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Im Grand Hotel Sowjetunion
George Grosz kritisierte malend und zeichnend die Weimarer Republik und war Mitglied der KPD. Bevor ihn die Nazis aus Deutschland vertrieben, bereiste der Künstler-Kommunist das Mutterland der Revolution – und stieß dort auf unterschiedliche Resonanz. Ein Einblick in die sowjetische Grosz-Rezeption
Welcher deutsche Künstler schüttelte Lenin die Hand? Wer gründete den ersten kommunistischen Künstlerbund in Deutschland? Und schaffte es – als einziger Ausländer – mit eigenen Werken auf die Titelseite der Moskauer Zeitung »Prawda«? Es war George Grosz (1893–1959), nach landläufiger Vorstellung ein Hauptvertreter des Berliner Dadaismus und vorübergehend auch Kommunist. Seit 1919 in der KPD, sei er bereits 1923 wieder ausgetreten, heißt es im Katalog der Grosz-Retrospektive der Staatlichen Museen zu Berlin von 1994. Eine Reise ins Land der Sowjets habe ihm die Augen geöffnet und ihn auf Distanz zum Kommunismus gehen lassen. So erklärte es der Künstler selbst Mitte der 50er Jahre einem New Yorker Anwalt, nachzulesen in den Briefen des Vielschreibers, und so wird es bis heute kolportiert. Was weiterhin fehlt, ist ein dokumentarischer Beleg für den behaupteten Parteiaustritt. Dagegen bezeugen jüngst entdeckte Beiträge des Genossen Grosz für die Sowjetpresse und eine lebendige, im Westen unbekannte sowjetische Rezeption, dass dieser Künstler-Kommunist mit Moskau exklusive Kontakte pflegte – über 1923 hinaus.
Christian Hufen studierte Kunstwissenschaften in Berlin (Ost) und Moskau und ist promovierter Historiker. Er arbeitet zum kulturellen Austausch zwischen Deutschland und Russland im 20. Jahrhundert und wirkt derzeit mit an dem Ausstellungsprojekt »George Grosz reist nach Sowjetrussland 1922« im Kleinen Grosz-Museum in Berlin-Schöneberg.
Zeichner für die »Prawda«
Wer politische Zeichnungen von Grosz im Original und wegweisende Typografie aus den Anfangsjahren der Weimarer Republik sehen möchte, als künstlerische und politische Avantgarden eng kooperierten und sich international vernetzten, besuche die neue Ausstellung im Kleinen Grosz-Museum in Berlin-Schöneberg. Sie versucht eine Rekonstruktion der legendären Künstlerreise. Demnach reiste Grosz im August 1922 über Skandinavien nach Petrograd und Moskau, wo er im November die Feierlichkeiten zum fünften Jahrestag der Oktoberrevolution und den IV. Weltkongress der Kommunistischen Internationale miterlebte. Er traf weitere sowjetische Spitzenpolitiker, darunter Führungspersonal der Komintern wie Grigori Sinowjew und Karl Radek. Grosz war der erste namhafte Künstler aus dem Westen, der einen Komintern-Kongress besuchte. Eine geplante Personalausstellung kam aber nicht zustande. Sämtliche Originale, etwa 70 Zeichnungen, die vermutlich am Tagungsort, also im Kreml gezeigt werden sollten, sind in Russland spurlos verschwunden.
Grosz verstand sich in diesen Jahren als künstlerischer Dienstleister im Klassenkampf. Zwischen 1921 und 1925 gab er die Malerei auf und wandte sich der Massenagitation zu. Sein Hauptmedium in diesen Jahren war die politische Grafik, die der Berliner Malik-Verlag in Mappen und Büchern verbreitete. Die Folge »Gott mit uns« (1920) brachte ihn und seinen Verleger Wieland Herzfelde erstmals vor Gericht, »Das Gesicht der herrschenden Klasse« (1921) erzielte eine fünfstellige Auflage. Seinem Ideal des Pressezeichners an der Rotationsdruckmaschine kam George Grosz mit sowjetischen Zeitungen und Zeitschriften am nächsten, die seine Zeichnungen in Massenauflage verbreiteten. Er weilte noch in Moskau, als das Zentralorgan der KP Sowjetrusslands (Bolschewiki) im Dezember 1922 erstmals Grosz-Zeichnungen in einer Beilage zum Komintern-Kongress druckte.
