gehören somit dem ungelesenen Archiv an.
Ein Kanon soll das »Typische« seiner Zeit repräsentieren. Die Entscheidungen jedoch, die dazu führen, dass Cervantes, Shakespeare oder Goethe das Typische oder gar die »Weltliteratur« verkörpern, sind nie objektiv. Diesem Missverhältnis wollte Moretti mit dem »Distant Reading« und einer digital gestützten Literaturwissenschaft begegnen. So werden seit knapp zwanzig Jahren Texte mit quantitativen und computerbasierten Methoden in ihrer Fülle und Breite erfasst. Damit kann zwar mehr »aus der Ferne« gelesen werden, allerdings um den Preis, dass die Literatur zu einer bloßen Datensammlung wird. In seinem neuen Aufsatzband »Falsche Bewegung« reflektiert Moretti die Fallstricke dieser Entwicklung, an der er als ein Wegbereiter der quantitativen Literaturwissenschaft selbst Anteil hat.
Unreflektierte Präzision
»Die Schlachtbank der Literatur« heißt ein Aufsatz aus Morettis damaligem Buch »Distant Reading«, in dem er das Verhältnis zwischen Kanon und Archiv am Beispiel der Sherlock-Holmes-Krimis von Arthur Conan Doyle und seinen zeitgenössischen Konkurrent*innen untersucht. Conan Doyle war schon in seiner Zeit erfolgreich und gilt ein Jahrhundert später noch als kanonisch. Moretti suchte nach Gründen, die Conan Doyle von der Konkurrenz abhoben: War er im Sinne einer Art biologischen Auslese der Konkurrenz überlegen, etwa weil in seinen Krimis Hinweise sichtbarer und entschlüsselbarer seien als in anderen?
Das Verfahren, mit dem Moretti dieses Verhältnis analysierte, ist insofern »Distant Reading«, als eine große Menge an Texten nicht mit dem »Close Reading« der Hermeneutik – also einer genauen Lektüre und Interpretation eines einzelnen Textes – untersucht, sondern mit quantitativen Techniken der digitalen Literaturwissenschaft aus einer gewissen Distanz überblickt wird. Eine eindeutige Antwort, warum sich Conan Doyle in der literarischen »Selektion« durchsetzte – um in der biologistischen Metapher zu bleiben, die bei Moretti immer wiederkehrt –, bleibt die Untersuchung schuldig. Jedoch illustriert sie deutlich die Verfahren, mit denen in den vergessenen Texten nach Mustern gesucht wird, die sich für den Kanon scheinbar bewährt haben. Freilich trifft die quantitative Forschung dafür bestimmte Annahmen, die den Blick auf die Literaturgeschichte entsprechend prägen, wie Moretti selbst eingesteht.
Die wissenschaftstheoretischen Probleme, die mit der damals noch neuen Disziplin der quantitativen Literaturwissenschaft einhergehen, reflektiert Moretti nun in der Aufsatzsammlung »Falsche Bewegung« über die »digitale Wende in den Literatur- und Kulturwissenschaften«. Er blickt dabei äußerst selbstkritisch auf diese Wende und beklagt trotz des möglichen Erkenntnisgewinns ein Fehlen an Theorie in dem Forschungsfeld, das sich vor allem von Daten leiten lasse: »Innerhalb der digitalen Humanwissenschaften hat die statistische Komponente eine Präzision gewonnen, die noch vor wenigen Jahren undenkbar schien; die Verbindung zur großen theoretischen Tradition des 20. Jahrhunderts aber, die in der früheren Phase noch vorhanden war, ist mittlerweile abgebrochen.« Bei der Lektüre der Artikel im »Journal of Cultural Analytics«, der »wichtigsten Zeitschrift für die digitalen Humanwissenschaften«, würden beispielsweise in fast tausend Fußnoten der französische Literaturwissenschaftler Gérard Genette, der vor allem für seine Erzähltheorie bekannt ist, oder Fredric Jameson, einer der einflussreichsten marxistischen Literaturwissenschaftler der Gegenwart, lediglich ein paarmal erwähnt.
In seinen Analysen bezieht sich Moretti dagegen auf die Geschichte und Theorien der Geisteswissenschaft sowie auf naturwissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Meilensteine. Die Wissenschaftstheorie Wilhelm Diltheys, die Mikrogeschichte Carlo Ginzburgs, der Bilderatlas Aby Warburgs, die Sozialgeschichte Fernand Braudels oder Charles Darwins »Der Ursprung der Arten durch natürliche Selektion« dienen ihm als Prüfstein der eigenen Methode und Erkenntnisse oder – im Falle Warburgs – als Untersuchungsgegenstand. Erhellender als die exemplarischen und detailreichen Untersuchungen sind von den sechs Aufsätzen des Bandes die wissenschaftstheoretischen Reflexionen und die Rückschau auf das »Quantitative als Verheißung und Problem«.
