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Fake News in Zeiten der französischen Restauration

In »Verlorene Illusionen« steigt ein Schriftsteller aus der Provinz in die High Society des bourgeoisen Paris auf

  • Gabriele Summen
  • Lesedauer: 4 Min.
Was man in der Pariser Bourgeoisie halt so macht.
Was man in der Pariser Bourgeoisie halt so macht.

»Im Namen des bösen Glaubens, des falschen Gerüchtes und der heiligen Werbeanzeige taufe ich dich hiermit zum Journalisten.« Was klingt wie eine zeitgemäße, zynische Taufe in den Redaktionsräumen gewisser Boulevardzeitungen, ist eine Dialogzeile aus Xavier Gianollis rasant erzähltem Historiendrama »Verlorene Illusionen«.

Der zweieinhalb Stunden lange, aber überaus kurzweilige Film feierte seine Premiere im Wettbewerb des 78. Filmfestivals in Venedig und räumte in Frankreich bereits sieben Césars ab. Die literarische Vorlage erschien vor knapp 200 Jahren, Autor war ein gewisser Honoré de Balzac.

1821 – Lucien Chardon, gespielt von der »Summer of 85«-Entdeckung Benjamin Voisin – ist ein talentierter junger Dichter. Nur leider hat er den »falschen Vater«, einen Nichtadligen. Immerhin aber war Luciens Mutter eine geborene de Rubempré, weshalb der ambitionierte Jüngling, der in einer Druckerei arbeitet, ihren Nachnamen bevorzugt.

Die adlige Louise de Bargeton (atemberaubend: Cécile de France) ist nicht nur von seinem dichterischen Talent, sondern auch von seiner jugendlichen Schönheit angetan, weshalb sie ihn mit ihren Kreisen bekannt macht. Doch als ihr Gemahl Wind von ihrer Liebelei mit dem attraktiven Nachwuchsschriftsteller bekommt, flüchten die beiden nach Paris. In der französischen Hauptstadt scheitert allerdings Louises Versuch, ihren naiven Schützling in die Bourgeoisie einzuführen.

Vor allem zwei Personen sind es, die im Laufe der Geschichte an Luciens tiefem Fall beteiligt sein werden: Louises Cousine, die Marquise d‹Espard (Jeanne Balibar) und der berühmte, adlige Autor Nathan d’Anastazio, der sein bester, falscher Freund wird. Der überaus charismatische und listige Nathan wird herausragend von Autorenfilmer und Multitalent Xavier Dolan verkörpert.

Eine etwas zu penetrant eingesetzte Off-Stimme, die das turbulente Geschehen von Anfang an ausgiebig kommentiert, setzt uns frühzeitig davon in Kenntnis, dass Luciens Aufstieg böse enden wird. Zum einen ermöglichen diese Kommentare zwar sehr nuancierte Beobachtungen, unterstreichen das Romanhafte des Films und verhindern rigoros, dass das Period-Drama ins Seifenoperhafte abrutscht.

Zum anderen wirkt es dennoch manchmal so, als wären die großartig ausgestatteten Szenen, in denen sich aufwendig kostümierte und extrem spielfreudige Schauspieler tummeln, nur dazu da, Balzacs geniale Zeilen zu bebildern. Ein bisschen mehr Mut zur eigenständigen Erzählung hätte dem Film gutgetan und die Parallelen zur heutigen Medienwelt, in der Fake News, Clickbait, Korruption, unmoralisches Verhalten und Verquickung von Werbung und Journalismus sehr präsent sind, noch mehr zum Tragen gebracht.

Lucien aber landet erst einmal in der Gosse und hält sich mit Kellnern über Wasser, wodurch er die Bekanntschaft mit dem Journalisten Etienne Lousteau (Vincent Lacoste) macht. Dieser führt ihn in die schnelllebige und skrupellose Welt der boomenden Sensationspresse ein.

In der Zeit nach der Französischen Revolution buhlten unzählige Verlage um die Aufmerksamkeit ihrer Leser*innen – und in der Werbeindustrie herrschte Goldgräberstimmung: »Geld war das neue Königtum und niemand wollte ihm den Kopf abschlagen.« Diesen speziellen Rausch vermögen Kameramann Christophe Beaucarne und Cutter Cyril Nakache sehr eindrucksvoll in Szene zu setzen.

Ausnahmslos alle Journalisten waren damals anscheinend korrupt und hatten nur die Auflage und ihre persönliche Bereicherung im Sinn. Das abschreckendste Beispiel von allen ist der einflussreiche Verleger und zynische Analphabet Dauriat, ein ehemaliger Obsthändler, der in diesem durchweg großartig besetzten Film recht passend von Gérard Depardieu gespielt wird. Das französische Enfant terrible war zuletzt wegen Vergewaltigungsvorwürfen und seiner erst vor Kurzem notgedrungen aufgekündigten Freundschaft zu Putin in den Schlagzeilen.

Und noch etwas hat die damalige Zeit mit der heutigen gemeinsam: Genau wie Putin (und andere Despoten) Trollfabriken einsetzen, um eine bestimmte Stimmung zu erzeugen, gab es damals Claqueure, die gegen Bezahlung applaudierten oder ein Stück aus Leibeskräften ausbuhten. Die Zeiten scheinen sich wirklich erschreckend wenig geändert zu haben.

Luciens neue Liebe, die Boulevard-Schauspielerin Coralie (bezaubernd: Salomé Dewaels), profitiert für eine Weile von diesem System, ist ihr Geliebter mit seiner spitzen Feder doch zu einem der bestbezahlten Journalisten aufgestiegen.

Doch so hoch wie Luciens Aufstieg, so tief ist sein Fall, den die Zuschauer*innen atemlos verfolgen. Wie fast jede packende Geschichte so ist auch Balzacs Trilogie »Verlorene Illusionen«, die Gianolli ansprechend, wenn auch ein wenig zu konventionell inszeniert, erstaunlich zeitlos.

Das gilt auch für das letzte Zitat Balzacs, das zwischen den rollenden Titeln unsere Aufmerksamkeit fesselt: »Ich denke an alle, die etwas in sich finden müssen, nach einer Zeit der großen Ernüchterung.« 2023 wäre doch ein ausgezeichneter Zeitpunkt, damit
zu beginnen.

»Verlorene Illusionen«: Frankreich 2021. Regie und Drehbuch: Xavier Giannoli. Mit: André Marcon, Benjamin Voisin, Cécile de France, Gérard Depardieu. 144 Minuten, Start: 22.12.

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