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Der Sozialismus ist tot! Es lebe der Sozialismus!
Michael Brie zu den Widersprüchen und Möglichkeiten einer solidarischen Gesellschaft
Angesichts der multiplen Krisen des Kapitalismus der Gegenwart erleben sozialistische und andere alternative Gesellschaftsvorstellungen nicht nur unter jungen Menschen eine Renaissance. Der Philosoph Michael Brie, lange Jahre Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin, entwickelt in der hier anzuzeigenden Publikation – zum Teil in Abgrenzung von Karl Marx – ein neues Sozialismus-Verständnis. Im Unterschied zur traditionellen marxistischen Auffassung, wonach Sozialismus eine widerspruchsfreie Gesellschaft sei, verficht er überzeugend die These, dass die neue gesellschaftliche Ordnung, die er »solidarische Gesellschaft« nennt, durch vielfältige Widersprüche angetrieben werde. Denn ohne Widersprüche keine Entwicklung. Was keine Widersprüche in sich enthalte, so der Philosoph, sei nicht lebensfähig.
Der Autor unternimmt den Versuch, die sozialistische Alternative »auf den Begriff« zu bringen. Denn ohne einen Begriff von Sozialismus sei die Linke seines Erachtens unfähig, »sich den realen Widersprüchen der realen kapitalistisch geprägten Gesellschaften und den treibenden Widersprüchen ihrer Überwindung zu stellen«. Brie begreift Sozialismus als Orientierung, Bewegung und gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang, der »die Widersprüche komplexer Gesellschaften solidarisch und emanzipatorisch zu bearbeiten sucht und dabei auf das liberale wie das kommunistische Erbe zurückgreift«.
Der Linken und den Linken schreibt Michael Brie in diesem Kontext ins Stammbuch, dass die Linke Teil der Widersprüche im Kapitalismus ist: »Solange sie diese Widersprüche nicht begreift, sie nicht auf den Begriff bringt und einen Begriff von Sozialismus entwickelt, der dazu beiträgt, diese Widersprüche solidarisch auszutragen, wird sie sich – verkeilt in falschen Gegensätzen – selbst zerstören.« Man werde diesen oder jenen berechtigten Ansatz verabsolutieren und ihn unversöhnlich anderen Ansätzen entgegenstellen. Jeder Teil der Linken werde den anderen Teil als Hauptfeind im eigenen Lager ansehen, statt an der solidarischen Bearbeitung der unvermeidlichen Widersprüche zu arbeiten.
Wenn es um Sozialismus gehe, so der Autor, sei Begriffsarbeit Bedingung erfolgreicher Praxis. Brie drückt den Begriff von Sozialismus wie folgt aus: »Sozialismus ist die solidarische Austragungsform zwischen den Freiheitsansprüchen der Einzelnen und den kommunistischen Fundamenten in modernen komplexen Gesellschaften mit dem Ziel, Menschen ein erfülltes Leben in Verantwortung füreinander in einer an Möglichkeiten reichen Welt zu ermöglichen.«
Michael Brie beginnt sein Buch mit einem Rückblick auf Erfahrungen des 20. Jahrhunderts und referiert Positionen des Schriftstellers Thomas Mann, des Physikers Albert Einstein und des Philosophen Ernst Bloch. Zustimmend zitiert er Letzteren: »Keine Demokratie ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne Demokratie, das ist die Formel einer Wechselwirkung, die über die Zukunft entscheidet.« Im zweiten Kapitel setzt sich Brie mit Positionen unter Linken auseinander, die es nicht vermögen, die Kritik des Kapitalismus mit der Erkenntnis der Stärken dieser Gesellschaftsordnung zu verbinden. Eine nachkapitalistische Ordnung müsse jedoch die Stärken des Kapitalismus in sich bewahren und zugleich seinen ausbeuterischen Charakter überwinden.
Im dritten Kapitel stellt der Autor die Auffassungen von Karl Marx, Otto Neurath und Ludwig von Mises über die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit einer sozialistischen Wirtschaftsordnung dar. Der österreichische Nationalökonom Neurath (1882–1945), ein Theoretiker der Kriegswirtschaftslehre, befasste sich nach dem Ersten Weltkrieg mit Fragen der Sozialisierung der Wirtschaft und mit Modellen einer für den Friedensbedarf planmäßig produzierenden Zentralverwaltungswirtschaft als »Großnaturalwirtschaft«, in der das Geld »keine treibende Kraft« mehr sei. Dagegen argumentierte der österreichisch-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Mises (1881–1973), dass im sozialistischen Gemeinwesen ohne Geldpreise der Produktionsmittel und damit ohne Wirtschaftsrechnung rationelle Wirtschaft nicht möglich sei.
Im vierten Kapitel wendet sich Brie dem ungarisch-österreichischen Wirtschaftshistoriker und Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Karl Polanyi (1886–1964) zu und würdigt ihn als einen Denker, der Mises Herausforderung ernst nahm und einen neuen Ansatz von sozialistischer Wirtschaftsdemokratie entwickelte, der bis heute nachwirkt.
Ohne der Frage nachzugehen, wie der Weg zu einer solidarischen Gesellschaft aussehen könnte, entwickelt Brie im fünften und letzten Kapitel – gestützt auf eine breite Literaturbasis – Konturen eines Verständnisses von Sozialismus als solidarische und emanzipatorische Austragung der Widersprüche komplexer Gesellschaften. Dabei geht es im Kern um den Widerspruch zwischen freier Entwicklung der Einzelnen und freier Entwicklung aller. In diesem Zusammenhang entfaltet Brie sehr detailreich Vorstellungen für die Organisation und Regulation einer solidarischen Gesellschaft, die er offensichtlich auf einer nationalen Ebene verortet.
Ob sich diese Vorstellungen künftig in die Praxis umsetzen lassen, ist meines Erachtens aus heutiger Sicht offen. Wahrscheinlich werden im Laufe der Herausbildung einer solchen solidarischen Gesellschaft neue, heute noch nicht absehbare Probleme, Fragestellungen und Herausforderungen erwachsen, die aus der Verflechtung dieser Gesellschaft mit dem Weltmarkt und anderen Gesellschaften mit unterschiedlichem Entwicklungsstand resultieren.
Dennoch: Nicht nur philosophisch interessierten Leserinnen und Lesern bietet Michael Bries neuester hellblauer Band aus der VSA-Reihe »Neu entdecken« eine anregende, Erkenntnisgewinn bringende Lektüre.
Michael Brie: Sozialismus neu entdecken. VSA-Verlag, 176 S., br., 14 €.
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