Roadmovie mit Esel

Der polnische Regisseur Jerzy Skolimowski hat den fast dialogfreien Spielfilm »EO« über einen Esel gedreht, der mit seinem heroischen Freiheitssinn lange auf der Flucht ist

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.
EO ist kein Tier, das irgendjemand richtig oder falsch halten könnte. Er ist ein Individualist, ein Solist aus dem Zirkus.
EO ist kein Tier, das irgendjemand richtig oder falsch halten könnte. Er ist ein Individualist, ein Solist aus dem Zirkus.

Dieser Film von Jerzy Skolimowski hat einen Hauptdarsteller, der nicht spricht, aber gelegentlich schrille Laute ausstößt: einen Esel. Einen Namen haben sie ihm auch gegeben, jene, die ihn lieben: EO, was wohl jenes I-A aus der Eselssprache übersetzen soll, das er manchmal wie eine Fanfare ausstößt.

Fast 90 Minuten begleiten wir EO auf seinem Weg, der zum Passionsweg wird. EO ist kein Esel in der Kirche neben der Krippe mit dem Jesuskind. Sein Weg führt – nach langen Umwegen, auf denen er mehrfach fast gerettet scheint – in den Schlachthof. Dieser Weg war EO anfangs nicht vorbestimmt. Da sehen wir ihn in einem kleinen Zirkus mit einer Tänzerin im Scheinwerferlicht der Manege. Das Mädchen liebt den Esel und der Esel liebt sie. Das spürt man an der Art, wie sie sich anschauen. Wie überhaupt die Kamera immer wie den Blick EOs in Großaufnahme einfängt.

Aber dann kommen Tierschützer, um Zirkustiere »zu befreien«. Die polnische Stadtverwaltung folgt ihrem Ansinnen und beschlagahmt EO. Man ist schließlich sensibel für Tierrechte. Aber es ist die Sensibilität von Bürokraten, die den Pharisäern aller Zeiten ähneln. Ein neuer Stall wird eingeweiht, mit langen und langweiligen Festreden, ein Band symbolisch mit einer überdimensionierten Schere zerschnitten, Fotos von den anwesenden Lokalpolitikern werden gemacht.

EO kommt in den neuen Stall, nachdem er all die schwammigen Funktionärsreden mitsamt der versprochenen Beseitigung von »Mängeln« in der Tierhaltung und einer prophezeiten glücklichen Zukunft für alle Tiere über sich ergehen lassen hat. Aber aus der besseren Tierhaltung wird nichts, denn EO ist kein Tier, das irgendjemand richtig oder falsch halten könnte. Er ist ein Individualist, ein Solist aus dem Zirkus. Er besitzt ein starkes Ego, ist mal geduldig, mal starrsinnig. Eine Persönlichkeit!

Mit den Pferden im Stall, diesen opportunistisch-eitlen Schönlingen, versteht er sich nicht. Angedeutet ist eine Fabel über die Fremdheit naher Verwandter. EO langweilt sich, vielleicht ekelt er sich auch, so vergeblich auf seinen kleinen Auftritt wartend – und rückt aus. Doch wohin kann ein Esel schon gehen, ganz allein, in einer Welt, in der »Nutztiere« mit Lastkraftwagen über Autobahnen in Fleischfabriken gefahren werden? Wo sind die alten Eselspfade geblieben, über die seine Vorfahren gingen?

EO ist erfindungsreich, ihm gelingt immer wieder die Flucht. Aber irgendwann kommt für ihn wohl der Punkt, an dem er sich mit großen verwunderten Augen zu fragen beginnt: Wozu weiter fortlaufen, wenn es kein Ziel mehr gibt? Das Ende, das dann folgt, hat etwas von einem Selbstopfer an sich.

Was will der polnische Regisseur Jerzy Skolimowski uns mit diesem fast dialogfreien Spielfilm sagen, mit einem Esel als Hauptdarsteller, der mit seinem heroischen Freiheitssinn lange auf der Flucht ist, bevor ihn sein offenbar vorbestimmtes Schicksal ereilt? Der Film sei aus Liebe zu den Tieren entstanden, sagt der Regisseur. Das will man ihm glauben, bei all den Großaufnahmen von Esel EO in diesem avantgardistisch geschnittenen Roadmovie. Es ist eine Odyssee ohne Ankunft. Nein, hier soll keine weltanschauliche Botschaft verbreitet werden, es ist kein anklagender Film im vegetarischen Geiste gegen die fleischverarbeitende Industrie. Auch ist er weder sentimental noch kitschig.

Es ist ein brüderlicher und schwesterlicher Geist, der »EO« durchdringt. Das bist auch du, sagen die Bilder, wenn EO wie ungläubig das kaltherzige Geschehen um sich herum betrachtet, mit stillem Zorn und in offenkundiger Trauer. Wie verlogen sind sie doch alle in ihrer Geschäftigkeit, wie lieblos!

»Kommst du mit oder bleibst du beim Esel?« Dieser Ruf des einen zum anderen Passanten gelangt auch bis zu EO. Aber es bleibt keiner bei ihm, alle gehen sie ihrer Wege. Wo sind die Wege eines Esels in dieser Welt? Es bedürfte eines Franz von Assisi, der den Tieren ebenso wie den Menschen Frieden predigte und sie mit schier unerschöpflicher Nachsicht behandelte.

Der junge Priester, der EO mit sich nimmt, ist seiner Spielsucht wegen gerade aus seinem Amt entlassen worden. Mit ihm hätte er sich verstehen können, auch der große Park ums Haus der Mutter des Priesters gefällt ihm. Aber diese (Gastauftritt Isabelle Huppert) teilt ihrem Sohn mit, dass hier bereits alles verkauft sei – er darf nicht bleiben und EO erst recht nicht.

Der Esel in diesem merkwürdigen, aber sehenswerten Weihnachtsfilm ist ein Symbol für jenes Christkind, das niemand zu retten kommt. Er wird auf der Schlachtbank der Interessen der großen wie der kleinen Welt gleichgültig geopfert. Hätten wir EO nicht in diesen 90 Minuten bis zu seinem vorhersehbaren Ende kennengelernt, wüssten wir nichts von seiner schlichten Schönheit, seinem stillen Eigensinn.

»EO«: Polen/Italien 2022, Regie: Jerzy Skolimowski. Mit: Sandra Drzymalska, Lorenzo Zurzolo, Mateusz Kosciukiewicz, Isabelle Huppert. 86 Min, Start: 22. Dezember.

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