Empirismuskritik
Moretti teilt sogar selbst manche der polemischen Kritiken an den Methoden der quantitativen Literaturwissenschaft: zum Beispiel, dass das Verfahren des Topic Modeling, bei dem bestimmte wiederkehrende Elemente in Texten markiert und statistisch ausgewertet werden, »Texte einfach wie ›Wortsäcke‹ analysiert und damit alle formalen Konzepte als vollkommen bedeutungslos verwirft«. Da die quantitativen Verfahren aus anderen Fachgebieten stammen, in denen die Kategorie der Form eine viel geringere bis keine Rolle spielt, ginge aber etwas verloren. Denn für die Literatur sei Form ein maßgebliches Kriterium. So entstünde in den digitalen Humanwissenschaften eine Art »Quantitativer Formalismus«: Das ästhetische Material wird reduziert »auf grundlegende formale Elemente«; ein »Roman auf seine Absätze oder ein Theaterstück auf seine Wortwechsel«.
Nun sind Einsprüche gegen datenbasierte empirische Verfahren nicht neu – ein berühmtes Beispiel ist der »Positivismusstreit« in der deutschen Soziologie der 60er Jahre. Aber die Literaturwissenschaft, die ohnehin häufiger als andere Disziplinen ihre Wissenschaftlichkeit rechtfertigen muss, kennt quantitative und auf großen Daten basierende Methoden erst in jüngster Zeit. Moretti kann sich durchaus zuschreiben, diese Wende mit losgetreten zu haben.
Sein Buch »Kurven, Karten, Stammbäume« von 2005 (auf Deutsch 2009 erschienen) trägt den Untertitel »Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte«. Darin zeigte er anhand von Diagrammen anschaulich, wie die Romanproduktion über die Jahrhunderte in bestimmten Ländern zu- oder abgenommen hat, oder in welchem Zeitraum ein bestimmtes britisches Romangenre Verbreitung fand und wieder verschwand. Jakobinische und anti-jakobinische Romane etwa tauchen im gleichen kurzen Zeitraum auf, Dorfgeschichten sind eher ein Phänomen Anfang des 19. Jahrhunderts und industrielle Romane erscheinen Mitte des 19. Jahrhunderts. Entsprechend lässt sich etwa für die Dorfromane anhand von Karten nachvollziehen, wie sich auf dem Höhepunkt des Genres die Handlung noch im Dorfzentrum abspielt, um sich schließlich in die Peripherie zu verlagern – oder mit der Industrialisierung gleich in die nächstgelegene Stadt. Zu diesen Analysen ist inzwischen eine Vielzahl hinzugekommen, ohne dass dadurch tatsächlich eine neue Literaturgeschichte geschrieben wurde – was zumindest Moretti als seinen Anspruch an die quantitative Literaturforschung formuliert.
Resignierter Zauberlehrling
Die neuen quantitativen Analysen waren für sich genommen überzeugend und durchaus mit Erkenntnissen verbunden. Im Rückblick betont Moretti aber immer wieder auch die eigene Ratlosigkeit über die Erkenntnisse aus den Studien, da zwischen Formanalyse und Geschichte, Quantifizierung und Hermeneutik, Normen und Anomalien »offenbar keine Synthese möglich war«. Aus »Falsche Bewegung« spricht die Enttäuschung darüber, dass die Verbindung zwischen der »klassischen« hermeneutischen und der quantitativen Literaturwissenschaft nicht gelingt. Moretti problematisiert in seinen Aufsätzen die eigenen unbefriedigenden Ergebnisse – »schlechte Ergebnisse. Ergebnisse, die man zunächst einmal kleinzureden versucht«, wie es über die datengetriebenen Simulationen, Parameter und Netzwerke heißt. Er unternimmt aber auch eine Metaanalyse des Feldes und zahlreicher Aufsätze, die mithilfe der Quantifizierung arbeiten und »Datenvisualisierung, Säulendiagramme, Streudiagramme, chronografische Diagramme, Netzwerke« enthalten. Dabei widerspricht er auch den Ergebnissen und Interpretationen seiner Kolleg*innen und fragt: »Sehen sie ihre eigenen Daten nicht?« Natürlich sehen sie die Daten, doch sobald sie modelliert und visualisiert werden, müssen sie auch interpretiert werden. Und die Punkte auf den Graphen sind manchmal so widerspenstig wie Kafkas Satzzeichen.
Umgekehrt lässt sich aber auch den hermeneutischen Interpretationen des Close Reading der Vorwurf machen, dass sie einzelne Werke oder Satzzeichen überinterpretiert haben. Und die schier endlose Forschung zu Thomas Mann, Goethe oder Shakespeare wirft die Frage auf, ob dazu nicht irgendwann alles gesagt sei und es nicht mindestens ebenso relevant wäre, die vergessenen Werke aus dem Archiv zu untersuchen – und sei es nur aus der Distanz, bei der sie als Textkörper auf Muster untersucht werden. Moretti wendet sich wie der Zauberlehrling etwas resigniert gegen die Geister, die er rief, und gegen die detailversessene »Lawine kleinerer Studien ohne jede geistige Synthese«, über die die Geschichte und die Theorie aus dem Blick gerieten: »Die Literaturforschung wurde mathematisiert – und verlor darüber alle wissenschaftlichen Ambitionen.« Am Ende erzeuge das gar eine »Literaturgeschichte ohne Texte«.
Franco Moretti: Falsche Bewegung. Die digitale Wende in den Literatur- und Kulturwissenschaften. Konstanz University Press. 175 S., 90 Abb., 28 €.
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