- Kultur
- Bertolt Brecht
Wie Brecht in die UdSSR und die UdSSR zu Brecht kam
Wer mit der Geschichte des Kommunismus nicht vertraut ist, wäre vermutlich erstaunt, wie ambivalent das Verhältnis vieler linker Künstler zur Sowjetunion war. So auch im Fall von Bertolt Brecht
Jedes Mal, wenn man über Bertolt Brecht und die Sowjetunion spricht, fällt der Satz: »Lunatscharski hat Brecht für die Sowjetunion entdeckt.« 1928 sah er eine Aufführung der »Dreigroschenoper« im Schiffbauerdamm-Theater in Berlin. Natalia Rosenel, die Frau von Anatoli Lunatscharski, eine Schauspielerin und Salonschönheit mit ganz und gar bürgerlichen Gefühlen, schrieb darüber in ihren frivolen und vorsichtigen Memoiren. Es gibt dort ein Kapitel »Lunatscharski und Brecht«, in dem sie genau diese Begegnung unmittelbar nach der Aufführung in Brechts Wohnung beschreibt:
Irina Rastorgueva, 1983 in Juschno-Sachalinsk geboren, studierte Philologie an der Staatlichen Universität Sachalin und arbeitete als Kulturjournalistin, Autorin und Dramaturgin. Seit 2017 ist sie in Berlin frei als Dramaturgin und Regisseurin tätig und schreibt u. a. für die »Berliner Zeitung«, die »FAZ« und das Magazin Osteuropa. Derzeit arbeitet sie an einem Puppenfilm über das Leben der Schauspielerin Carola Neher und ihrem nächsten Buch mit dem Titel »Propagandapopupbook«.
»In der Pause kam der Schriftsteller Bertolt Brecht auf Anatoli Wassiljewitsch zu, den er zuvor bei den Abenden der VOKS und der Gesellschaft der Freunde des sowjetischen Russlands getroffen hatte. So wie sein Name auf den Notenblättern seiner Lieder stand, so nannten ihn seine Freunde und Bekannten: Die Verkleinerungsform ›Bert‹ passte sehr gut zu ihm. Er sah aus wie ein junger Student oder Doktorand (er war damals 28), aber nicht wie ein deutscher oder preußischer Student, sondern eher wie ein russischer Student, der unter seiner alten Litewka ein traditionelles russisches Hemd trug. Dunkles Haar, schlankes Gesicht, mit regelmäßigen, etwas spitzen Zügen, in denen ein plötzliches, deutliches Lächeln aufblitzte. Er trug eine kleine Brille mit Metallrand – die Brille eines alten Mannes, die weder zu seinem jungen Gesicht noch zu seiner schlanken, jugendlichen Figur passte. Diese Nickelbrillen sahen damals, im Jahr 1928, besonders altmodisch aus, als riesige Hornbrillengestelle auf allen Gesichtern, ob männlich oder weiblich, auftauchten, selbst bei denen mit perfekter Sehkraft. … In einer der Straßen, die den Kurfürstendamm kreuzen (Fasanenstraße, glaube ich), fanden wir das Haus, das wir suchten. Der Eingang war vom Hof aus zu erreichen – Brecht hatte mir alles genau erklärt –, es war nicht nötig, die Nummer abzulesen, wir mussten durch den Torbogen und dann den siebten Stock erklettern. Und hier, auf der Stiege, befinden wir uns auf einer Holztreppe, die ungewöhnlich steil und schmal ist; einen Fahrstuhl gibt es nicht. ›Etwas à la Murger! Wunderbar!‹, sagte Anatoli Wassiljewitsch leicht keuchend (sein Herzleiden hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits verschlimmert).
Ich war verwundert: Ich hatte mehr als einmal deutsche Schriftsteller und Journalisten besucht, von denen die meisten weniger berühmt waren als Bertolt Brecht, und ich wurde überrascht von überlegtem Komfort und oft auch Reichtum ihrer Wohnungen. Und hier … tatsächlich: Szenen aus dem Leben der Bohème.