Am 14. Oktober 1923 setzte die »Prawda« eine tagesaktuelle Zeichnung des Berliners auf die Titelseite. Unter der Überschrift »Die deutsche ›Demokratie‹ bei der Arbeit« zeigt das Blatt einen Durchschnittsbürger mit geballter Faust, dem Reichskanzler Stresemann unter Beihilfe zweier Schupos vor einem zufriedenen Reichspräsidenten Ebert mit Schweinsgesicht, Zigarre und Zylinder den Maulkorb anlegt. Die Szene suggeriert Widerstand im Volk gegen die Erfüllungspolitik der Reichsregierung, die im September ihren Widerstand gegen die französische Besetzung des Ruhrgebiets aufgegeben hatte und über Reparationen verhandeln wollte. Damit lag Grosz auf Linie der Komintern, die eine deutsche Revolution erwartete und anheizte – bis das Scheitern kommunistischer Aktionen im Herbst 1923 alle Hoffnungen darauf begrub.
Grosz’ Arbeit entstand exklusiv für diese Zeitung, desgleichen sein »Rad der Geschichte«, das die »Prawda«-Ausgabe vom 12. März 1925 schmückt. Es gehört zu einer kleinen Reihe seiner Bilderfindungen, in denen Hammer und Sichel und die Jahreszahl 1917 den welthistorischen Neuanfang anzeigen. Hier stemmen sich die Stützen der alten Ordnung – Kirche, Militär und Geldsäcke – vergeblich gegen die Umwälzung; ein Offizier flieht mit Zarenbild unter dem Arm. Im November 1924 erinnerte die Grosz-Zeichnung eines riesenhaften Rotarmisten an die Errichtung der kommunistischen Herrschaft im Osten; Illustrationen zur Feier der bolschewistischen Oktoberrevolution erschienen zum 9. November 1926 und 1928. Wäre der Künstler aus der KPD ausgetreten oder mit seiner Partei im Konflikt gewesen, hätten seine Moskauer Fürsprecher ihm sicherlich keinen Platz im Zentralorgan ihrer Partei einräumen dürfen.
Alternative zur bürgerlichen Kunst
Und all das ist nur die Spitze des Eisbergs. Grosz’ Präsenz in der parteieigenen und staatlichen Presselandschaft des ersten sozialistischen Staates zwischen 1922 und 1932 übertrifft alle Erwartungen. Auf diese Fundgrube stieß auch der Moskauer Kunsthistoriker Sergei Fofanow bei seinen Recherchen zu einem Ausstellungsprojekt der Staatlichen Tretjakow-Galerie. Die gemeinsame Arbeit am Katalog zu Grosz’ Russlandreise brachte uns auf den Gedanken, daran anschließend die sowjetische Rezeption dieses Künstlers zu erforschen. Wie sich zeigte, ergänzen und überschneiden sich unsere Vorarbeiten. Dieser Artikel, für den Sergei Informationen und Bildmaterial beisteuerte, soll einen Eindruck von der Fülle und Qualität der schriftlichen Zeugnisse vermitteln, aber auch die kunstgeschichtliche und zeithistorische Dimension unseres Forschungsprojekts.
