Victor Grossman: Die Treue eines Fahnenflüchtigen

Victor Grossman zum 95.

Ist sich und der linken Sache treu geblieben: Victor Grossman
Ist sich und der linken Sache treu geblieben: Victor Grossman

Es war schon beeindruckend zu beobachten, wie zielstrebig und scheinbar mühelos er, obwohl bereits betagt, jede Anhöhe im Ebro-Tal erklomm und auch nicht zurückschreckte, die vielen engen, ausgetretenen Treppen eines Wachturms aus der Zeit des Spanienkrieges 1936 bis 1939 zu erklimmen. Die Mühe ward belohnt mit famoser Aussicht auf eine liebliche Landschaft, die vor einem Dreivierteljahrhundert ein blutiges Schlachtfeld gewesen ist. Dieses Jahr, sagt Victor Grossman bedauernd, wird er wohl nicht wie all die Jahre zuvor mit den Freunden der Spanischen Republik zur Iberischen Halbinsel aufbrechen, um auf den Spuren der Interbrigadisten zu wandeln. Das Alter zollt seinen Tribut. Der US-Amerikaner vollendet an diesem Samstag sein 95. Lebensjahr. Und da er einen großen Freundeskreis sein nennt, wird im Berliner Kino Toni gefeiert, das sein Sohn Timothy seit Jahr und Tag mit Liebe und Leidenschaft betreibt und betreut.

Victor Grossman ist nicht nur Mitglied des Vereins Kämpfer und Freunde der Spanischen Republik (KFSR), auch der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten. Als Knabe hat der am 11. März 1928 in New York City geborene Sohn eines kleinen Kunsthändlers und einer Bibliothekarin, deren Eltern vor den Pogromen im zaristischen Russland in die USA geflohen waren, den Abwehrkampf der spanischen Volksfrontrepublik gegen die von Hitler und Mussolini unterstützten Franco-Faschisten mit bangem Herzen verfolgt. Die Eltern waren links. Und was damals in Spanien geschah, war Prolog des ein Dezennium darauf von Nazideutschland entfesselten mörderischen Weltenbrands, in dem Vetter Jerry, Rekrut der US-Army, stirbt. Kurz vor Kriegsende, in der Ardennenschlacht in deutsche Gefangenschaft geraten, wird dieser von deutschen Antisemiten zu Tode gefoltert.

Obwohl in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, schafft es der aufgeweckte, wissbegierige Stephen Wechsler, so sein Geburtsname, an die renommierte Harvard University, studiert Ökonomie und arbeitet, trotz Diplom in der Tasche, zunächst in einer Fabrik, um im Auftrag seiner Partei, der KP der USA, das Klassenbewusstsein der Indstriearbeiter zu schärfen. 1950 wird er einberufen, nach Übersee geschifft, nach Bayern, ist in Bad Tölz und in Fürth stationiert, von wo aus es weiter nach Korea gehen soll. »It’s not my war«, sagt sich Stephen Wechsler. Er will sich nicht im Koreakrieg verheizen lassen. Aber auch wenn es seine Einheit noch nicht trifft, Stephen Wechsler befürchtet, dass man ihm auf die Fährte kommt: Bei der Einberufung hat er verschwiegen, dass er einer linken Organisation angehört. »Dafür drohten 10 000 Dollar Strafe und fünf Jahre Haft«, erläutert er im nd-Interview. Stephen Wechsler desertiert, schwimmt bei Linz durch die Donau, schlägt sich über Österreich und die CSSR in die kleine DDR durch, wird dort natürlich erst einmal von den »Sowjets« gründlich verhört, kommt in ein Lager bei Bautzen, wo sich weitere Landsleute, aber auch Briten, Franzosen, Marokkaner befinden, die ebenfalls ihre »Truppe« verlassen haben, aus unterschiedlichen Gründen. »Mancher in Westberlin stationierte GI hatte sich einfach nur in ein Ostberliner Mädchen verliebt«, erinnert sich Victor Grossman. »Wir wurden gut versorgt, waren privat untergebracht, die Sowjets traten uns ein Offizierscasino ab, man hat uns allen eine Berufsausbildung ermöglicht. Ich wurde Dreher, habe aber – vielleicht zum Glück für die DDR-Wirtschaft – nie als Dreher gearbeitet, sondern Journalistik studiert.«

Stephen Wechsler wird von seinen Mentoren im ostdeutschen Ländle auf den Namen Victor Grossman umgetauft, um den jungen Fahnenflüchtigen vor Nachstellungen der US-Militärbehörden zu schützen. Nachdem dieser 1994 erstmals wieder den Boden seines Gebrtslandes zu betreten wagt, natürlich auch hier erst ausgiebig verhört wird, mit dem Ergebnis, »generös« und offiziell aus der US-Army entlassen zu werden, erhält er Einblick in seine FBI-Akte: 1100 Seiten stark, angelegt bereits in den Jahren, als er noch der Young Communist League angehörte. 

Victor Grossman, Absolvent der Karl-Marx-Universität Leipzig, arbeitet als Lektor beim Verlag Seven Seas Publishers in Berlin, Hauptstadt der DDR, wirkt am englischsprachigen Auslandsjournals »German Democratic Report« mit, das vom legendären britischen Journalisten John Peet herausgegeben wird, und ist für Radio Berlin International tätig. Von 1965 bis 1968 leitet er das Paul-Robeson-Archiv der Akademie der Künste. 

Victor Grossman ist den Zeitungen, für die er bereits zu DDR-Zeiten schrieb, dem »nd« und der »jungen Welt« treu geblieben, als Leser und Autor. Vor Jahren gründete er zudem ein eigenes digitales Publikationsorgan, um US-Amerikaner über Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland zu informieren. Und er hat außer seinen Erinnerungen (»Crossing the River: Vom Broadway zur Karl-Marx-Allee«, »Ein Ami blickt auf die DDR zurück«) auch ein wundervolles Buch über »Rebel Girls« verfasst, Porträts von 34 kämpferischen US-amerikanischen Frauen. Kurioserweise erschien in der ihren Bürgern und Bürgerinnen nur begrenzt Reisen gestattenden DDR aus seiner Feder auch eine kühne Ermunterung: »Per Anhalter durch die USA«.

Der ehemalige Fahnenflüchtling ist seinen Überzeugungen treu geblieben, verabscheut alle militärischen Abenteuer, geißelt den neuen Rüstungswettlauf und die neoliberale Globalisierung, die auf Kosten der Ärmsten dieser Welt im globalen Süden, aber auch des arbeitenden Volkes in westlicher Hemisphäre geht, deren in Jahrzehnten mühselig erkämpfte Rechte erneut bedroht sind.

Es sei Victor Grossman in der Sprache seiner Großeltern, auf Jiddisch, herzlichst gewünscht: »Biz hundert un tsvantsik.«

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