Motiviert im Hamsterrad

Im Kapitalismus überdauern viele Formen des Aberglaubens und wirken stabilisierend

Bei »Aberglauben« denkt man an Hexen und Waldgeister, an magische Gesten und Dinge. Die Wirtschaft hingegen scheint von Rationalität beherrscht, von nackten Zahlen und kaltem Nutzenkalkül. Hier ist kein Platz für imaginierte Mächte, könnte man denken, denn die Logik des Marktes bestraft Irrtümer und lässt auf Dauer keinen Raum für irrationales Handeln. Tatsächlich aber überdauern mitten im Kapitalismus zahlreiche Formen des Aberglaubens und wirken stabilisierend – gerade in Krisenzeiten.

Ökonom*innen beschäftigen sich eher selten mit Aberglauben. Eine Studie der University of Hongkong aus dem Jahr 2009 führt grobe Schätzungen auf, nach denen US-Unternehmen an jedem Freitag den 13. zwischen 800 und 900 Millionen Dollar entgehen, da an diesen Tagen viele Menschen vorsichtig agieren. Laut der Otis Elevator Company, dem größten Aufzughersteller der Welt, verzichten etwa 80 Prozent aller Aufzüge auf den 13. Stock. Einige Airlines lassen die 13. Sitzreihe aus. In Gegenden mit großer chinesischer Bevölkerung erzielen Wohnungen im 8. Stock höhere Preise als in anderen Stockwerken, da die 8 in China Glück verspricht. Ähnliches gilt für Autokennzeichen, bei denen einige Zahlenfolgen billiger sind, zum Beispiel jene, die die Unglückszahl 4 enthalten. »Aberglauben beinhalten einen ökonomischen Wert«, schließen Travis Ng und Kollegen von der University of Hongkong.

Aberglaube-Serie

Mit Silvester endet die Zeit zwischen den Jahren, es ist die Zeit der Wunder und des Aberglaubens. Da schlechte Zeiten Aberglauben nähren und die Zeiten vorerst wohl nicht besser werden, werfen wir in unserer Silvesterausgabe einen Blick auf den boomenden Markt für Esoterik und Heilkristalle, untersuchen die Verbindung von Aberglauben zu rechtem Gedankengut und lassen Theodor W. Adorno den Kapitalismus aus Horoskopen erklären.

Alle Texte unter: dasnd.de/aberglaube.

Aberglauben und aus ihm folgende Handlungen stellen den Versuch dar, das eigene Schicksal zu beeinflussen – und sei es nur durch habituelles Daumendrücken. Ausgehend von einem Gefühl der Machtlosigkeit und des Ausgeliefertseins soll durch Appelle an höhere Wesen und die Befolgung magischer Regeln ein Stück Kontrolle erlangt werden. Das Gefühl des Ausgeliefertseins existiert auch in ökonomischen Zusammenhängen und zeigt sich hier in zahlreichen Wetter-Metaphern (»Dunkle Wolken am Konjunkturhimmel«) oder gebiert Börsenregeln wie »Sell in May and go away« (Verkaufe im Mai und verschwinde). Da Aberglaube das Bedürfnis nach Kontrolle befriedigt, ist es kein Wunder, dass er in schlechten Zeiten zunimmt. Zahlreiche Studien zeigen, dass die Menschen in Krisen abergläubischer (und gläubiger) werden. Denn Unsicherheit und Gefahr schaffen vermehrten Bedarf an Erklärung und Steuerungsmöglichkeiten.

Das Glück und sein Schmied

Eine verbreitete Form des Aberglaubens, die als solche allerdings meist nicht erkannt wird, ist der Glaube an sich selbst. In Sätzen wie »Jeder ist seines Glückes Schmied« oder »Du kannst es schaffen, wenn du nur willst« wird dem Willen die übernatürliche Kraft zugeschrieben, den Erfolg in der Konkurrenz um Jobs und Einkommen zu gewährleisten. Objektiv betrachtet ist dies zwar unzutreffend – da der Wettbewerb stets Gewinner und Verlierer produziert, kann nicht jeder »es« schaffen. Gegen diese Wahrheit ist der (Aber)glaube an sich selbst jedoch immunisiert, da jeder Misserfolg in der Konkurrenz zirkulär damit erklärt werden kann, dass es offenbar an Willen zum Erfolg gefehlt habe.

