Im russischen Gravitationsfeld

Der Ukraine-Krieg hat eine lange konfliktreiche und widersprüchliche Vorgeschichte

Der Krieg in der Ukraine hat eine Vorgeschichte – diesen Hinweis hört man oft. Gemeint ist meist der militärische Konflikt im Donbass. Doch die Vorgeschichte reicht weiter zurück und ist widersprüchlich.

Eigentlich haben alle einigermaßen wichtigen politischen Ereignisse und Entwicklungen in der Ukraine seit 1990 mit dem großen Nachbarn Russland zu tun. Beide Länder haben Berührungspunkte in Geschichte, Kultur, Sprache und Religion. Fast 70 Jahre waren sie Teil der Sowjetunion. Als sie sich Anfang der 90er Jahre auflöste, erklärte sich die Ukraine für unabhängig, wurde aber umgehend Mitglied in der neuen Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, der zunächst außerdem nur Russland und Belarus angehörten, bald auch weitere ehemalige Sowjetrepubliken.

Seitdem spielt sich die gesamte ukrainische Innenpolitik vor dem Hintergrund der Frage ab, ob das Land sich weiter an Russland als Führungsmacht binden oder stärker in Richtung Westen orientieren soll. Eine gewisse Unabhängigkeit sollte das 1994 verabschiedete Budapester Memorandum bieten, in dem sich die Ukraine (ebenso wie Belarus und Kasachstan) verpflichtete, all ihre Atomwaffen aus Sowjetzeiten an Russland als juristischen Nachfolgestaat der Sowjetunion abzugeben. Im Gegenzug erhielt sie Sicherheitsgarantien der Unterzeichnerstaaten – der USA, Russlands und Großbritanniens.

Die ersten Präsidenten der unabhängigen Ukraine versuchte eine vorsichtige Absetzbewegung des Landes in Richtung Westen und lavierten zwischen den Machtblöcken. Staatschef Wiktor Juschtschenko (2005 – 2010) forcierte die Westanbindung. Er bemühte sich um einen Beitritt zur Nato ebenso wie um eine Annäherung an die EU. Sein Nachfolger Wiktor Janukowytsch wiederum wandte sich gegen einen Nato-Beitritt; hinter den Kulissen wurde aber an einem Assoziierungsabkommen mit der EU gearbeitet.

Doch auf Druck aus Moskau, unter anderem in Form von Wirtschaftssanktionen, setzte Kiew die Unterzeichnung des Abkommens aus. Von da an gerieten die Dinge außer Kontrolle. In der Ukraine kam es Ende 2013, Anfang 2014 zu wochenlangen Protesten, an denen militante rechtsextreme Gruppierungen aktiv beteiligt waren und bei denen mehr als 100 Menschen starben. Janukowytsch floh nach Russland; dessen Präsident Wladimir Putin bezeichnete die ukrainischen Unruhen als vom Westen vorbereitet und finanziert.

Die sogenannten Euromaidan-Proteste in Kiew waren kaum abgeflaut, da besetzten Ende Februar 2014 russische Truppen die ukrainische Halbinsel Krim. Zunächst bestritt Putin die Beteiligung russischer Soldaten, später räumte er sie ein. Die Besetzungsstruppen brachten das öffentliche Leben unter ihre Kontrolle; viele Ukrainer verließen die Halbinsel, auf der sich russische Militärstützpunkte befinden. Im Besatzungszustand stimmte bei einem Referendum eine große Mehrheit für den Anschluss der Krim an Russland.

Gleichzeitig kam es in der vor allem russischsprachigen Ostukraine zu Protesten gegen die Entwicklung in Kiew; befeuert auch von jahrelanger Vernachlässigung der Region durch die Regierung. Im Frühjahr 2014 wurde aus diesen Protesten, massiv unterstützt aus Russland, eine bewaffnete Separatistenbewegung, die im April die Volksrepubliken Donezk und Lugansk ausrief. Zwar konnte die ukrainische Armee zunächst die Separatisten zurückdrängen, doch dann griffen russische Truppen ein. Die Frontlinie im Osten des Landes blieb bis Februar 2022 ein Krisenherd.

Noch im Jahr 2014 wurde durch Vermittlung von Deutschland und Frankreich das Minsker Abkommen geschlossen, das einen Friedensplan für die umkämpfte Region vorsah. Darin ging es um einen Waffenstillstand, um den Abzug schwerer Waffen, um eine neue ukrainische Verfassung mit Autonomierechten für die Regionen im Osten und um Wahlen dort nach ukrainischem Verfassungsrecht. Der Grundgedanke war, dass die Ostukraine Teil des Landes bleibt und die Grenzen nicht verändert werden.

Doch kaum etwas davon wurde umgesetzt. Die Wahlen fanden nicht statt, jedenfalls nicht im vereinbarten Sinn, von beiden Seiten wurde immer wieder geschossen, Tausende Menschen starben. Als Wolodymyr Selenskyj 2019 zum ukrainischen Präsidenten gewählt wurde, waren seine wichtigsten Themen die Rückkehr zum Frieden und der Kampf gegen die Korruption. Einmal traf er sogar in Paris mit Putin zu Verhandlungen zusammen. Aber kurz nach Selenskyjs Wahlsieg begann Russland, die Menschen in der Ostukraine als Russen einzubürgern. Einige Zeit später folgten erste große russische Truppenaufmärsche an der Grenze.

Schon im August 2015 sagte der damalige Präsident Petro Poroschenko, dass die Vereinbarungen von Minsk der Ukraine die Zeit gegeben habe, ihre Verteidigungsfähigkeit zu stärken. Kürzlich erzählte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, dass sich das Militärbündnis nicht nur weit nach Osten ausdehnte, sondern seit 2014 massiv aufgerüstet und sich stärker »um den östlichen Teil des Bündnisses« gekümmert habe. Keineswegs zufällig war eines der ersten Ziele russischer Raketenangriffe nach dem 24. Februar 2022 eine Militärbasis im Westen der Ukraine, wo angeblich Dutzende westliche Militärausbilder getötet wurden. Ebenfalls seit 2014 machte Russland nicht nur militärischen Druck in Teilen der Ukraine, sondern baute seinen Einfluss im benachbarten Belarus aus.

Die Auseinandersetzung um die Ukraine dreht sich bis heute um die Frage, ob und wie das Land seinen Weg selbst bestimmen kann. Russland betrachtet es als sein natürliches Einflussgebiet. Davon zeugt neben vielen anderen Äußerungen Putins Aufsatz »Zur historischen Einheit der Russen und Ukrainer«, der Teil der russischen Militärausbildung wurde. Der Westen will die Ukraine enger an sich binden und benutzt sie als eine Art Speerspitze in der Auseinandersetzung mit Russland. Dass das Pendel innerhalb der Ukraine nun sehr stark in diese Richtung ausschlägt, hat Putin mit seinem brutalen Krieg forciert. Eine eigenständige, nicht hauptsächlich von äußeren Einflüssen und Interessen abhängige Entwicklung der Ukraine scheint auf absehbare Zeit nicht vorstellbar.

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