Zur kulturellen Aneignung und intensiven Auseinandersetzung mit George Grosz in der frühen Sowjetunion haben Künstler*innen und Theoretiker*innen der russischen Avantgarde beigetragen. Im Dezember 1922 pries Wladimir Majakowski, der im Malik-Verlag gerade einen Buchvertrag unterzeichnet hatte, Grosz öffentlich als eindrucksvolle Erscheinung der deutschen Nachkriegskunst und verteilte dessen Publikationen im Moskauer Freundeskreis. Die von ihm initiierte, berühmte Moskauer Konstruktivisten-Zeitschrift »LEF« brachte in ihrer zweiten Ausgabe vom April/Mai 1923 eine Selbstdarstellung des deutschen Linksaktivisten in der Übersetzung von Lilja Brik, der Geliebten des Dichters.
Sein Freund Ossip Brik (Liljas Gatte) verfasste 1923 ein Grosz-Porträt für die Literaturbeilage der Regierungszeitung »Izwestija« und ein Essay für »Ogonjek«, die Zeitschrift des kommunistischen Jugendverbandes Komsomol. Darin legte der Literaturwissenschaftler die antiakademischen, unorthodoxen Inspirationsquellen des Künstlers offen: »Schaut man Arbeiten von Grosz an, kommen einem gleich Zeichnungen auf Zäunen und Fassaden, in Gefängnissen, Toiletten und Schulen in den Sinn. Das ist kein Zufall. Wie Grosz bestens versteht, darf sich der Kampf nicht gegen die Bourgeoisie richten, die an den von ihr geschaffenen Kunsttraditionen festhält. Es muss ein anderer Zugang gefunden werden.« Der erweiterte Materialbegriff und das neuartige Berufsverständnis des deutschen Künstlerkollegen bestärkte die Moskauer Konstruktivisten. Sergei Eisenstein zählte Grosz’ Bildmontagen 1923, ebenfalls in »LEF«, zu seinen Vorbildern.
Grosz’ Kunst war jedoch auch in der Sowjetunion nicht jedermanns Sache. Trotzki fand sie zynisch, wie sein Biograf Max Eastman bezeugt. Eine eigene russische Tradition des akademischen Realismus, auch der stilbildende Einfluss französischer Malerei begründeten Vorbehalte gegen den Expressionismus und visuelle Angriffe eines Grosz: grobschlächtige Visagen in der Oberschicht, hundsgemeine Militärs, Bordellszenen und Elendsgestalten. Der Kritiker Abram Efros sah ihn 1923 als »ersten Agitator der europäischen Grafik«, dessen Wirkung einem Volkstribun gleiche: »Je vulgärer Grosz ist, desto bedeutender.«
Die mythologische Verwandlung der Menschen in Tiere, von Grosz vielfach variiert, war allerdings mit der volkstümlichen russischen Bildtradition kompatibel. In seinen Notizen zur geforderten Akademiereform sortierte Pawel Filonow, der originellste Vertreter der Petrograder Avantgarde, den Deutschen unter »zeitgenössischer Lubok« ein. Wie populär das Motiv war und blieb, bezeugen die Erinnerungen des späteren sowjetischen Partei- und Staatschefs Nikita Chruschtschow. Amerikanische Wirtschaftsbosse, die er 1959 bei seinem USA-Besuch getroffen hatte, schilderte er als »typische Kapitalisten wie auf Plakaten …, nur ohne die Schweineschnauzen, mit denen unsere Karikaturisten sie stets bedachten«. George Grosz wurde in der SU letztlich als politischer Karikaturist kanonisiert und ging in die sowjetische Populärkultur ein.
Umkämpfte Kulturpolitik
Außer in Russland ist eine Rezeption auch in anderen Sowjetrepubliken nachweisbar. Im armenischen Staatsverlag erschien 1924 eine eigene Monografie über Grosz: die erste Schrift über Malerei in armenischer Sprache überhaupt! Der Verfasser Karo Halabyan, später führender sowjetischer Architekt und Städteplaner, studierte noch an den »Wchutemas«, auch bekannt als Moskauer Bauhaus. Die »minimalistischen, aber ausdrucksstarken Zeichnungen« von Grosz erinnerten ihn an Van Gogh, Picasso und Kandinsky. Ohne Aneignung der Moderne keine revolutionäre Kunst auf höchstem Niveau, so lautete die Botschaft.