Dass Wille, Einstellung und Gefühle über ökonomischen Erfolg und Misserfolg entscheiden, dass Krisen im Kapitalismus mithin keine Notwendigkeit sind, sondern Folge der menschlichen Psyche und damit vermeidbar – diese Annahme gibt es auch als Konjunkturtheorie. In ihrem Ausgangspunkt verfügen die Menschen über bestimmte »Neigungen«: Investitionsneigung, Konsum- und Sparneigung, die in ihnen quasi angelegt sind. Diese Neigungen werden durch die Umwelt aktiviert: »Die Freude am Sparen steigt laut Union Investment mit dem Besitz von chancenreicheren Anlageformen«, berichtet »AssCompact«, das Fachmagazin für Risiko- und Kapitalmanagement. Laut tagesschau.de ist im Dezember die »Anschaffungsneigung« der Deutschen zwar wieder etwas gestiegen. Allerdings »verderben hohe Preise die Konsumlaune« weiter, was insofern eine bemerkenswerte Erklärung ist, da hier nicht mehr die schrumpfende Kaufkraft der Menschen die Ursache für den schwachen Konsum ist, sondern die durch die Schrumpfung verdorbene Laune.

Von großer Bedeutung in dieser Gefühlsökonomie ist die »Investitionsneigung« der Unternehmen. Abhängig ist ihre Ausprägung von der »Risikobereitschaft« der Unternehmer sowie ihren »Erwartungen«. Sind die Erwartungen rosig, wird investiert und produziert und Wachstum geschaffen. In diesem Sinne für bedenklich hält daher Ed Jones vom Portal »World Economics« das im Dezember gesunkene »Geschäftsvertrauen« der globalen Einkaufsmanager. Und die Europäische Zentralbank mahnte: »Die Unsicherheit ist groß und das Vertrauen sinkt rapide.« Erste Aufgabe der Politik sei es daher, das Vertrauen der Unternehmer wieder herzustellen, insbesondere dadurch, dass die »Inflationserwartungen« stabilisiert werden. Denn nach geltender Theorie haben diese Erwartungen starken Einfluss auf die Inflationsrate.

Die Macht des Willens

Glück und Unglück – Motiviert im Hamsterrad

Neigung, Laune, Bereitschaft, Erwartung – so wird aus dem globalen Kapitalismus eine Art Selbsthilfegruppe gemacht, in der sich gegenseitig Mut zugesprochen wird. Dahinter steht der Glaube daran, dass es die Gefühle der Menschen sind, die das Auf und Ab der Konjunktur bestimmen. Pessimismus führt hier zu Investitions- oder Konsumzurückhaltung und damit in den Abschwung. Optimismus dagegen sorgt für Aufschwung, wobei nicht übertrieben werden darf, da zu rosige Erwartungen zu Überinvestitionen und Krisen führen.

So macht diese Form des Aberglaubens alle kapitalistischen Bedingungen zu menschlichen Stärken und Schwächen: Profitmaximierung wird zu einer Folge der Erwerbsneigung, Wachstumszwang zu einer Folge unendlicher menschlicher Bedürfnisse und Krisen zu einer Folge blinder Gier. Dieses Weltbild ist sozial befriedend. Denn erstens nährt es für Einzelpersonen wie für die Gesellschaft die Kontrollillusion, also den Aberglauben daran, man könne durch Willen und Wünschen Berge versetzen. Zudem wird gewährleistet, dass alle sich maximal anstrengen im großen Hamsterrad des Wachstums. Scheitern und Misserfolg führen nicht zum Aufstand gegen das System, sondern zur Introspektion und zur Analyse menschlicher Makel.

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