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Die heilige Geburtenrate
Extrem Rechte propagieren ein Familienbild, dem sie selbst nicht immer entsprechen, und eine Familienpolitik, die vor allem der Vermehrung dient
In einem linken, aufgeklärten Elternhaus sozialisiert worden zu sein, bedeutet keineswegs, dass man sich in seinem späteren Leben nicht reaktionären Ideen zuwenden kann. Ein Beispiel dafür ist Eugenia Roccella. Die heute 68-Jährige hat kaum noch etwas mit jener Feministin der 70er Jahre gemein, die ein Buch zur Verteidigung von Abtreibungen verfasste, Gewalt gegen Frauen bekämpfte und 1979 für die Partito Radicale kandierte, eine frühere linksliberale Partei in Italien.
Rocella wäre heute nicht Ministerin im Kabinett von Premierministerin Giorgia Meloni, hätte sie nicht schon vor Jahrzehnten radikal mit ihren einstigen Überzeugungen gebrochen. Längst ist die Politikerin Frontfrau eines christlich-fundamentalistisch begründeten Antifeminismus; Rocella gilt als Anhängerin des sogenannten Theokonservatismus, einer politischen Ideologie, die eine Umsetzung religiöser Überzeugungen in der politischen Alltagspraxis fordert. Für die strenge Katholikin Rocella heißt da: Abtreibung lehnt sie ab, ebenso Leihmutterschaft, ein Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare und das Recht auf eine eingetragene Partnerschaft, das in Italien erst seit 2016 existiert.
Worin der Schwerpunkt ihrer Arbeit im Kabinett Meloni besteht, machte Rocella gleich mit Antritt der neuen Regierung symbolisch deutlich. Das ihr unterstellte bisherige Ministerium für Chancengleichheit und Familie wurde in Ministerium für Familie, Geburtenrate und Chancengleichheit umbenannt.
Rocella spricht davon, »die Frauenfrage« in den Mittelpunkt zu stellen, gemeint ist hier vor allem die Betonung der Mutterschaft. Dass Italien ein demografisches Problem hat, die Bevölkerung immer älter wird, während es an jungen Menschen fehlt, bezweifelt niemand. Weil die Faschistin Meloni und ihre extrem rechte Regierung Migration als Gefahr und nicht etwa als Teil der Lösung betrachten, sollen die Italienerinnen wieder mehr Kinder bekommen. Die vermeintliche Lösung: ein Sozialprogramm, das mehr Kindergeld und Steuerentlastungen für die Mittelschicht verspricht, während es den Ärmsten an den Kragen geht. Das erst 2019 eingeführte Bürgereinkommen – vergleichbar mit Hartz IV – soll weitestgehend ersatzlos wieder abgeschafft werden. Wer arbeiten kann, soll keine staatliche Unterstützung mehr erhalten.
In ihrer Antrittsrede Ende Oktober betonte Meloni, nur die Förderung der Familie könne die »demografische Eiszeit« beenden. Familie heißt für die 45-Jährige indes nur das, was die katholische Kirche darunter versteht, also Vater, Mutter, Kind(er). Wenig überraschend versuchten 2016 vor allem reaktionäre Gruppen, die Einführung der rechtlichen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften zu verhindern. Landesweit kam es damals zu Protesten, an denen sich zehntausende Menschen beteiligten.
Wirklich im Einklang mit dem selbst propagierten Familienbild lebt aber nicht einmal Meloni: Die Katholikin ist unverheiratet, führt aber seit Jahren mit dem Journalisten Andrea Giambruno eine Partnerschaft, beide haben eine Tochter. Für besonders fundamentalistisch eingestellte Christ*innen ein Graus, wenngleich selbst Papst Franziskus schon 2016 erklärte, ein unverheiratetes Paar mit Kind sei besser als ein verheiratetes Paar, das sich wieder trennt. Eine vorsichtige Öffnung hin zur Akzeptanz anderer Lebensentwürfe.
Bei Alice Weidel hingegen würde die zaghafte Aufgeschlossenheit des Papstes an ihre Grenzen stoßen. Ein Blick in ihre Biografie wirft die Frage auf, wie es die 43-Jährige an die Spitze der AfD geschafft hat und warum sie sich an der Basis großer Beliebtheit erfreut. All diese Widersprüchlichkeit drückte Weidel vor Jahren so aus: »Familienpolitische Sprecherin werde ich bestimmt nie werden.« Und: »Ich mache das auch für meine Kinder.«
Die zweite Bemerkung klingt wie eine platte Politfloskel, in ihrem Fall aber ist der Hintergrund interessant: Weidel lebt in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft mit der Schweizer Film- und Fernsehproduzentin Sarah Bossard, die aus Sri Lanka stammt. Das Paar hat zwei Söhne. Dies ist eine Konstellation, die in keiner Weise dem entspricht, was die AfD propagiert. Im Bundestagswahlprogramm 2021 hieß es im Kapitel über Familienpolitik unmissverständlich: »Die AfD bekennt sich zur Familie als Keimzelle unserer Gesellschaft. Sie besteht aus Vater, Mutter und Kindern.« Von linksgrüner Seite werde »die Institution Familie aus ideologischer Motivation heraus diskreditiert, um sie durch andere Leitbilder zu ersetzen«. Begriffe wie Homosexualität und gleichgeschlechtlich tauchen im gesamten Programm erst gar nicht auf. Es gehört keine Kreativität dazu, diese Leerstelle im Kontext der behaupteten »herrschenden, familienzersetzenden Politik« zu sehen.