Der Mieter selbst öffnet die Tür; er trägt einen Strickpullover und dieselbe kleine Metallbrille. Nein, hier sieht es nicht nach ›Murger‹ aus. Vor uns liegt ein großer, sehr großer, auffallend sauberer und heller Dachboden, der an ein Maler- oder Bildhaueratelier erinnert, nur dass dort statt Rahmen und feuchtem Ton mehrere große unbemalte Tische stehen und überall Bücher, viele Bücher – deutsche, französische und englische. Einige Freunde besuchen den Dichter. Ich erkenne eine populäre Schauspielerin, einen bekannten ›linken‹ Architekten, einen gebürtigen Magyaren; einige der Gesichter sind uns nicht bekannt. Die Männer tragen Straßen-Anzüge, die Frauen Strickkleider (es ist nicht zu warm auf dem Dachboden). Zunächst bin ich ein wenig verlegen über diesen Widerspruch zu unserer ›Dekoration‹: Wir kommen direkt von einem offiziellen Besuch. Aber niemand schenkt dem Beachtung, und nach zehn Minuten werfe ich meinen Hut und meine Handschuhe auf den Tisch und helfe beim Verteilen der Tassen für den Tee. Ich werfe einen Blick auf die Umgebung und stelle fest, dass dies ein sehr guter Arbeitsplatz sein muss – so viel Platz und keine dekorativen Möbel, nichts Überflüssiges.
Hier kann der Dichter von Ecke zu Ecke schreiten und über neue Zeilen nachdenken, ohne seinen Schritt zu verkürzen. ›Wie viele Minuten gehen Sie in Ihrem Studio umher?‹ Lunatscharski scherzt. Er diktiert sich gerne selbst, indem er im Zimmer herumläuft.
Zum Tee gibt es Zitrone, geröstetes Brot, trockene Kekse, die jemand aus Amerika als Geschenk für Brecht mitgebracht hatte.«
Gemischte Aufnahme in Moskau
So entdeckte der Politiker und Literaturkritiker Lunatscharski in seinem letzten Jahr als Kommissar für Volksbildung schließlich Brecht für die Sowjetunion. Ein Jahr später erhält Alexander Tairow, als er in Berlin auf Tournee ist, die »Dreigroschenoper« vom Autor und plant, sie in seinem Kammertheater als Bettleroper aufzuführen. In seinem Buch »Aus den Notizen eines Schauspielers des Tairow-Theaters«, Kapitel »Die Bettleroper«, schreibt Juri Chmelnizkij, der Schauspieler, der die Rolle des Mackie Messer spielte, dass das Moskauer Theater der Satire irgendwie auch an Brechts Stück gekommen war. Und jedes Theater war überzeugt, dass nur es allein das Recht hatte, das Stück aufzuführen! Tairow konnte aber nachweisen, dass das Stück wie für das Kammertheater gemacht worden war – theoretisch, denn so las es sich: Tairows »Theater war ein synthetisches Theater, das eine Reihe von Komödien, Satiren und Musikstücken aufgeführt hatte, und die Schauspieler waren in der scharfen Rollenzeichnung geübt. Außerdem war das Bühnenbild, das auf dem Entwurf der Brüder Stenberg basierte, fast fertig. Schließlich hatte Tairow noch ein weiteres starkes Argument auf Lager. Als er in Berlin war, kaufte er eine Reihe von Musikinstrumenten, die es dem Orchester ermöglichten, Jazz-Intonationen in die Musik einzubringen, wie es die Partitur von Kurt Weill vorschreibt. In jenen Jahren war Jazz in unserem Land nicht populär und solche Instrumente kaum zu bekommen.«