Das Traktat »Die Kunst ist in Gefahr« (1925) wurde umgehend ins Russische und Ukrainische übersetzt. In diesem »Orientierungsversuch«, dessen Mitautor Herzfelde die sowjetischen Ausgaben übergehen, sondiert Grosz die Lage im unübersichtlich gewordenen Gebiet der bildenden Kunst. Die Ausgabe der Literaturgesellschaft »Waplite« (Freie Akademie proletarischer Literatur) in Charkiv enthält ein Foto von Grosz mit Banjo – in diesem Kontext eine Anspielung auf Bandura-Spieler, die in der eigenen Nationalkultur populären Musiker und Legendenerzähler. Herausgeber Aleksandr Lejtes beteuerte, die Veröffentlichung bedeute keine Solidarisierung mit Grosz – eine Vorsichtsmaßnahme gegen Nationalisten, die eine autarke und bodenständige Nationalkultur für die landwirtschaftlich geprägte Unionsrepublik verfochten. »Waplite« wollte die Dominanz russischer Kultur durch Anlehnung an Westeuropa brechen, besonders durch Vermittlung neuer städtischer Literatur und Kunst.
Der bekannteste Fürsprecher des Künstlers Grosz in der Sowjetunion war in den 1920er Jahren Anatoli Lunatscharski. Seit 1917 Volkskommissar für das Bildungswesen der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, agierte er seit 1922 bis zu seiner Absetzung 1929 de facto als sowjetischer Kultusminister; die Kunstabteilung seines Ressorts förderte die Avantgarden und den internationalen Austausch. Nach Erscheinen der russischen Ausgabe von »Die Kunst ist in Gefahr« monierte er die unkommentierte Textedition und distanzierte sich vom Vorwort. In einer Stellungnahme, die mehrere Zeitschriften abdruckten, kritisierte der versierte Publizist die irreführende Wiedergabe der Gedanken des deutschen Künstler-Kommunisten und warf dem verantwortlichen Mitarbeiter vor, sich in einer Weise geäußert zu haben, die vom Kurs seines Ministeriums abweiche.
Das russische Vorwort präsentierte Grosz als guten Bekannten, dessen schriftliche Äußerung für die sowjetische Leserschaft von gewissem Nutzen sei, wenn auch von begrenztem Wert. Sein Autor Perzow bekannte sich ganz offen zum Projekt einer proletarischen Kultur in der Sowjetunion, die den Klassenfeind aus dem Kulturbetrieb verdrängen würde und auf Ratschläge aus dem Ausland gut verzichten könne. Grosz’ Forderung, kritisch-engagierte Künstler sollten ihrer Gegenwart den Spiegel vorhalten und immer und überall den Kampf um Gleichberechtigung unterstützen, wies dieser Vertreter bolschewistischer Identitätspolitik für das eigene Land zurück: »Man wüsste absolut nicht, ob dieser Meister darstellerischer Schemata, die die bürgerliche Gesellschaft entlarven, mit den künstlerischen Standards der siegreichen Arbeiterklasse, die unsere Epoche so braucht, fertig würde.«
Lunatscharski nutzte diese Auseinandersetzung um Grosz zur Positionsbestimmung und Abgrenzung von konkurrierenden kulturpolitischen Konzepten, namentlich der Proletkult-Bewegung. Die Aufnahme seiner Verteidigungsschrift in die eigene Aufsatzsammlung von 1927 machte deutlich, welche Bedeutung der Volkskommissar der Auseinandersetzung beimaß. Das künstlerische Werk und die Schriften von George Grosz, dem er nach unserer Kenntnis 1922 während dessen Russlandreise und 1925 in Berlin auch persönlich begegnete, dürften die Suche dieses Kulturpolitikers nach einer »offenen Theorie« des Sozialistischen Realismus stark beeinflusst haben.
