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Erdbeben: »Jenseits jeder Vorstellung«

Ein Gespräch mit Vertretern einer Hilfsorganisation nach dem Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 8 Min.

Wo befinden Sie sich gerade und wie ist die Lage vor Ort?

Faddy Sahloul: Ich bin in der Türkei, in Gaziantep und war auch in Antakya. Die Situation ist wirklich unbeschreibbar. Ich kann nicht die richtigen Worte finden, um die Lage vor Ort angemessen wiederzugeben – wegen der Verwüstung und Zerstörung. Kleinere Städte und Dörfer sind völlig ausgelöscht, speziell in der Provinz Hatay und in Syrien, die totale Vernichtung. Ich habe elf Jahre in Syrien gearbeitet, während des Kriegs, aber die letzten Tage waren schwieriger als das. Wir sind alle psychisch am Ende. Im Moment können wir gar nicht schlafen. Nach den ersten beiden schweren Erdstößen hatten wir mehr als 350 Nachbeben, einige davon waren sehr stark. Alle haben Angst, die Menschen schlafen auf der Straße oder im Auto. Niemand will zurück in sein Haus. Ich selbst habe seit Sonntagnacht vielleicht ein, zwei Stunden geschlafen.

Interview

Die in Großbritannien registrierte humanitäre Hilfsorganisation Hand in Hand for Aid and Development (HIHFAD) arbeitet seit mehr als zehn Jahren im Grenzgebiet zwischen der Südosttürkei und Nordwestsyrien, speziell in den türkischen Provinzen Gaziantep und Hatay und in den syrischen Gouvernements Idlib und Aleppo. Das »nd« sprach am Donnerstag mit Geschäftsführer Faddy Sahloul und mit Hassan Al-Am, der die Organisation in Syrien vertritt.

Wann sind Sie in Gaziantep eingetroffen?

Sahloul: Vor einer Woche.

Am Donnerstag vergangener Woche?

Sahloul: Ich bin hier seit … Verzeihen Sie, ich weiß nicht mehr, welcher Tag heute ist.

Heute ist Donnerstag.

Sahloul: Donnerstag …, dann bin ich jetzt etwa seit zehn Tagen hier.

Herr Al-Am, wo sind Sie im Moment?

Hassan Al-Am: Ich bin im Gouvernement Idlib, in der Nähe des Grenzübergang zur Türkei, Bab Al-Hawa. Wir bekommen gerade eine kleine Lieferung von Hilfsgütern aus Syrien für unser Warenlager, daher bin ich hier. Aus der Türkei gab es seit dem Erdbeben keine Lieferungen mehr über die Grenze. Wir hoffen und warten, dass wir etwas Nachschub bekommen. Wir erwarten medizinische Güter, haben aber noch keine Bestätigung. Es gibt normalerweise regelmäßige Lieferungen aus der Türkei nach Syrien, aber die wurden verschoben wegen des Erdbebens – und wir wissen nicht, wann die nächste kommen könnte.

Können Sie die Situation vor Ort in Syrien beschreiben?

Al-Am: Die Lage ist jenseits jeder Vorstellung. Ich habe mir nicht ausmalen können, dass ich so eine Katastrophe jemals in meinem Leben sehen müsste. Schwere Räumfahrzeuge sind hier rar. Bis Mittwochnacht konnte man noch immer Stimmen aus den Trümmern hören – ohne in der Lage zu sein, irgendwie zu helfen. Man kann nur mit den Händen oder Kleingeräten wie Presslufthämmern arbeiten. Die Chance, jetzt noch Menschen lebendig zu bergen, geht gegen Null. Die Such- und Bergungsarbeiten beschränken sich jetzt darauf, die Toten unter den Trümmern hervorzuholen.

Wie verbringen die Menschen die Nächte, wenn sie kein Obdach mehr haben? Es ist sehr kalt, wie können Sie überleben?

