Ein Tempel für Erich

Zu Besuch bei den Heiligen der Letzten Tage in Sachsen und anderswo

  • Maximilian Schäffer
  • Lesedauer: 17 Min.
Thomas S. Monson überreicht 1988 die Heilige Familie an Erich Honecker
Thomas S. Monson überreicht 1988 die Heilige Familie an Erich Honecker

I.

Des mormonischen Glaubens wertvollste Gabe sind direkte Nachrichten von Gott. Jeder Heilige der Letzten Tage kann sie empfangen. Göttliche Eingebungen können im Erfolgsfall sogar durch das Wunder der Zungenrede verkündet werden. Existenzielle Entscheidungen zum Schicksal der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage spricht Gott ihren Oberhäuptern, einem Propheten und zwölf Aposteln, direkt ins irdische Bewusstsein. International und vor allem in den USA, wo sie 1830 gegründet wurde, heißt sie The Church of Jesus Christ of Latter-day Saints (kurz: LDS). Als sie 1978 ins rassismusfreie Brasilien expandiert, geschieht nach dem Zeugnis des Apostels Bruce R. McConkie in Salt Lake City folgendes Wunder:

Aus der Mitte der Unendlichkeit sprach Gott, mit der Kraft des Heiligen Geistes, zu seinem Propheten. Die Botschaft war, dass der Zeitpunkt gekommen ist, die Fülle des ewigen Evangeliums, mit celestialer Ehe und dem Priestertum und den Tempelzeremonien, allen Männern zu geben, ohne Verweis auf Volk oder Hautfarbe, nur auf persönlichen Wert. Und wir alle hörten dieselbe Stimme, bekamen dieselbe Botschaft und wurden persönliche Zeugen, dass die Offenbarung von Gott kam (Spencer W. Kimball: »Priesthood. Deseret Book«, 1981).

Seitdem dürfen schwarze Männer das Priesteramt bekleiden, sind Mischehen ohne »Rassenschranke« erlaubt, dürfen alle Hautfarben das Allerheiligtum, den Tempel, betreten.

Gott, das glauben die Mormonen wie jeder gute Christ, liebt alle Menschen. Wenn sie das Gute in die Welt bringen – die zweijährige Mission im Ausland ist zentraler Bestandteil im Leben eines jeden jungen Heiligen der Letzten Tage –, füllt Gott das Leben mit Licht, vor und nach dem Tod. Die Motivation, das Gute in die Welt zu bringen, ist auch dem braven Kommunisten nicht fremd. Erich Honecker, Prophet aller Apostel der DDR-Volkskammer, träumte sein Leben lang davon, in Washington den Staatsakt zu bekommen. Endlich anerkannt vom Westen bis in alle Ewigkeit. Er bekam von Udo Lindenberg eine Schalmei und von Gott einen Mormonentempel.

II.

Man nennt sie Mormonen. Ursprünglich war das eine abwertende Bezeichnung, die sie sich lange Zeit zu eigen machten, aber heute nicht mehr verwenden. Im September 2021 bin ich mit Dr. Ralf Grünke verabredet, dem Pressesprecher der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage in Deutschland. Ich treffe ihn zum Kaffee in Berlin. Zumindest ich trinke Kaffee, Mormonen verzichten auf alle gängigen Rauschmittel, auch auf Koffein. Wir diskutieren das antikapitalistische Kapitel der mormonischen Vergangenheit, das »United Order« genannte Programm aus den Anfängen der Kirche im 19. Jahrhundert. Die Kleinstadt Orderville – gelegen auf halbem Wege zwischen den Nationalparks »Zion« und »Bryce Canyon« im Bundesstaat Utah, USA – ist ein bedeutender Ort in der politischen Geschichte des Mormonismus. Seine Bewohner leben von 1875 bis 1885 streng kommunalistisch, privatbesitzlos, spirituell-solidarisch nach den Maßgaben ihres Oberhaupts Brigham Young. Und das recht erfolgreich.