Ausstellungsbeteiligungen
Zwischen 1924 und 1934 waren grafische Werke des Künstlers auf Gruppen- und Themenausstellungen mit internationaler Beteiligung in mehreren Städten der Sowjetunion zu sehen. Nach der 1922 gescheiterten Soloschau förderte auch dies seine Bekanntheit, zumal Kataloge gedruckt wurden und staatliche Museen Ankäufe tätigten. Den Anfang machte 1924/25 die »Erste Allgemeine Deutsche Kunstausstellung in Moskau« (weitere Stationen: Saratow und Leningrad) mit etwa 600 Werken, eingeschickt von mehreren deutschen Künstlerbünden sowie vom Staatlichen Bauhaus in Weimar. Viel Beachtung fand die »Rote Gruppe« – als erster Zusammenschluss kommunistischer Künstler, initiiert und unter Leitung von George Grosz. Dazu kam eine russische Ausgabe des Malik-Buches »Das Gesicht der herrschenden Klasse« auf den Markt.
Die sowjetische Forschung trug zur Kanonisierung bei. Nach der »Internationalen Ausstellung revolutionärer Kunst der Gegenwart« in Moskau und Perm (1926) richtete die Staatliche Akademie für Kunstwissenschaften ein Studienkabinett mit Werken engagierter Künstler wie Grosz ein, das 1932 vom Museum für Neuere Kunst des Westens in der sowjetischen Hauptstadt übernommen wurde. Dessen Direktor, Boris Ternowez, stellte die politischen Zeichnungen aus seinem Sammlungsbestand im Kontext internationaler linker Kunst wiederholt aus und widmete Grosz mehrere Texte. Sein vergleichsweise umfangreicher und sogar bebilderter Lexikoneintrag im 16. Band der Großen Sowjetischen Enzyklopädie (1930) dokumentiert den Rang dieses Vorbilds vor der kulturpolitischen Wende von 1932 zum dogmatischen Sozialistischen Realismus.
Der Hype um die Person
Die sowjetische Öffentlichkeit interessierte sich nun auch brennend für den Künstler selbst. Im Dezember 1928 standen Grosz und Verlegerfreund Herzfelde in Berlin erneut vor Gericht, diesmal wegen Gotteslästerung. Stein des Anstoßes waren einige antireligiöse Motive seiner Illustrationen zum »Braven Soldaten Schwejk« für die Piscator-Bühne, die der Malik-Verlag in einer neuen Grosz-Mappe (»Hintergrund«) vertrieb. Der spektakuläre Prozess über fünf Instanzen endete 1931 mit Freispruch. Er wurde europaweit beachtet und hatte infolge der Berichterstattung große Resonanz im gesellschaftlichen und kulturellen Leben der Sowjetunion.
Jetzt war Grosz nicht Ankläger, sondern prominentes Opfer der kapitalistischen Klassenjustiz, und die Leserschaft war aufgerufen, Partei für ihn zu ergreifen. Wie überall sonst erregte der Christus mit Gummistiefeln und Gasmaske (»Maul halten und weiter dienen«) größtes Aufsehen. Die Zeichnung – eines der wichtigsten Antikriegssymbole des 20. Jahrhunderts – wurde in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern oft reproduziert. Der Maler Juri Pimenow griff das Motiv auf, ebenso das Karikaturisten-Trio Kukriniksy; es kam im Bühnenbild der Leningrader Inszenierung von »Im Westen nichts Neues« (1930) vor und inspirierte den sowjetischen Regisseur Friedrich Ermler zu drastischen Einstellungen in seinem Antikriegsfilm »Der Mann, der das Gedächtnis verlor« (1929).