1930 lernt Brecht Sergej Tretjakow und Wsewolod Meyerhold kennen. Und 1932 kommt er in Begleitung von Slatan Dudow zur Premiere des Films »Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt?« ins sowjetische Moskau. Zur gleichen Zeit besuchte er eine Vorstellung von »The Beggar’s Opera«. Bernhard Reich, Brechts Freund und Mitarbeiter an dem Stück »Leben Eduards des Zweiten« 1923 in München, schreibt in seinen Memoiren: »Ich habe die Inszenierung von Tairow nie gesehen, aber Asja Lācis sah sie mit Brecht und sie mochte die Moskauer Inszenierung nicht besonders. Tairow habe Brechts ›kulinarische‹ und doch mörderisch scharfe Satire in eine Vorstellung verwandelt, die in Rhythmus und Tempo der Tänze in einer Musikhalle gespielt wurde. Und um politische Missstände zu beseitigen, drehte er in einigen Szenen, die den moralischen ›Verfall‹ der Bourgeoisie köstlich zur Schau stellten, besonders auf. Brecht war nachsichtig, weil Tairow der erste Regisseur in der Sowjetunion war, der die Dreigroschenoper übernahm. ›Und das‹, sagte Brecht, ›ist im Augenblick das Wichtigste‹. … 1965 saß ich in einem überfüllten Konferenzraum der WTO, in dem eine Publikumssektion tagte, um über Moskaus Brecht-Inszenierungen zu diskutieren. Unter den Rednern, die meisten von ihnen junge Männer, erschien ein älterer – er muss um die 50 gewesen sein – und sagte: ›Ich bin seit 1930 ein Anhänger Brechts. Es ist passiert, nachdem ich die großartige Inszenierung von Tairows Bettleroper gesehen hatte. Ich erinnere mich, dass das Publikum sehr gespalten war: Ein Teil schimpfte über Brechts obszön-scharfe Aphorismen, verließ während der Vorstellung den Saal und schlug die Türen lautstark zu. Wir Studenten dagegen waren begeistert, aufgewühlt von der unbeirrten Wahrhaftigkeit des deutschen Dichters.‹«
Der Film »Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt?« wurde vom Moskauer Publikum sehr kühl aufgenommen. Bernhard Reich erinnerte sich an die Reaktion der Zuschauer: Sie erwarteten einen Spielfilm mit umwerfenden revolutionären Ereignissen von großartigen deutschen revolutionären Künstlern. Doch »Kuhle Wampe« schien ein Dokumentarfilm zu sein – der Einfluss von Dsiga Wertows Methode war zu offensichtlich. Zu dieser Zeit wurden Wertow und die gesamte faktenbasierte Strömung in der Kunst mit Misstrauen betrachtet.
Einige Episoden des Films verwirrten das Publikum. Der sowjetische Leser oder Zuschauer stellte sich die Arbeitslosigkeit auf sehr einfache Weise vor: In Lumpen gekleidete Menschen ziehen verrottete, schmutzige Kartoffeln aus den Mülltonnen. Sie leben in einer Barackensiedlung und ihr Leben ist düster. Und im Film ist dann ein arbeitsloser junger Mann zu sehen, der den Glauben an bessere Zeiten verloren hat und Selbstmord begeht, aber eine Uhr und ein Fahrrad besitzt. Nach den damaligen Indikatoren der Sowjetunion handelt es sich um einen wohlhabenden Mann. Einige meinten: »Was will er eigentlich? Lasst ihn seine Uhr und sein Fahrrad verpfänden.«
Eine politisierte Gesellschaft
In den frühen 1930er Jahren galt Moskau als Theatermekka. Stanislawski, Nemirowitsch-Dantschenko, Meyerhold, Tairow und viele talentierte junge Regisseure arbeiteten hier: Alexej Popov, Juri Sawadski, Konstantin Simonow, Nikolai Ochlopkow und andere. Die ausgewanderten Revolutionäre und Kommunisten wurden immer noch mit Gastfreundschaft empfangen, und es schien, dass alles gerade erst begann – gerade erst geschaffen wurde. Viele Künstler und Literaten strömten in dieser Hoffnung nach Moskau, es entstand ein bedeutendes Zentrum der deutschen Emigration; Autoren, Komponisten, Schauspielerinnen und Schauspieler kamen: Erwin Piscator, Johannes R. Becher, Erich Weinert, Theodor Plievier, Ernst Ottwalt, Alexander Granach, Günther Wangenheim, Hans Rodenberg, Alfred Kurella, Lotte Loebinger, Carola Neher, Heinrich Greif, Maxim Valentin, Helmut Damerius und andere.