Vom vergangenen Realsozialismus allerdings hält Herr Grünke wenig, bezeichnet die DDR als »Diktatur« und »Unrechtsstaat«. Nichts Ungewöhnliches, bundesdeutscher Konsens. In den USA gelten die Mormonen seit ihrer Selbstlegitimierung durch geschickte Widerstände und Kompromisse, einschließlich der Abschaffung der Vielweiberei, als erfolgreiche Geschäftsleute und demonstrativ freiheitliche Patrioten. Utah wird seit gut 40 Jahren republikanisch regiert; der Liberalismus steht vom Propheten und Kirchengründer Joseph Smith direkt in die »Glaubensartikel«, seine Zusammenfassung der mormonischen Lehren, geschrieben:

Wir beanspruchen das Recht, den allmächtigen Gott zu verehren, wie es uns das eigene Gewissen gebietet, und gestehen allen Menschen das gleiche Recht zu, mögen sie verehren, wie oder wo oder was sie wollen. (Joseph Smith, »Die köstliche Perle«, 1880)

Der mormonische Glaube hat seine, für Außenstehende aller Konfessionen recht skurrilen, Besonderheiten. Berühmt sind die sakrale Unterwäsche, die verlorenen Goldplatten der Offenbarung, die uniform gestriegelten, oft pickligen jugendlichen Missionare und eben die historische Polygamie. Weniger berühmt sind beispielsweise die auch recht eigentümliche Kosmologie und Eschatologie. Der himmlische Vater, ein Mensch aus Fleisch und Blut, ruft seine wortwörtlichen Heiligen der Letzten Tage als quasigöttliche Kinder in der höchsten Stufe des Himmels (es gibt drei) an seine Seite. Ehen sind ewiglich. Trinität und Erbsünde werden eigenwillig interpretiert. Eine stellvertretende Totentaufe wird praktiziert. Solche Abzweigungen verträgt bisher nicht einmal die aufgeschlossenste Ökumene.

Mormonen brauchen fürs Alltägliche ein Gemeindezentrum zur Versammlung, zum Bibelunterricht und zum Gottesdienst. Für das Besondere, die Eckpfeiler des gläubigen Lebens – Katholiken nennen sie Sakramente – müssen sie den Tempel besuchen. Wo in jeder gewöhnlichen Kirche getauft, kommuniert, geheiratet werden darf, dürfen die entsprechenden Rituale der LDS-Kirche ausschließlich im Tempel abgehalten werden. Mormonentempel sind hermetische Gebäude, deren Innerstes nur von Gläubigen mit Passierschein betreten werden darf. Wenn man so will, sind sie Dom und Wallfahrtsort in einem.

Ich frage Herrn Grünke, ob es in Deutschland jemals solche Tempel gab. Und in der Tat befindet sich seit 1987 einer bei Frankfurt am Main. Um aber genau zu sein, war der erste Tempel auf deutschem Boden schon im Jahr 1985 errichtet worden. In Freiberg. In Sachsen. In der Deutschen Demokratischen Republik. Ich traue meinen Ohren kaum. Der »unfreie Unrechtsstaat« ließ die US-amerikanischste aller Glaubensgruppen auf Volkseigentum ein Allerheiligstes errichten?

Als wir meinten, unsere Mitglieder sollten die Gelegenheit bekommen, zum Tempel in die Schweiz zu fahren, wollte man wissen: »Ihr habt doch Gemeinderäume hier. Warum macht ihr das nicht dort?« Und wir mussten ihnen dann erklären, dass es ganz bestimmte heilige Verordnungen gibt, die nirgendwo anders als nur in einem Tempel vollzogen werden können: Siegelungen von Familien, von Mann und Frau (…), aber die haben nach Einzelheiten nicht gefragt. Sie wussten nur, dass ein Tempelbesuch für Mitglieder der Kirche ähnlich wichtig ist wie ein Besuch für einen Moslem in Mekka. Und damit waren sie zufrieden. (Henry Burkhardt, Präsident der Mormonen in der DDR über ein Treffen mit DDR-Regierungsvertretern, 1975).