Sahloul: Dank Gottes Gnade. Die Reaktion der internationalen Gemeinschaft ist sehr langsam. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Jedes Jahr, wenn der Winter kommt, sagen sie: Oh, in Syrien beginnt der Winter. Und bis sie reagieren, haben wir schon Sommer. Um fair zu sein: Natürlich handelt nicht jeder Geber, jedes Land so, aber normalerweise kommt die Hilfe spät, spät, spät. Und das Verfahren wird immer komplizierter.
Al-Am: Die Menschen suchen Schutz, wo immer sie ihn finden. Es gibt nicht genug Zelte, nicht genug Matratzen und Decken, nicht genug Treibstoff und Essen, es mangelt an allem. Es ist bitterkalt. Wir verteilen Brennstoff, damit die Menschen sich wärmen können, Heizgeräte, Decken, Zelte, aber alles ist knapp, denn unsere Lieferquellen sind in der Türkei – und dort, jenseits der Grenze, erleben die Menschen dasselbe Desaster. Dazu sind die Straßen zerstört, derzeit kommen keine neuen Lieferungen über die Grenze nach Syrien.

Herr Sahloul, Sie sprachen davon, dass die Zerstörungen in der Erdbebenregion größer sind als die des Kriegs in Syrien, dabei ist Gaziantep nicht mal die am stärksten betroffene Stadt.

Sahloul: Ja, in Antakya in der Provinz Hatay, einer Stadt mit fast 400 000 Einwohnern, sieht es aus, als wäre hier das Leben zu Ende – wie in diesen Horrorfilmen, wo sie morgens aufwachen, das Fenster öffnen und sie finden keine Stadt mehr. So in etwa, ich übertreibe nicht.

Wie viele Helfer haben Sie vor Ort und was machen die konkret?

Sahloul: Wir haben rund 1200 Leute im Einsatz: Medizinisches Personal, Leute, die sich um Schutz, Obdach und Verpflegung kümmern. Im Moment haben wir vier Krankenhäuser sowie drei oder vier Gesundheitszentren in der Region, die von der Organisation Malteser International in Deutschland unterstützt werden. Dort behandeln wir die dramatisch hohe Anzahl an Verletzten. Darüber hinaus bieten wir Zelte, Schlafsäcke und Decken an, verteilen Nahrungsmittelkörbe und Fertigmahlzeiten für die, die selbst nicht mehr kochen können. Das sind unsere Hauptaufgaben. Unser medizinisches Personal und die Ambulanzen begeben sich zu den zerstörten Gebäuden und stehen bereit, Verletzten sofort zu helfen. Wir arbeiten Hand in Hand mit den Rettungsteams verschiedener Organisationen, die die Verschütteten aus den Trümmern bergen.

Was wird am dringendsten benötigt?

Sahloul: Zelte, Decken, Matratzen, medizinische Verbrauchsgüter, Nahrungsmittelkörbe, Fertigmahlzeiten und Treibstoff für die Krankenhäuser: Die Hauptstromleitung wurde zerstört, wir müssen Generatoren benutzen. Es gibt auch kaum Trinkwasser, weil das Grundwasser nach dem Erdbeben kontaminiert ist.

Woher bekommen Sie die Sachen, die Sie verteilen?

Sahloul: Fertigmahlzeiten bereiten wir in Syrien vor, die anderen Sachen kaufen wir in der Türkei – in einer Normalsituation. Aber jetzt ist auch die Türkei völlig zerstört: Das Angebot wird äußerst knapp, die Nachfrage ist immens, die Preise gehen nach oben.

Arbeiten sie auch mit der syrischen Regierung zusammen?

Sahloul: Die arbeiten nicht mit uns zusammen. Wir sind eine humanitäre Organisation. Wir helfen und behandeln jeden. Die Koordinierung mit den türkischen Behörden läuft seit Donnerstag immerhin besser.

