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- Marieke Lucas Rijneveld
Steinbruch in Versen
Die Heimat der anderen: Mit »Kalbskummer. Phantomstute« liegen nun gleich zwei Lyrikbändedes großen niederländischen Stilisten Marieke Lucas Rijneveld vor
Mit gerade einmal 31 Jahren ist der Autor bereits der große Star der niederländischen Literatur. Marieke Lucas Rijneveld gewann 2020 für sein Debüt »Was man sät« den International Booker Prize, als jüngster Preisträger aller Zeiten. Der Roman erzählt die düstere Geschichte einer Bauernfamilie, die nach dem Tod des ältesten Sohnes implodiert. Während die Eltern sich in sich selbst zurückziehen, gehen die junge Erzählerin und ihre Geschwister an ihrer Traurigkeit zugrunde. Harter Stoff war das, Rijneveld gewährte Einblick in den Horror verlassener Kinderseelen.
Eine Prosa von solcher Tiefe, Brillanz und Schwärze gibt es selten zu lesen, Rijneveld konnte sich also nur selbst übertreffen, was ihm mit »Mein kleines Prachttier« dann auch gelang. Ein Landarzt verfällt darin einer 14-jährigen Bauerntochter, missbraucht sie und redet sich selbst ein, es wäre Liebe. Wie eine Welle fährt die meisterhaft rhythmisierte Sprache hier über den Leser hinweg und reißt ihn mit in eine Geschichte, in dessen Verlauf das Opfer nicht so hilflos wie der Täter erbärmlich wirkt. Dieser Roman glich stärker der Musik als der Literatur, war perverser Minnesang.
Nun erscheinen – übersetzt von Ruth Löbner – gleich zwei der drei Lyrikbände des Autors in einer zweisprachigen Ausgabe: »Kalbskummer«, seine erste Buchveröffentlichung aus dem Jahr 2015, und »Phantomstute« (2019). Leser der Romane finden darin thematisch viel Bekanntes: Trauer, Sehnsucht, Sexualität, Kindheit, das Landleben. Die Texte sind oft auf Bauernhöfen verortet, in unglücklichen Familien, inmitten gefährdeter Heranwachsender und immer wieder auf einer Schwelle: »Ich entwerfe Tiere, die halb Mensch, halb Tier / und sich dessen bewusst sind, ich mache das Böse zum Opfer, die Angst zum / Helden.«
Rijneveld erzählt von verhinderten Übergängen, von Metamorphosen, die, selbst wenn sie glückten, immer mit Zweifeln behaftet bleiben, dann wieder mit der metaphysischen Skepsis, ob überhaupt etwas zu werden erstrebenswert sein kann oder ob nicht eigentlich jener Ort der beste wäre, an dem man noch nichts sein muss. »Je mehr Raum wir bekommen, desto kleiner das Angebot«, heißt es, und: »für mich gibt es keinen Rahmen, in dem ich mich zügeln muss, ich will überall raus«.
Einige der Gedichte rufen die Kindheit als ein Paradies hervor, das seine Eigenheit dadurch erhält, dass in ihr noch alles offen ist, in der ein Traum noch nicht dadurch defizitär erscheint, dass er sich von der Wirklichkeit unterscheidet. Doch ging dieses Wunschland bereits vor seiner Zeit verloren. Das lyrische Ich sehnt sich zurück an den Tag, da ein Bruder noch lebte. »Als sie ihn abholen kamen, stand Vater in seinem Overall halb vornübergebeugt / mit dem Kopf zwischen den Stäben des Treppengeländers, Schweißperlen wie / Noppenfolie auf der Stirn, wenn du hart arbeitest, verbrennst du im Laufe der Zeit / deine Tränen, rief er.«
Es sucht auch nach einem Zuhause, nach einer Heimat für die anderen in den eigenen ausgestreckten Armen: »so weit, dass das Bersten meines Brustkorbs zu hören war an den Abenden / wenn meine Mutter auf Pantoffeln die Wendeltreppe nach oben schlich, ängstlich fragte / wie lieb ich sie hatte«. Hoffnungslos dagegen der Versuch, in der ersten eigenen Wohnung das Alleinsein zu kompensieren! »Hab sogar Tischsets gekauft gegen Ränder im Holz, gegen Erinnerungen an Einsamkeit«.
Mehrere Texte sind an ein Du gerichtet, stets sind sie an Kontakt interessiert, teils scheint es, als wollten sie nicht nur berühren, sondern selbst berührt werden. Wer mag, darf biografische Bezüge suchen und sie zum Beispiel im Geschlecht des Autors entdecken, der, als Tochter eines Landwirts geboren, zwischenzeitlich für sich das neutrale Pronomen »they« nutzte, den Zweitnahmen »Lucas« annahm und inzwischen die männliche Bezeichnung bevorzugt: »Finale für Vater, der in dem Tonfall, mit dem er die Schafe zwischen vier Zäune bugsiert, sein / Kind zum ersten Mal Sohn nennt«.
Auch die Genderthematik ist bereits aus dem letzten Roman bekannt, wie einem auch zumeist Ton und Ausdruck dieser Gedichte vertraut vorkommen. Jedoch, und das ist eine unerwartete Erkenntnis, wirken sie weniger zwingend als Rijnevelds Prosa. Der Rhythmus stolpert mitunter, die Stilmittel wiederholen sich, die Bilder erreichen nicht die bekannte Schärfe. Wenn die Romane wesentlich durch ihren poetischen Charakter fesseln, so tragen die Gedichte schwer an ihrem Wunsch, Geschichten zu erzählen.
Die schweren Szenen von Trauer, Liebe und vergangener Kindheit, die der Autor hier auffährt, erreichen nur einen geringen Mehrwert durch die Verdichtung der lyrischen Form. Vielmehr erwecken die Texte den Eindruck eines Steinbruchs, einer Materialsammlung, aus dem die Prosa ihren Reichtum bezieht, der hier aber noch ganz ungeschliffen vorliegt. Fans des Autors dürfte dieser Band gleichwohl die Wartezeit bis zum nächsten Roman verkürzen, gewährt er doch Einblicke in die Werkstatt eines der großen Stilisten seiner Generation.
Marieke Lucas Rijneveld: Kalbskummer. Phantomstute. A. d. Niederländ. v. Ruth Löbner. Suhrkamp Verlag, 223 S., geb., 25 €.
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