• Kultur
  • Nachruf auf Hans Magnus Enzensberger

Souverän im Spiel

Zum Tod des unabhängigen Intellektuellen Hans Magnus Enzensberger

  • Klaus Bittermann
  • Lesedauer: 6 Min.

Was in der Nachkriegszeit im westdeutschen Kulturbetrieb als Literatur galt und bis in die 1980er Jahre hineinwirkte, war in der Regel kaum genießbar. Dafür standen beispielhaft die Kulturbetriebsintriganten Günter Grass und Martin Walser, die in ihrer Verquastheit und Bräsigkeit dafür gesorgt haben, dass noch heute Schriftsteller glauben, Literatur müsse wehtun. Die große Ausnahmeerscheinung in diesem literarischen Eintopf war Hans Magnus Enzensberger, der gerne als »Hansdampf in allen Gassen« bespöttelt wurde, nur weil er sich nicht einem Genre verschrieb, nicht Mitglied der SPD war, nicht dem Werkkreis Literatur der Arbeitswelt angehörte und immer unabhängig im Denken blieb.

Enzensberger pflegte einen lässigen, souveränen und eleganten Stil, der einen ganz unverwechselbaren Sound hatte und mit dem er ganz beiläufig und ohne auftrumpfende Besserwisserei falsches Denken und Vorurteile ad absurdum führte. Das konnte er, weil er im Unterschied zu vielen seiner Kollegen analytische Fähigkeiten besaß und gegenüber moralisch begründeten Überzeugungen seine Skepsis nie ablegte.

Aus einer bürgerlichen Familie stammend, in der man Hitler nicht zu Füßen lag, wurde er als Querulant aus der Hitlerjugend ausgeschlossen, der beizutreten er verpflichtet gewesen war. Schon damals deckte er damit gewissermaßen eine deutsche Lebenslüge auf, der zufolge man nicht die geringste Möglichkeit hatte, nicht mitzumachen. Nach dem Krieg überlebte er als Schwarzmarkthändler, Dolmetscher und Barmann bei der Royal Air Force. Er wurde mit einer Wirklichkeit konfrontiert, die nur eine vernünftige Schlussfolgerung zuließ, nämlich dem Land der Nazis und der Täter zu entfliehen. Als Student der Literaturwissenschaft und Philosophie besuchte er die Sorbonne und fand zu seiner Lebensform, die hieß, immer unterwegs und beweglich zu sein. Er lebte unter anderem in Norwegen, in der Sowjetunion, auf Kuba und in Italien. Enzensberger wurde ein polyglotter Weltbürger, der gar nicht auf den Gedanken kam, über deutsche oder nationale Identität nachzugrübeln, weil er einen ganz anderen Horizont hatte, den er mit seinen »Wahrnehmungen aus sieben Ländern« in seinem leider unterschätzten Reportagenbuch »Ach Europa!« auf wunderbare Weise aufscheinen ließ.

Ende der 1950er Jahre arbeitete er für den Süddeutschen Rundfunk und schrieb einige glänzende Essays über die Bewusstseinsindustrie, über den von der »FAZ« gepflegten »Journalismus als Eiertanz« und die »Sprache des ›Spiegels‹«. In diesen Artikeln kritisierte er bereits 1957 die Vorstellung, die Aufgabe von Gesellschaftskritik hieße, ihren Gegenstand zu entlarven. Dieser sei evident, weshalb das Rätselhafte gerade im Offenkundigen bestehe. »Einzelheiten«, in denen diese Aufsätze erschienen, war nur ein Band in der bunten Edition-Suhrkamp-Reihe, in denen er seine »Politischen Überlegungen« ausbreitete. Er wollte sie als »Palaver« verstanden wissen, um sich vom Verein der hochtrabenden und bedeutenden Kritiker abzugrenzen. An der politischen Wirklichkeit der alten Bundesrepublik interessierte ihn vor allem die Absurdität, mit der die Elite sich an desavouierte Traditionen klammerte und erste Auflösungserscheinungen zu kaschieren suchte.

Vielleicht, weil ihm die Vergeblichkeit seiner Kritik bewusst war, beschäftigte er sich auch mit völlig anderen Wirklichkeiten, wie mit dem »kurzen Sommer der Anarchie«, als er die alten im Exil lebenden spanischen Anarchisten interviewte, und man versteht Enzensbergers tiefe Sympathie für diese Menschen aus einer »proletarischen Massenbewegung«, die ihren Idealen immer treu geblieben sind, nicht aus Starrsinn, sondern weil sie einen Augenblick der Freiheit haben aufblitzen sehen, den sie nicht verraten wollten. Man liest sich fest in seinem großartigen »Politik und Verbrechen«, in dem er von den russischen Sozialrevolutionären erzählt, Geschichten, mit denen er die hiesige zerfallende Protestbewegung einen Blick in eine Vergangenheit werfen ließ, die es in Deutschland nie gegeben hatte.