In welchen Regionen sind Sie normalerweise tätig?

Sahloul: In der Türkei arbeiten wir in den Provinzen Gaziantep und Hatay, wo viele syrische Flüchlinge leben. In Syrien sind wir im Nordwesten präsent, in den Gouvernements Idlib und Aleppo, unter anderem in den Städten Afrin, Azaz, Al-Bab, Dscharābulus, Dschindires.

Wie kommen die Menschen in Idlib, Afrin und rund um Aleppo mit der Lage nach dem Erdbeben klar?

Sahloul: Die Leute haben einen Zustand erreicht, wo sie sich wünschen, noch vor morgen zu sterben. Zehn Jahre Kämpfe, in denen sie alles verloren haben: ihre Würde, ihr Heim, ihre Hoffnung. Die Leute haben schon begonnen, Teile ihres Körpers zu verkaufen, um zu überleben. Frauen verkaufen ihr Haar, um etwas Geld zu verdienen. Dazu kommen nach dem Erdbeben noch die harschen Wetterbedingungen, der Sturm und der Schnee. Davor war es Covid. Sie können sich vorstellen, wie hoffnungslos die Lage ist. Die Syrer haben alle Katastrophen dieser Welt durchgemacht.

Es gibt Forderungen, alle Grenzübergänge zwischen der Türkei und Syrien zu öffnen, um schneller Hilfe ins Erdbebengebiet in Syrien bringen zu können, unter anderem von der deutschen Außenministerin. Wie schätzen Sie das ein, da die Lage in Syrien ja als gravierender angesehen wird?

Sahloul: Auch in der Türkei sind einige Gebiete wirklich in einem desaströsen Zustand. Ich erwarte, dass die endgültige Anzahl der Toten allein in der Türkei 50 000 erreichen wird; für Syrien schätze ich die Zahl auf 10 bis 15 000 Tote ein. Die Türkei kooperiert, für die syrische Regierung ist es reine Politik. Wir erwarten überhaupt nichts von der syrischen Regierung: null. Aber die Öffnung weiterer Grenzübergänge wäre wünschenswert.

Sollten die von den USA und der EU verhängten Sanktionen aufgehoben werden, um die Hilfsmaßnahmen für Syrien zu vereinfachen und zu beschleunigen?

Sahloul: Die Sanktionen sollten gelockert werden, weil sie mehr die Menschen treffen, aber nicht die syrische Regierung. Wir haben das ja am Beispiel Irak gesehen: Sanktionen treffen nur die armen Leute.

Erhalten Sie Unterstützung von der internationalen Gemeinschaft?

Sahloul: Wir erhalten Geld von verschiedenen Ländern, z.B. Japan, von anderen Organisationen wie Save the Children, World Vision International. Wir erhalten auch direkt Mittel von den Vereinten Nationen. Die ersten Partner, die reagiert haben, waren Choose Love und Malteser International: Am Tag nach dem Erdbeben bekamen wir von Malteser einen Anruf und sie sagten, dass sie einen Notfallfonds in Höhe von 150 000 Euro einrichten konnten. Das ist nicht viel, aber besser als nichts.

Wie ist die Situation der Kinder in der Erdbebenregion, die leiden ja ganz besonders?

Sahloul: Alle benötigen jetzt psychische Betreuung, um weiterzuleben und die Situation zu verarbeiten. Ich weiß, die internationale Gemeinschaft hat viel zu tun mit Covid, mit dem Ukraine-Krieg, mit dem Krieg in Syrien über zehn Jahre, aber hier ist Hilfe wirklich ganz, ganz dringend nötig. Wir sind abhängig von der Großzügigkeit der Menschen. Ich weiß, dass wir in wirtschaftlich schwierigen Zeiten leben, in Europa, auf der ganzen Welt, aber hier sterben die Menschen.

Spenden an die Hilfsorganisation HIHFAD sind über diesen Link möglich.

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