Die starke Politisierung der Bevölkerung, die durch Presse, Rundfunk und verschiedene Mittel der politischen Propaganda gefördert wurde, ging mit einem Rückgang des Interesses an Aufführungen des »politischen Theaters« einher, nicht nur in den großen Städten, sondern auch in der Provinz. Der erste sowjetische Schriftstellerkongress von 1934 definierte den sozialistischen Realismus als die wichtigste künstlerische Strömung, eine neue Religion mit ihren Helden, Märtyrern und Klassenfeinden. »Zweimal kam Brecht in die Sowjetunion, und hier suchte er eifrig nach Episoden unseres Aufbaus, die einen oxidierten Gedanken enthalten und gleichzeitig greifbare, konkrete Stücke unserer erstaunlichen sozialistischen Realität sind«, schreibt Tretjakow.
1935 organisierte der Internationale Revolutionäre Theaterbund, dem Piscator vorstand, die Fünfte Dekade der Revolutionären Kunst in Moskau, und Piscator lud Brecht, der inzwischen mit Helene Weigel Deutschland verlassen hatte, dorthin ein. Brecht ging in der Überzeugung nach Moskau, dass das »Weltproletariat … an einer Stelle eine riesige Anstrengung unternommen habe, nun schreitet es dort vor, leidet dort, zahlt für dort, hofft auf dort«, wie Ernst Schumacher 1981 in »Leben Brechts. In Wort und Bild« schreibt. Damals war Brecht noch davon überzeugt, dass die »große Ordnung«, wie er den Sozialismus nannte, nur auf diese Weise hergestellt werden könne.
Bei den Veranstaltungen der »Fünften Dekade« wurden Szenen aus Brechts Stücken und seine Songs gespielt. Er nahm an einem Galaabend in der Säulenhalle des Hauses der Gewerkschaften teil. Reich, der Leiter des MORT-Pressezentrums, berichtet von einem Empfang bei Bela Kun und einem Konzert zu Brechts Ehren im Thälmann-Klub, an dem die gesamte Blüte der deutschen Emigration sowie ihnen nahestehende Personen wie Tretjakow, Semjon Kirsanow und Michail Kolzow teilnahmen. Die drei Letztgenannten sollten bald verdrängt werden, ebenso wie viele der Gründer, Teilnehmer und Inspiratoren der revolutionären Kunst.
Deutsche Theater in der Ukraine?
Wilis Knorin, ein Mitglied des Präsidiums des Exekutivkomitees der Komintern, empfing Brecht. Er gab zwei Lesungen seiner Gedichte im Allunionsfunk in der Moskauer Funkstunde auf Deutsch und wurde von der Deutschen Zentral-Zeitung und der Roten Zeitung interviewt. In Leningrad, im Haus der sowjetischen Schriftsteller, wurde ein Brecht-Abend veranstaltet. Es wurden viele Pläne entwickelt und diskutiert. »Mit Joris Ivens, dann mit Gustav von Wangenheim verhandelte er über einen Dimitroff-Film, bei dem die Weigel eine Rolle übernehmen sollte … . Mit Piscator erörterte er die Gründung einer Film-Fabrik in der Stadt Engels, mit ihm und anderen Emigranten auch die Schaffung von deutschen Theatern in der Ukraine und in der Wolgarepublik, die seine Stücke spielen und der Weigel als Schauspielerin Arbeit bieten konnten.« Hätten sie wissen können, welches furchtbare Schicksal diese »Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen« erwartete?