Wusste Grosz von der großen Anteilnahme an seinem Fall? Vermutlich, traf er doch in Berlin auch gut informierte Künstlerfreunde mit sowjetischem Pass wie Ilja Ehrenburg, der ihrer Freundschaft in »Visum der Zeit« ein literarisches Denkmal setzte. Wie es 1928 zum exklusiven Abdruck seiner »Autobiographie« in der Zeitschrift »Proschektor« kam – seine Memoiren sollte Grosz erst in den USA schreiben; sie erschienen dort 1946 und 1955 auf Deutsch –, werden Sergei und ich noch herausfinden. Grosz erwähnt in dieser Skizze ausdrücklich seinen Parteieintritt und anhaltende Diskussionen mit »Genossen«, was wohl auf Verbundenheit mit der kommunistischen Bewegung hindeutet. In satirisch zugespitzter Form wandte er sich gegen Proletkult-Propagandisten, die ihm Herkunft und Ästhetik vorwarfen und die Brauchbarkeit seines Werkes für den sozialistischen Aufbau in Zweifel zogen: »Doch halte ich es nicht für erforderlich, der Forderung des ›Hurra-Bolschewismus‹ Genüge zu tun, welcher sich das Proletariat ordentlich gekämmt und im alten heroischen Kostüm vorstellt.«
Wo steht Grosz politisch?
Die neue Tendenz sowjetischer Kulturpolitik in den 30er Jahren wurde an der kleinen Grosz-Broschüre ablesbar, die 1931 im Staatsverlag für bildende Kunst in einer Buchreihe zur Geschichte der politischen Grafik erschien. Darin gestand der Kunsthistoriker Sjedin dem großen Zeichner eine meisterhafte Darstellung des Klassengegners zu, wies aber gleich auf »jene für Grosz typische Schematisierung von Linie und Form« hin und behauptete zum Schluss, dem Künstler fehle es an Authentizität. Wertschätzung und begründete Skepsis brachte ein offener Brief zum Ausdruck, den die Künstlerin Jekaterina Zernowa, Mitglied der jungen Gesellschaft der Staffeleimaler (OST), im Mai 1931 in einer sowjetischen Kunstzeitschrift an die Adresse von Grosz richtete. Es sei die Zeit gekommen, einen Abgleich zwischen dem Idol und dessen neuerem Werk vorzunehmen: »Uns erreichen Gerüchte, dass sie schon nicht mehr so unversöhnlich kämpfen wie einst. … Besser als irgendjemand sonst können sie die Zweifel ausräumen, indem sie die einfache Frage beantworten: Wo stehen sie?«
George Grosz war auf dem Weg nach Amerika. Wohl auch, um der deutschen Justiz zu entkommen, die ihn und seinen kommunistischen Verlag bedrängte, nahm er 1932 einen mehrmonatigen Lehrauftrag in New York an; Ende Januar 1933 verließ er Deutschland, gerade noch rechtzeitig vor der sicheren politischen Verfolgung durch die Nationalsozialisten. Anders als manche KPD-Genossen, seine Partner und viele Fans in der »Heimat der Werktätigen« es erwarten mochten, zog er es vor, sich mit seiner Familie in den USA niederzulassen statt in der Sowjetunion. Hatte er seinen politischen Überzeugungen abgeschworen? Die Frage war und ist nicht leicht zu beantworten. Die Berliner Ausstellung, zu der ein umfangreicher Katalog erscheint, bringt bisher übersehenes Material in die Diskussion – neuer Stoff, der anregt, über das Für und Wider engagierter Kunst nachzudenken.
George Grosz: Ein kleines Ja und ein großes Nein. Sein Leben von ihm selbst erzählt. Rowohlt 1955.
Ders.: Eintrittsbillett zu meinem Gehirnzirkus. Erinnerungen, Schriften, Briefe. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Renate Hartleb. Kiepenheuer 1989.
Herbert Knust (Hrsg.): George Grosz. Briefe 1913–1959. Rowohlt 1979.
Peter-Klaus Schuster (Hrsg.): George Grosz. Berlin – New York. Buch zur Grosz-Retrospektive der Staatlichen Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie. Berlin 1994.
Das Kleine Grosz-Museum (Hrsg.): 1922 – George Grosz reist nach Sowjetrussland. Katalog zur Ausstellung 23.11.2022 – 30.4.2023, Das Kleine Grosz-Museum. Köln 2022.
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