III.

Dezember 2021: Weihnachten in der Bundesstadt der Schweiz. Die Gemeinde Zollikofen liegt fünf Kilometer nördlich von Bern. Hier steht der allererste Mormonen-Tempel Europas, geweiht und eröffnet (beziehungsweise für die Öffentlichkeit verschlossen) im Jahr 1955. Man braucht den Tempel nicht lange zu suchen, der posaunende Engel Moroni in Gold überragt das suburbane Umfeld. Nordamerikanisch autofreundlich wurde das Gelände angelegt, ich kann mühelos parken. Gestriegelte Rasen im Winter säumen die merkwürdig modernistische Architektur. Karges Art déco, wenn man so will, alles streng symmetrisch, vom Fenster bis zum Baum. In seiner außerirdischen Anmutung zwischen den postcalvinistischen Wohnhäuschen fast schon ein Statement. Schwer vorstellbar so ein Bau im realsozialistischen Erzgebirge, im »Tal der Ahnungslosen«. Sonst geben sich die Mormonen im Staat doch betont unauffällig, möchten rechtschaffene, gesetzestreue Bürger sein. Auch das steht im Glaubensbekenntnis:

Wir glauben, dass es recht ist, Königen, Präsidenten, Herrschern und Obrigkeiten untertan zu sein und dem Gesetz zu gehorchen, es zu achten und für es einzutreten. (12.Glaubensartikel)

Rauchend umkreise ich den Tempelbau, bis ich auf ein Schild stoße: »Auf dem Tempelgelände ist das Rauchen untersagt.« Kaum habe ich mich dem Verbot wissentlich widersetzt, kommen zwei junge Frauen auf mich zugesteuert. Entgegen meiner Erwartung werde ich nicht ermahnt, sondern von den überfreundlichen Missionarinnen aus Norwegen zum Weihnachtsgottesdienst eingeladen.

Am zweiten Weihnachtsfeiertag, gegen 9.30 Uhr, sitze ich also im Gemeindezentrum der Schweizer Mormonen neben dem Tempel und trage keinen Sonntagsanzug. Kinder wuseln umher, die Familie steht bei den Gläubigen gnadenlos im Mittelpunkt. Keiner verbietet den Kleinen das Spielen und Kreischen. Lebendig könnte man es nennen; für einen stillen Katholiken ist das Ganze eher nervenaufreibend.

Keine aufregenden Besonderheiten birgt der Gottesdienst, es wird viel von Jesus gesprochen, kaum von Joseph Smith. Wenn ich schon da bin, kann ich auch ein bisschen mitsingen. Das Gesangbuch versammelt alle möglichen europäischen Kirchenlieder, protestantische und katholische in Umdichtungen, dazu eine Handvoll genuin mormonische Literatur. Der Prediger erzählt vom vergangenen Jahr, den Ausflügen und Zeltlagern, ein Missionar trägt in gebrochenem Deutsch seine Erfahrungen vor.

IV.

April 2022: In Frankfurt am Main steht die Europazentrale der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage in Nachbarschaft zum Generalkonsulat der USA. Ich bin zu früh, es regnet wie aus Kübeln; eine freundliche Dame mit amerikanischem Akzent lässt mich mitleidvoll ein. Gemälde von einem langhaarigen Jesus an den Wänden, puttenhafte Wangen, Neorokoko, wallende Gewänder, gutmütige Gesichter, strahlende Heiligenscheine. Jesus Christus in Fleisch und Blut, das glauben die Mormonen, hat der USA schon einmal einen Besuch abgestattet. Ich warte nur auf Herrn Grünke und auf einen Zeitzeugen aus der vergangenen Deutschen Demokratischen Republik.

