- Kultur
- Berlinale
Alzheimer-Liebe: Wer sind Sie?
Eine Ehe in den Zeiten von Pandemie und Alzheimer: »The Eternal Memory« im Panorama
Das Gedächtnis sei wie ein Schuhkarton, sagte man früher, voll mit Erinnerungen. Wenn es zu viele werden, passen sie nicht mehr alle rein. Heute weiß man, dass das Gedächtnis unendlich viele Erinnerungen speichern kann, es kommt auf die Synapsen an, die sich damit verbinden. Was man dann damit anfängt, ist eine ganz andere Frage. Es kann zum Beispiel passieren, dass man sich an jemanden erinnert, der oder die früher ganz anders war oder auch nur ein bisschen. Vielleicht ist es die Erinnerung an eine große Liebe? Oder gar an sich selbst?
Der chilenische Dokumentarfilm »The Eternal Memory« ist wie ein kleines philosophisches Seminar für diese universellen Fragen. Regisseur Maite Alberdi beobachtet ein Ehepaar und eine Krankheit: Demenz. Was tun, wenn bei dem einen Partner alles rückwärts läuft? Vom Erwachsenen zum kleinen Kind? Der Mann fragt die Frau: »Wer sind Sie?« Und sie antwortet: »Pauli«. – »Nein, du bist nicht Pauli«. Dann ruft er: »Hilfe, ich bin allein!« Leise sagt er: »Ich weiß nicht, was mit mir los ist.«
Am Anfang ist es lustig, ein bisschen so wie »Täglich grüßt das Murmeltier«. Der Mann freut sich, wenn er die Frau sieht, als würde die Liebe jede Stunde neu anfangen. Die Frau geht aus dem Raum, kommt wieder rein und der Mann freut sich, so machen es auch die Babys. Er ist sehr freundlich und lacht viel – darüber, dass er nur noch wenig weiß. Sie lacht dann auch. Das wirkt echt empfunden, auch wenn sie eine bekannte Schauspielerin ist: Paulina Urrutia. Politikerin war sie außerdem: Staatsministerin für Kultur im ersten Kabinett der sozialistischen Präsidentin Michelle Bachelet. Paulinas Mann wusste auch einmal, wie man vor einer Kamera agiert, er ist der Fernsehjournalist und Moderator Augusto Góngora, 17 Jahre älter als Paulina. Sie waren 20 Jahre zusammen und haben dann 2016 geheiratet. 2014 erfuhren sie, dass er Alzheimer hat. Da war er 62 Jahre alt. Damals begann Paulina, sie beide auf Video aufzunehmen. Daraus hat Maite Alberdi dann diesen Film gemacht.
Es gibt darin ältere Aufnahmen. Augusto und Paulina gehen am Strand schwimmen, Paulina winkt in die Kamera. Sie weiß nicht, was passieren wird, doch der Zuschauer weiß es. Augusto versucht, Fahrrad zu fahren, wackelig wie ein Kind. Als hätte er es noch nie getan und bald wird er es nie wieder tun. Paulina spielt Theater und bittet Augusto auf die Bühne. Alle tanzen um ihn herum und er freut sich. Bei Alzheimerkranken sind die Gefühle immer echt, das hat etwas Entwaffnendes. Sie gehen zusammen zum Physiotherapeuten und legen sich auf Medizinbälle, Augusto lacht. Zum Schluss kann er kaum noch laufen und schleppt sich in Minischritten durch den Hof.
Einst kämpfte Augusto für die Erinnerung und nun erinnert sich an kaum noch etwas. Nach dem Ende der Pinochet-Diktatur hat er politische Bücher geschrieben, gegen die Verdrängung. Eins hieß »Chile, die verbotene Erinnerung.« Nun blättert er darin und ist ratlos. Doch er weiß, dass diese Bücher für ihn wichtig waren und will sie beschützen. Das ist nur ein Gefühl, er kann nicht sagen warum. Es ist Pandemie. Augusto und Paulina sind gefangen in ihrem großen Haus. Wie die Vögel in dem großen Käfig auf ihrer Terrasse. Seine Kinder kommen nicht mehr.
Zu Beginn des Films sieht man eine Aufnahme aus der Zeit, als das Haus gebaut wurde, von 1990. Augusto sagt: »Hier kommt ein Fenster rein, denn da sieht man die Berge. Eine Menge Berge.« Eine schöne Landschaft. Kann sie Augusto noch sehen?
Paulina ist extrem geduldig. Er wird zum Kind, sie zur Mutter. Die über ihren Mann weint, weil er vor ihren Augen verschwindet. Wenn sie verzweifelt ist, weil er sie den ganzen Morgen nicht erkannt hat. Und dann tröstet er sie, dass er sie liebt. Wie ein Kind.
»The Eternal Memory«, Chile 2023. Regie: Maite Alberdi. 84 Min. : Do, 23.2., 19 Uhr, Cubix 5; Fr., 24.2., 16 Uhr, Cubix 5
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.