Amerikanisierung der Alltagskultur

In dieser Welt leben viele Menschen, die nicht wissen, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen, beobachtet Christoph Ruf.

Angesichts von derzeit acht Milliarden Menschen auf der Welt empfiehlt sich häufig ein antizyklisches Vorgehen. Der Grand Canyon ist im August menschenverseucht. Venedig oder Florenz an Pfingsten zu besuchen, ist keine gute Idee. Zumindest dann nicht, wenn man auf der Piazza San Marco beim Auf-den-Boden-Schauen etwas anderes sehen will als Schuhe. Die umgekehrte Proportionalität – je weniger Menschen, desto intensiver das eigene Erleben – gilt, glaube ich, für vieles, was man tun kann, wenn man mal nicht durch Arbeit oder ähnliche Katastrophen fremdbestimmt wird. Ausgenommen sind natürlich Kneipenabende, Fußballspiele oder Festivals. Es sei denn, man ist so weise wie eine Leserin des »nd« aus Niedersachsen, die vor dem Besuch eines Heimspiels ihres Lieblingsvereines einen Spaziergang über die Kernberge einplant, von wo aus das Stadion des FC Carl Zeiss Jena in all seiner Pracht zu sehen ist.

Ansonsten gilt das Allein- respektive Zweisamkeitsgebot allerdings flächendeckend, wenn es darum geht, mal aus dem Trott im eigenen Kopf herauszukommen. Beispielsweise also in Museen, bei Wanderungen. Und bei Zoo-Besuchen. Wer einmal das Glück hatte, frühmorgens an einem verregneten Winter-Wochentag in das Haus mit den Menschenaffen gehen zu können, ohne dabei von lärmenden Kindern und Selfie-Menschen hin- und hergeschubst zu werden, weiß, was ich meine. Beim Blickkontakt mit einem Gorilla, Schimpansen oder Orang-Utan stellen sich Gedanken ein, die die Rückkehr in die lärmende City nicht einfacher machen. Sie haben mit der unüberwindlichen Plexiglasscheibe zu tun, mit der Überbevölkerung, aber auch mit etwas viel Individuellerem. Ganz sicher jedenfalls mit etwas, das sich nur in Ruhe erleben lässt. Ruhe muss man ertragen können. Uns modernen Menschen scheint das immer schwerer zu fallen.

Kürzlich las ich von einem Film, der mich ohne die Begleitumstände wohl nur mäßig interessiert hätte. »Creed 3«, ein »Rocky«-Rip-off. Zu diesem Film versammeln sich nun offenbar Horden von Teenagern, um in den Vorführungen die Säle zu verwüsten. Sie werfen mit Popcorn, schmeißen ein-Liter-Cola-Eimer an die Wände, gehen dem Rest des Publikums auf die Nerven und an die Wäsche. Sie tun alles, damit die Filmvorführung abgebrochen wird. Denn auf »Tik Tok« gibt es eine Challenge, die dazu aufruft. Wenn ein Einzelner im Kino mit Nahrungsmitteln um sich wirft, kommt die Polizei oder die Psychologin. Wenn es mehrere tun, ist es eine »Challenge«.

Eine Chatkontrolle, deren Anwendung ich bei Fußballfans vergangene Woche als übertrieben und nicht rechtsstaatlich kritisiert habe, fällt bei der Zielgruppe flach. Der dümmste Ermittler würde nach dem Auslesen des dritten Handys merken, dass individuelle Kommunikation dort nicht stattfindet. Kennste ein Telefon, kennste alle. Wen um Himmels willen haben die Menschen vor Augen, die die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre fordern?

Als ich in etwa diesem Alter war, kamen zwei Klassenkameraden von einem Auslandsjahr in den USA zurück. Sie berichteten, dass es an den dortigen Colleges üblich sei, zu bestimmten Anlässen einen »food fight« zu veranstalten. Sich also in der Schulkantine mit Pommes oder Colabechern zu bewerfen. Wir haben uns damals alle ungläubig und definitiv mitleidig angeschaut. Echt jetzt? Mit der als Globalisierung getarnten Amerikanisierung der Alltagskultur ist nun auch der »food fight« im zivilisierten Teil der Welt angekommen. In dem Fall dank eines Mediums, das sich keinen besseren Namen als »Tik Tok« hätte geben können. Tik-Tok für Menschen, deren Aufmerksamkeitsspanne nicht länger dauert als zwei Schläge des Sekundenzeigers. 2524608000 Sekunden hat ein Menschenleben, das 80 Jahre dauert. Es ist eine merkwürdige Welt, in der ein Orang-Utan jahrzehntelang eingesperrt leben muss. Und in der so viele Menschen leben, die nicht die geringste Ahnung haben, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen.

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