Bis zu seinem 35. Lebensjahr ist Dieter Lehm, geboren 1940 in Annaberg im Erzgebirge, davon überzeugt, wohl niemals einen Tempel besuchen zu können, dass ihm die wichtigen Zeremonien zu Lebzeiten also verwehrt bleiben. Obwohl von 1955 bis zum Mauerbau zahlreiche Mormonen die Gelegenheit nutzen, den Schweizer Tempel zu besuchen, rückt diese Möglichkeit mit dem Mauerbau 1961 in zunehmende Ferne. Der gelernte Elektriker hat sich zudem einem staatlichen Geheimhaltungsgebot verpflichtet – im VEB Geräte- und Werkzeugbau Wiesa produziert er zusammen mit ungefähr 1400 Kollegen Kalaschnikows. Für jemanden in der Waffenproduktion sind Aufenthalte im westlichen Ausland praktisch unmöglich. Eine Reise über Westdeutschland in die Schweiz mit offiziellem Visum? Hirngespinst.

Dieter Lehm findet sich damit ab, widmet sich dem Glauben, der Familie und der Brieftaubenzucht. Erst 1975 erschüttert ein bemerkenswertes Ereignis sein Leben und das aller Ost-Mormonen. Thomas S. Monson, ein Mitglied des in Salt Lake City ansässigen Kollegiums der Zwölf Apostel besucht die DDR, segnet das Land und spricht von einem Tempel. Dieter Lehm wird vom Kirchenoberen gar persönlich zur Seite genommen und bekommt prophezeit: »Du wirst alle Segnungen im Haus des Herrn empfangen!« Selbst für einen fest gläubigen Menschen, Lehm wird Gemeindepräsident in Annaberg, ist dies damals angesichts des politischen Klimas schwer anzunehmen.

Nach der anfänglichen Euphorie tut sich für die Mitglieder der Kirche nach außen hin jahrelang nichts. Lehm geht weiter seiner Arbeit in der »Waffenbude« nach, wie er sie heute noch nennt. Mitarbeiter und Vorgesetzte schätzen ihn als besonders fleißig, seine Stasi-Akte bleibt, trotz kurz angemerkter »politischer Undurchsichtigkeit«, lupenrein.

Lehm spricht von Einschränkungen und Schwierigkeiten, doch nicht mit Bitterkeit über die DDR-Zeit. Mit spürbarer Traurigkeit hingegen berichtet er über die Nachwendejahre in der Region, da der Ausverkauf auch seines Betriebes beginnt. So wie die Arbeitsplätze schrumpfen auch die Ost-Gemeinden zum dritten Mal in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Derart drastisch wie nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, als viele »Heilige« in die USA auswanderten, sind die Einschnitte hinsichtlich der Mitgliederzahlen der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage jedoch nicht. Schließlich ist der Tempel in Freiberg schon längst gebaut und geweiht, als der antifaschistische Schutzwall fällt.

V.

Juli 2022, Freiberg: Da steht er endlich vor mir, der realsozialistische Traum vom Engel Moroni in Weiß und Gold. Deutlich protestantischer als sein Schweizer Gegenstück mutet er an, mit seinem schwarz gedeckten, zeltartigen Schieferdach außerdem viel weniger US-amerikanisch. Wieder symmetrische Blumenbeete und ein angemessener Parkplatz, auf dem ich bereits erwartet werde. Ganz in Weiß, mit weißen Haaren, weißen Slippern und weißer Krawatte empfängt mich Tempelpräsident Rainer Bartsch staatstragend in der Empfangshalle des Tempels. Ich darf den Hals nach dem mit zwölf goldenen Ochsen dekorierten Taufbecken recken; weitergehen darf ich nicht, besitze eben keinen Passierschein für würdige Gläubige.

Surreal staunend sitze ich im Wartesaal. Staubfreie Teppiche, Vasen und Lampen. Von einer christlichen Kirche hat es hier wenig, mehr von einer Hotellobby in Las Vegas. Die allsehenden Augen und der Lichtbringer gemahnen mich an die Freimaurer, den Golden Dawn oder eine Szene aus der Fernsehserie »Twin Peaks«. Eine fremdartige, aber nicht unbehagliche Atmosphäre, weil demonstrative Freundlichkeit und Offenheit den Mormonen durchaus wichtige Werte sind, die sie bei der Missionstätigkeit vertiefen. Ich komme fürs »nd«, sage ich, und werde nach dem Empfang (ohne Sekt) unterschiedslos herzlich von weiteren Zeitzeugen begrüßt.