Durch einen Beschluß des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 »Über die Umsiedlung der Russlanddeutschen« wurden eine halbe Million Wolgadeutsche nach Zentralasien und Sibirien geschickt. Im Gegensatz zu anderen deportierten Völkern durften die Deutschen nie in ihr Land an der Wolga zurückkehren, und Jahrzehnte später wurde Deutschland für die meisten von ihnen ihre neue Heimat. Aber sie glaubten immer noch an die Verwirklichung ihrer Pläne, obwohl Reich bitter feststellt, dass »die Treffen mit alten und neuen Freunden Brecht moralische Befriedigung verschafften und seinen Horizont erweiterten«, hatte auch dieser zweite Besuch in Moskau keine greifbaren Folgen: »Die russischen Theater behandelten ihn weiterhin ohne Neugier, gleichgültig.«
Tretjakow hatte Brecht und Ochlopkow, der 1935 Leiter des Realistischen Theaters war und das Moskauer Publikum mit seinen Bühnenexperimenten begeisterte, zusammengebracht: »Lacis und ich unterstützten Tretjakow, der darauf bestand, dass Ochlopkow die ›Heilige Johanna‹ in seinem Theater aufführt. Und so sagte Ochlopkow schließlich ›Ja!‹, und doch fand die ›Operation Johanna‹ nicht statt.« Das Realistische Theater wurde mit dem Kammertheater zusammengelegt und Ochlopkow verlor seinen Einfluss. Die Chance, Brechts grandiose Tragödie in Moskau zu inszenieren, war vertan. Doch auch das sozialistisch-realistische Theater machte wenig Eindruck auf Brecht und er beschloss, seinen Aufenthalt in der UdSSR, an den er von 1930 glückliche Erinnerungen hatte – die Eröffnung der Metro, »König Lear« am Jüdischen Theater mit Solomon Michoels, Nikolai Pogodins »Aristokraten«, inszeniert von Ochlopkow am Realistischen Theater und eine Aufführung des chinesischen Schauspielers Mei Lanfang – zu verkürzen.
Wunder Punkt Stalinismus
Brecht, der die Abgründe des faschistischen Regimes offen darstellte, verurteilte weder in den 1930er Jahren noch später die Verbrechen des Stalinismus, im Gegenteil, er blieb loyal. Wie David Walsh in »Ein Gespräch mit dem Brecht-Biographen Stephen Parker« schreibt, war Brecht »der Ansicht, dass der Stalinismus zu einem reaktionären Phänomen geworden war und dass Stalin sich mehr wie ein Monarch als wie der Führer einer marxistisch-leninistischen Revolution aufführte«. Brecht diskutierte diesen Komplex nur unter Freunden, seine Loyalität zum ersten durch eine Arbeiterrevolution entstandenen sozialistischen Staat war zu groß, als dass er seine Kritik nach außen getragen hätte. Eine Loyalität, die er später auf die DDR übertrug, auch, um sein Theater, das Berliner Ensemble, zu schützen. Und dass er in Westdeutschland oder Österreich, dessen Staatsbürger er war, ein eigenes Theater bekommen hätte, war in der Phase des noch frischen Kalten Krieges eher unwahrscheinlich.