Er war zehn Jahre lang Herausgeber des führenden intellektuellen Periodikums »Kursbuch«, dem er vor allem durch seine eigenen Artikel ein gewisses Format gab. Er gründete mit Gaston Salvatore die Zeitschrift »TransAtlantik«, die sich zur Aufgabe machte, die Deutschen mit den Debatten von Autoren aus anderen Ländern bekannt zu machen. Und schließlich hob er zusammen mit Franz Greno auch noch »Die andere Bibliothek« aus der Taufe, die nicht nur nach allen Regeln der Buchdruckerkunst hergestellt war, sondern auch großartige Funde enthielt wie die Reportagen von Gabriele Goettle, Ryszard Kapuscinski und Jane Kramer, Padovers »Lügendetektor« und die Anthologie »Europa in Trümmern«.

Als er während des Golfkriegs Saddam Hussein als »Wiedergänger Hitlers« bezeichnete, löste das eine Flut von Reaktionen aus, bei denen man häufig nicht wusste, ob Hussein vor Hitler in Schutz genommen werden sollte, weil er doch gar nicht so schlimm war, oder umgekehrt Hitler vor einem billigen Plagiat. Kaum jemand wollte sehen, dass Enzensbergers Vergleich spezifisch war, weil Saddam Hussein die gleiche Untergangsvision wie Hitler hatte und bereit war, die Vernichtung der Iraker in Kauf zu nehmen, was sich allerdings angesichts der amerikanischen militärischen Übermacht als lächerlich erwies.

Niemand ist in einem 93 Jahre währenden Schriftstellerleben vor Irrtümern gefeit, aber angesichts Enzensbergers Verdienste hat es etwas Kleinliches, ihm diese vorzurechnen. Womit er bei Kritikern aneckte, war seine spielerische Haltung, dass er nicht alles fürchterlich ernst nahm, dennoch aber bestimmt und konzise blieb und dass er nachsichtig gegenüber menschlichen Schwächen war, was ihn einmal sogar dazu verleitete, die »Normalität« zu verteidigen und ein Loblied auf den kleinen Mann zu singen. Wolfgang Pohrt, vor dem nicht allzu viel Bestand hatte, kommentierte das Anfang der Achtziger zwar als »Plädoyer für den Verzicht auf Anspruchsdenken im Bereich der Ideen«, kam aber gleichzeitig nicht umhin, zuzugestehen, dass Enzensberger nicht in den »Daueralarm« mit einstimmt, »welcher die BRD zur hochrangigen Kulturnation promovierte«.

Enzensberger schrieb mir vor ein paar Jahren, bevor er verstummte, ich solle doch noch einmal das Buch »Der rasende Mitläufer« auflegen, in dem Christian Schultz-Gersteins kleine Invektiven aus den Achtzigern enthalten sind, ein Panoptikum des neudeutschen Literaturbetriebs, dessen Insassen auf ebenso beißende wie treffende Weise seziert werden, also Autoren wie der »kritische Opportunist« Botho Strauß, Peter Handke, der furchtbare Kunstrichter Marcel Reich-Ranicki und André Heller. Enzensberger liebte einen intelligenten Verriss und eine originelle Idee mehr als das übliche Geschwafel, an dem die öffentliche Debatte nicht gerade arm ist. Und deshalb mochte er auch Autoren wie Pohrt, mit dem er kaum in allem einverstanden gewesen sein dürfte, aber dessen intellektuelle Anstrengung, die Welt zu verstehen, er schätzte. So ließ er ihm diskret Unterstützung zuteilwerden, als es ihm schlecht ging. Und mit zahlreichen Literaturpreisen bedacht, vermachte er eines der Preisgelder Gabriele Goettle, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Preise nicht immer den selben Leuten wie beispielsweise ihm verliehen werden sollten. Das unterscheidet ihn wesentlich von Schriftstellern wie Günter Grass, der sich selbst noch den Frack für die Literaturnobelpreisverleihung in Oslo von der Theaterschneiderei des Hamburger Thalia-Theaters herstellen ließ.

Enzensberger ist einer der ganz großen Intellektuellen, die Deutschland nach 1945 hervorgebracht hat, und mit Sicherheit der einzige, der dieser Einordnung ziemlich gleichgültig gegenübergestanden wäre, der verschmitzt gelächelt hätte über derartige Zuschreibungen und mit einer neuen Idee schon längst wieder woanders gewesen wäre, bevor ihn die Auszeichnung hätte erdrücken oder festschreiben können. Kurz nach seinem 93. Geburtstag verstarb er in München nach langer Krankheit.

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