So wie Dieter Lehm warten auch Gerhild (*1951) und Siegfried Sacher (*1943) nach dem Besuch von Elder Monson 1975 vergeblich auf Veränderungen. Gerhild Sacher berichtet von den Gefühlen der Gläubigen seinerzeit: »Wir waren hellauf begeistert und dachten: Wow, jetzt geht es los! Aber dann ist jahrelang nichts passiert, und Enttäuschung stellte sich ein. Wir hätten ja niemals gedacht, dass Deutschland noch zusammenkommt. Dann allerdings ist die Prophezeiung in einer Wucht eingetreten, die wir so nie erwartet hätten.«

Auch das Ehepaar Sacher verfolgt seine berufliche Karriere in der DDR. Siegfried Sacher studiert Maschinenbau, wird Werkleiter beim Automobilhersteller Barkas, Karl-Marx-Stadt. Nur die oberste Führungsebene im Betrieb ist für ihn tabu, das begreift er als unausgesprochenes Gesetz: »Ich sollte Technischer Leiter werden, und das habe ich abgelehnt. Ich fragte meinen Chef, ob er es darauf ankommen lassen möchte, in einem halben Jahr über meinen Parteieintritt reden zu müssen, nur um mich dann wieder herunterzustufen. Abgesehen davon, habe ich persönlich in meinem Berufsleben nicht ein einziges Mal bemerkt, dass ich irgendwelche Nachteile gehabt hätte. Wir Mormonen haben uns eben mit der zweiten Ebene zufriedengegeben.«

Gerhild Sacher studiert in der DDR Außenwirtschaft und ist ab 1986 als Exportleiterin in der Herstellung von Schmuckkästchen für das nichtsozialistische Ausland tätig. Durchaus belustigt erzählt sie von den subtilen Mobbingversuchen im Alltag. Der Verzicht auf Kaffee, Alkohol und Zigaretten ist in den verrauchten 70er Jahren, in einem Staat aus Doppelkorn und Eisbein, noch ein echter Grund für missmutige Blicke und Seitenhiebe. Ihrem Chef, der sie im Laufe der Jahre mit allen wichtigen, auch vertraulichen Aufgaben betraut, platzt eines Tages der Kragen: »Merkt euch endlich mal, die Kollegin Sacher gehört dieser Kirche an, die trinkt kein Koffein. Und ich verbitte mir, dass ihr jeden Tag wieder demonstrativ Kaffee hingestellt wird!« Bei künftigen Geschäftstreffen braucht sie die angebotene Schachtel F6 nicht mehr abzulehnen.

Frank Apel (*1940) lernt seine Frau Helga (*1939) während der Missionsarbeit in Mecklenburg kennen. Sie stammt aus Wolgast, er aus Freiberg; wie die Sachers wachsen beide Eheleute mit der Kirche auf. Helga Apel besucht mit ihren Eltern bereits 1956 den Tempel in der Schweiz, wo die Familie aneinander rituell »gesiegelt« wird, das heißt bis in die Ewigkeit aneinander gebunden wird.

Frank Apel wird im Laufe der Jahre zu einem der höchsten Repräsentanten der Mormonen in der DDR. Als erster Ratgeber des Kirchenpräsidenten Henry Burkhardt ist er bei allen wichtigen Entscheidungen zugegen. 1983 besucht er zusammen mit seiner Frau Salt Lake City. Ab 1985 besitzt Apel einen ständigen Reisepass; 1988 trifft er zusammen mit Thomas S. Monson hochoffiziell Erich Honecker.