Wenig überraschend gibt es erhebliche Überschneidungen zwischen der Familien- und Sozialpolitik der AfD und den Vorstellungen von Melonis Fratelli d’Italia. Auch Deutschlands extreme Rechte fordert eine »geburtenfördernde Familienpolitik«, die ideologisch stark aufgeladen ist. Die Formulierung »Familie als Keimzelle der Gesellschaft« meint die Partei nahezu wörtlich. Würde »die demografische Katastrophe« nicht gestoppt, stehe am Ende »der Zusammenbruch der sozialen Sicherungssysteme und letztlich unserer kulturellen Identität«. Björn Höcke drückte es 2017 noch drastischer aus. Auf Twitter schrieb der Thüringer Faschist: »Familie ist Keimzelle unserer Nation. Die AfD bekennt sich zur traditionellen Familie von Vater, Mutter & möglichst vielen Kindern!« Die NS-Propaganda im Dritten Reich postulierte die Familie übrigens als »Keimzelle der Volksgemeinschaft«.
Im AfD-Wahlprogramm von 2021 zeigt sich, wie die Partei Familien- und Sozialpolitik mit nationalistischem Pathos verknüpft. Durch den Ausbau des »Sozialstaates mit Hilfeleistungen für alle Lebenslagen« hätte sich die Einstellung der Bürger*innen »zum eigenen generativen Verhalten« fundamental geändert. Verloren gegangen sei »die Vorstellung von der eigenen Familie auch als generationsübergreifende Wirtschafts- und Versorgungsgemeinschaft«. Weniger verklausuliert ausgedrückt: Weil der Staat in seiner Sozialpolitik auch andere Lebensentwürfe als das des heterosexuellen Paares mit Kindern unterstützt, sterbe Deutschland langfristig aus.
Diese kurze Passage erklärt die insgesamt sozialstaatsfeindliche Politik der AfD, etwa auch ihre strikte Ablehnung des ab 2023 neu eingeführten Bürgergeldes, die Partei fordert schärfere Sanktionsmöglichkeiten und 15 Wochenstunden Pflichtarbeit für alle Menschen, die länger als sechs Monate Grundsicherung beziehen. Das alles ähnelt frappierend Melonis Plänen zur weitestgehenden Abschaffung des italienischen Bürgereinkommens. Ähnlich sieht es mit den Vorschlägen zur Familienpolitik aus, in deren Zentrum auch bei der AfD die steuerliche Entlastung der Mittelschicht steht. Ebenso wird eine Begünstigung bei der Rente für Eltern angestrebt.
Auswirkungen hat das alles auch auf das von der AfD propagierte Rollenbild der Frau. Zwar betont zwar die Partei in ihrem Bundestagswahlprogramm, Frauen sollten »genauso wie Männer entscheiden dürfen, welchen Lebensweg sie einschlagen, ohne mit gesellschaftlicher Ächtung rechnen zu müssen«, doch gemeint ist dies eher nicht im Sinne der Unterstützung ihrer Selbstverwirklichung in verschiedenen Lebensentwürfen. Die AfD schreibt sogar ausdrücklich, es sei der »linke Zeitgeist«, der die Frauen ächte. Gemünzt ist dies auf Frauen, die sich vor allem als Mutter definieren, die AfD spricht von der »Würdigung traditioneller Lebensentwürfe« und der »Wertschätzung der Lebensleistung von Frauen, die Familien gründen und Kinder großziehen«.
Anders als etwa noch die NS-Ideologie, die Frauen aus vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens verdrängte und stark auf die Rolle als Mutter am Herd reduzierte, suggeriert die extreme Rechte heutzutage eine gewisse Form von Entscheidungsfreiheit, wenngleich die Mehrheit konkreter politischer Forderungen darin besteht, reaktionäre Familienbilder zu stärken. So kann die AfD problemlos die stärkere Förderung von Betriebskindergärten fordern und gleichzeitig behaupten, »Kinder sollten frei von Indoktrination aufwachsen, bis sie in der Familie gefestigt und alt genug sind, sich den Problemen unserer Welt zu stellen«. Konkret bedeutet dies unter anderem die Einführung eines Betreuungsgeldes für die ersten drei Lebensjahre eines Kindes sowie die Forderung nach einer »Steuer- und Abgabenpolitik, die es Familien ermöglicht, auf Wunsch auch mit nur einem Erwerbseinkommen eine Familie zu ernähren«. Welcher Elternteil einer Erwerbsarbeit nachgeht und welcher daheim bleibt, lässt die AfD hier offen. Dass Frauen gemeint sein dürften, ist mehr als naheliegend.
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