Wenn sie in Rudeln kommen ...

Ellen Brombacher über die Deutschen und die Verfolgung ihrer jüdischen Familie

  • Florian Weis
  • Lesedauer: 4 Min.
Bei der Silberhochzeit der Eltern, 1958 - das Mädchen Ellen in der Mitte
Bei der Silberhochzeit der Eltern, 1958 - das Mädchen Ellen in der Mitte

Der Verfasser dieser Rezension hat die Positionen von Ellen Brombacher, einer wichtigen Stimme der Kommunistischen Plattform in der Linkspartei und frühe Förderin von Sahra Wagenknecht, fast immer sehr kritisch betrachtet. Gleichwohl lohnt es sich, ihr neues Buch zu lesen. Gerade jene Passagen, die sich mit der Verfolgung, mit Flucht und Widerstand von Brombachers jüdischer Mutter Brunhilde Meyerstein (Hilde Harter) und ihres nichtjüdischen Vaters Ernst Harter sowie beider Familien befassen, von denen viele dem Nazi-Terror als Jüdinnen und Juden und/oder als Kommunist*innen zum Opfer fielen, sind einfühlsam beschrieben. Briefe, etwa jener von Ivan und Julie Meyerstein, Brombachers Großeltern, schildern das Schicksal der Familie eindrücklich. Am 21. März 1942 schrieb Ivan Meyeerstein: »Meine innigst geliebten Kinder! Es fällt mir schwer, Euch diesen Brief zu schreiben, aber es muss sein. Also, wenn nichts dazwischenkommt, (…) werden wir im Laufe dieser oder der nächsten Woche verreisen.« Die »Reise« führte in das Warschauer Ghetto und in den Tod. Viele andere Mitglieder der Familie Meyerstein überlebten die Shoah ebenfalls nicht.

Ellen Brombacher, 1947 geboren, wuchs in der Kleinstadt Westerholt im Ruhrgebiet auf, ehe sie mit ihrer Mutter dem Vater, der 1956, im Jahr des KPD-Verbots in die DDR übergesiedelt war, nach Ost-Berlin folgte. Antisemitismus, so schreibt sie, gab es in der DDR als »Bodensatz … und den haben wir zweifelsfrei unterschätzt«. Brombachers Hauptdeutung bleibt jedoch, dass Faschismus »der Ausweg für das Kapital [ist], wenn die Mechanismen der bürgerlichen Demokratie zur Herrschaftssicherung nicht mehr ausreichen. In der DDR war der Faschismus mit seinen ökonomischen Wurzeln ausgerottet worden. Allerdings war es ein Irrglaube, dass sich damit die Nazi-Ideologie automatisch erledige.« Freilich erklärt diese Faschismuserklärung unzureichend, warum andere kapitalistische Länder zwar koloniale Verbrechen begingen, aber nur Nazi-Deutschland einen systematischen Massenmord an sechs Millionen europäischen Jüdinnen und Juden verübte. Brombacher wehrt sich mit einigem Grund gegen eine Beschreibung der DDR als antisemitisch. Einen Slansky-Prozess wie in der CSSR 1952, eine mörderische Verfolgung jüdischer Ärzt*innen und anderer »Kosmopoliten« wie in der Endphase der Stalin-Herrschaft in der UdSSR, hat es in der DDR nicht gegeben. In einem unter anderem vom Rezensenten herausgegebenen Interviewband meinte Gregor Gysi hierzu: »Schlimmeres blieb (…) wohl erspart, weil dann Stalin starb und nach nicht allzu langer Zeit Chruschtschow dann begonnen hat, mit dem Stalinismus einigermaßen aufzuräumen. Bei Stalin spielte Antisemitismus aber bestimmt eine Rolle.«

Brombachers Buch gliedert sich in ein einleitendes Interview von Frank Schumann mit ihr, es folgen Kapitel über ihre Eltern, Großeltern und andere Verwandte, über KZ-Häftlinge und die Kraft der Solidarität. Ergänzt werden diese Schilderungen durch zahlreiche Briefe, Dokumente und Fotos der porträtierten Personen. Es folgen Schilderungen von Brombachers erster Auschwitz-Reise 2007 und des Lebens von Kurt Gutmann, der 2009 Nebenkläger im Verfahren gegen den Sobibor-Wachmann Iwan Demjanjuk war. Ein Nachwort von Reinhard Junge und Nachdrucke von verschiedenen Texten aus den Jahren 1998 bis 2010, darunter auch ein Beitrag von Brombacher aus dem »nd« 2009 beschließen das Buch.

Im Kapitel »Bremke bei Göttingen: die Wurzeln der Meyersteins« beschreibt Brombacher ihre Besuche ab 1999 in jenen Ort, aus dem die Familie ihrer Mutter stammte. Mit Unterstützung engagierter Bürger*innen gelang es ihr, die Geschichte ihrer Familie und anderer verfolgter und ermordeter Jüdinnen und Juden aus dem kleinen niedersächsischen Ort wieder in das Gedächtnis seiner Menschen zu bringen. Über die Spurensuche in Bremke und darüber hinaus lernte Ellen Brombacher in den letzten Jahrzehnten auch weitere Verwandte, Nachfahr*innen von Überlebenden kennen, Menschen in den USA und den Niederlanden, in Israel und Großbritannien, wohin einige mit den »Kindertransporten« bis 1939 entkommen konnten.

Ihre Mutter habe, so Brombacher, in der Rückschau auf die Zeit ihres Überlebenskampfes in Belgien zur Zeit der deutschen Besatzung, wo sie als Jüdin und Kommunistin ständig von der Deportation und Ermordung bedroht war, geäußert: »Wenn mich damals jemand gefragt hätte, ob ich je im Leben noch einmal Empathie für einen Deutschen empfinden würde, hätte ich sicher mit Nein geantwortet.« In den 90er Jahren, kurz vor dem Tod ihrer Mutter, sprachen beide erneut über die Deutschen, ausgelöst möglicherweise durch die Debatte um »Hitlers willige Vollstrecker« von Daniel Goldhagen. »›Glaubst du auch‹, fragte ich meine Mutter, ›dass die Deutschen ein besonders schlimmes Volk sind?‹ ›Nein‹, antwortete sie, ›außer, wenn sie in Rudeln kommen.‹‹‹

Ellen Brombacher hat ein Buch vorgelegt, das viele berührende Passagen und Kapitel enthält, die auch von Personen, die mit ihren politischen Schlussfolgerungen und Einstellungen nicht übereinstimmen, mit Interesse und Anteilnahme gelesen werden kann.

Ellen Brombacher: Deutsch-jüdisches Familienbild. Meine Kindheitsmuster und Prägungen, Verlag Neues Leben, 238 S., br., 18 €.

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