Unter dem Staatssekretär für Kirchenfragen Klaus Gysi fährt die DDR-Regierung ab 1979 den Kurs eines liberalen Umgangs mit Gläubigen verschiedenster Ausrichtungen. Billy Graham, ein in den USA extrem populärer Baptistenprediger, spricht 1982 vor 6000 Zuhörern in der Kreuzkirche in Dresden. 4000 bis 5000 Mormonen gibt es in der DDR, organisiert in zwei Pfählen. Da die Gläubigen immer wieder Ausreiseanträge für den Tempelbesuch in der Schweiz stellen, wittert der Staat diplomatisches Potenzial. Aus dem Tagebuch von Henry Burkhardt ergeben sich die deutlichen Bemühungen der SED, den Tempelbau von selbst voranzutreiben:

Dieser Vorschlag kam ganz unerwartet. Ich versuchte, alle möglichen Gründe anzuführen, warum dies nicht möglich sei. So erwähnte ich die Notwendigkeit einer größeren Anzahl von Kirchenmitgliedern, die für einen Tempelbezirk erforderlich sind (…) Ich erwähnte die Unantastbarkeit eines solchen Gebäudes, nachdem es seiner Bestimmung übergeben war (…) Man bat mich mich daraufhin sehr höflich, trotz aller bestehenden ablehnenden Gründe deswegen mit der Ersten Präsidentschaft der Kirche zu sprechen. (Henry Burkhardt, 1978)

Lange bleibt dieses Vorhaben selbst dem inneren Zirkel der LDS-Kirche unbekannt. Zum ersten Mal hört Frank Apel, trotz seiner Position und seines persönlichen Vertrauensverhältnisses zu Burkhardt die Wahrheit vom Tempelbau im Jahr 1982: »Ich war Mitglied der Missionspräsidentschaft, da teilte mir Herr Ringer aus der Schweiz Folgendes mit: ›Sie sind der Dritte, der jetzt erfährt, dass in der DDR ein Tempel gebaut wird.‹ Ich fragte: Und wo? ›In Freiberg.‹ ›Das ist das Beste!‹, wusste ich nur zu erwidern. Ich durfte es gerade einmal meiner Frau sagen, nicht mal unseren Kindern. Das wurde von Kirchenseite erst mal geheim gehalten.«

Im April 1983 erfolgt der erste Spatenstich zum Tempelbau in Freiberg; zuvor war Karl-Marx-Stadt im Gespräch, was auch aus symbolischen Gründen für die nach »drüben« lugende DDR abgelehnt wurde. Das Geld für Grundstück und Gebäude kommt von der Kirche in Salt Lake City – in Devisen; zudem spenden die Ost-Mormonen zusammen 40 000 Mark. Architekturbüro und Auftragnehmer kommen aus dem Westen, viele der Baumaterialien auch. Natürlich ist die Arbeitskraft im Osten deutlich günstiger, weswegen DDR-Arbeiter das Handwerk ausführen.

In der Bevölkerung macht sich zunächst Misstrauen breit. Viele vermuten die US-Dollars als einzigen Grund für den Tempelbau. Gerhild Sacher erinnert sich: »Manche kamen sogar und fragten mich, ob sie in den Westen reisen dürften, wenn sie nur Mitglied in unserer Kirche würden. Als wären wir eine Art amerikanischer Klub.« Siegfried Sacher interveniert: »Wir als Mitglieder der Kirche waren sehr sozial und glaubenstreu – der Himmlische Vater hat es so gewollt. Natürlich ging es auch um finanzielle Aspekte, aber ich glaube nicht, dass das sonst erst so spät passiert wäre. Die Dollars gab es schließlich schon 20, 30 Jahre zuvor.«

Schnell schlägt Missgunst in blanke Neugier um. Die Volkspolizei Freiberg belächelt Frank Apel, als er vorschlägt, zu den »Tagen der offenen Tür« im Juni 1985 einige Ordner und Absperrungen einzusetzen: »Für eure paar Mitglieder da?« Tatsächlich kommen 90 000 DDR-Bürger, um das Heiligtum vor der Weihung zu besichtigen. Die Gemeindemitglieder schieben Überstunden, um die Masse an Schaulustigen mit teppichschonenden Überschuhen durch die Räumlichkeiten zu führen; teilweise bis zwei Uhr morgens gehen die Touren.