Im Zug der Stalin’schen »Großen Säuberung« wurden Brechts Freunde und Mitarbeiter Sergei Tretjakow, Carola Neher, Ernst Ottwalt und Michail Kolzow umgebracht. Zum Gedenken an Tretjakow schrieb Brecht das Gedicht »Ist das Volk unfehlbar?«, in dem jede Strophe mit der Frage endet: »Gesetzt, er ist unschuldig?« Und er erinnerte in mehreren Gedichten an Carola Neher, um deren Freilassung er 1937 Feuchtwangers Hilfe erbat und nach deren Verbleib er sich auch 1954 während seines letzten Besuchs in Moskau bei staatlichen Stellen erkundigte. So wie er sich dort und von Berlin aus wiederholt auch um die Ausreise des noch nicht rehabilitierten Bernhard Reichs nach Ostberlin bemühte.
Der Einmarsch der Roten Armee in Polen nach der Unterzeichnung des Molotow-Ribbentrop-Pakts im September 1939 wurde von Brecht als ein Schlag gegen den Faschismus gewertet. Mit der Meinung, dass Hitler ein »Kriegsziel entrissen« würde, war Brecht nicht allein. Und was sein Kommentar »Die Rote Armee marschiert in Europa ein« an Zukunft alles umreißen sollte, konnte zu diesem Zeitpunkt niemandem klar gewesen sein. Im Entwurf einer Szene vom 19.9.1939 (die sich wie ein Prolog zu Heiner Müllers Szene »Panzerschlacht« aus »Germania 3« liest) lässt Brecht Stalin, Woroschilow, Molotow und Schdanow ihre Zweifel an der »neuen Freundschaft mit dem Räuber von der Spree« gegen einen Marschbefehl nach Polen abwägen. Zwischentitel: »Kreml. Nacht«.
Feindbild »Modernismus«
Offensichtlich musste Brecht etwas gegen das faschistische Regime unternehmen, und das Land des sich entwickelnden Kommunismus, das sich aus den Fängen des Kapitalismus befreit hatte, war dafür ideal geeignet. Brechts Dramaturgie der 1930er Jahre passte aber nicht in das Prokrustesbett des sozialistischen Realismus, seine Art zu schreiben, seine Schaffensmethode, sein »Materialbegriff« passten den Hütern der Ideologie und der Form – von denen Schdanow der oberste war – überhaupt nicht. Bereits 1934 wurde Brechts Name auf einer Sitzung des Politbüros von der Liste der aus dem Ausland zum »Ersten Kongress des Verbandes sowjetischer Schriftsteller« eingeladenen Gäste gestrichen. 1938 stufte ihn ein Kritiker als modernistischen Dekadenten ein. Vielleicht wegen dieser inneren Widersprüche sah Brecht keine für sich brauchbare Zukunft in der Sowjetunion voraus und wartete, durch verschiedene europäische Länder exilierend, auf ein Visum, um in die USA reisen zu können.
Im Frühjahr 1941 erhielt er das US-amerikanische Visum endlich, konnte aber nicht direkt von Finnland, wo er gelebt hatte, dorthin reisen, da die deutschen Truppen den Zugang zum Meer besetzt hatten. Die Führung in Moskau erlaubte ihm, das Land zu durchqueren und im Fernen Osten ein Schiff zu besteigen. Und dann – dann erinnerte man sich in der UdSSR kaum noch an Brecht. Im November 1941 und im Januar 1942 wurde sein Einakter »Der Ansager« aus dem Zyklus »Furcht und Elend des Dritten Reiches« im Lenkom-Theater und im Theater des Mossowjet aufgeführt. Die anschließende Pause in den Beziehungen zwischen Brecht und der UdSSR sollte mehr als zehn Jahre dauern.
Der Text ist ein leicht bearbeiteter Aufsatz aus dem Band Thomas Martin/Irina Rastorgueva (Hg.): Russen/Brecht. Ansichten zum politischen Theater in Russland zwischen Stalin und Putin. Verbrecher-Verlag, 260 S., br., 28 €.
Ebenfalls von Irina Rastorgueva: Das Russlandsimulakrum. Kleine Kulturgeschichte des politischen Protests in Russland. Matthes & Seitz, 140 S.; digitaler Textdownload EPUB, 11,99 €.
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.