Die Bürger von Freiberg nehmen ihre neue Attraktion – Wallfahrtsort für zahlreiche Gläubige aus dem Ostblock, die in den Folgejahren in Bussen anreisen – durchaus wohlwollend an, sprechen von »unserem« Tempel. Ein großartiger Mitgliederzuwachs bleibt allerdings aus, wie sich Helga Apel erinnert: »Vielleicht zehn haben sich in der unmittelbaren Zeit danach taufen lassen. Und nach der Wende waren sowieso viele weg.«

VI.

Im Oktober 1988 findet das letzte große Gipfeltreffen der Führung der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage mit der DDR-Regierung statt. Die »Aktuelle Kamera« berichtet sogar im Aufmacher über das Treffen von Erich Honecker und Thomas S. Monson. Als freundschaftliche Geste überreicht man dem Vorsitzenden des Staatsrats eine Plastik von Vater, Mutter und glücklichen Kindern, für die Mormonen die Heilige Familie. Honecker scheint doch sichtlich berührt und entzückt. Beide Seiten lassen schmeichelnde Erklärungen gegenseitiger Wertschätzung verlesen.

Die Kirchenpolitik der DDR sei auf dem Treffen vom 6.März 1978 bekräftigt und weitergeführt worden. Sie wage Vertrauen und sie verdiene Vertrauen. Die DDR, so sagte Erich Honecker, ist die Heimat aller ihrer Bürger. Zu ihr gibt es keine Alternative, sie stellt sich in den Dienst des Friedens und des Humanismus. Dabei ist das Mitwirken der Gläubigen ebenso gefragt wie das Mitwirken derer, die nicht solchen Gemeinschaften angehören. In diesem Zusammenhang bekräftigte der Vorsitzende des Staatsrates die Förderung der Jungen Mormonen. Mit Genugtuung stelle er fest, dass die DDR in ihrer fast 40-jährigen Geschichte dem Prinzip der Gleichberechtigung aller Kirchen und Religionsgemeinschaften vor dem Gesetz treu geblieben sei. Sie werde ihm auch in Zukunft treu bleiben, weil der Sozialismus dem Menschen dient. (»Aktuelle Kamera«, 28.10.1988)

Kurze Zeit später werden sogar mormonische Missionare aus dem westlichen Ausland in der DDR zugelassen. Zwei junge Männer aus Hamburg sind die ersten aus der BRD. Mit der Friedensbewegung und deren Losung »Schwerter zu Pflugscharen« wollen die Mormonen die Jahre über nichts zu tun haben – das gebietet ihnen der zwölfte Glaubensartikel, »Obrigkeiten untertan zu sein und dem Gesetz zu gehorchen«.

Obwohl sich hinsichtlich religiöser Angelegenheiten einiges für die Gläubigen fügt, stehen sie wie alle DDR-Bürger nach 1989 erst einmal vor den Scherben ihrer beruflichen Existenz. Viele Menschen wandern ab, die Gemeinden verkleinern sich. Die Ehepaare Sacher und Apel machen sich selbstständig. Frank Apel betreibt ein Autohaus in Freiberg, Gerhild Sacher übernimmt erfolgreich die Überreste ihres Betriebes und wird 1996 »Unternehmerin des Jahres« im Freistaat Sachsen.

Als göttliche Fügung und Belohnung für ihre Rechtschaffenheit betrachten die Heiligen der Letzten Tage ihre Erfolge in allen Systemen. Tatsächlich hat die Begegnung mit der frommen Herzlichkeit der Mormonen etwas Entwaffnendes – und Frieden hatte in der DDR schließlich immer oberste Priorität.

Die Zitate von Henry Burkhardt stammen aus dem Buch von Raymond Kuehne »Henry Burkhardt. Ein Leben für die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage in der DDR«, erschienen 2010 im Leipziger Universitätsverlag.

Der 33. Tempel der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage in Freiberg, Sachsen
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