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Stille Selbstbehauptung
Vor 80 Jahren wurde Gertrud Kolmar in Auschwitz ermordet. Eine neue Biografie würdigt die fast vergessene Dichterin
Zuletzt ist sie nur noch eine Nummer, nicht Gertrud Chodziesner, nicht Gertrud Kolmar, sondern Nummer 179 auf einer Liste, die für den 32. Deportationszug nach Auschwitz erstellt worden ist. Es ist der 2. März 1943, der Tag, an dem sich ihre Spur verlieren wird. Eine gute Woche zuvor hat sie ihrer »lieben kleinen Schwester« Hilde Wenzel, die rechtzeitig in die Schweiz geflohen ist, ihren wahrscheinlich letzten Brief geschickt, begonnen am 10. Februar und beendet am Tag danach. Sie ist müde, erschöpft und sehr einsam. Jetzt, mitten im kalten Berlin, verpflichtet zur Zwangsarbeit in einer Charlottenburger Rüstungsfabrik, ist die Welt düster und bedrohlich geworden. Manchmal ist ihr wieder nach Schreiben zumute. Ihr letztes kleines Werk, eine Erzählung, liegt ein Jahr zurück, »und nun, denk‘ ich, wird es, falls es sich formt, wieder eine Erzählung werden. Ich bin … niedergeschlagen, bedrückt, daß ich als Dichterin im Augenblick nichts kann.«
Gertrud Kolmar ist nicht mehr zu ihrer Geschichte gekommen. Am 27. Februar 1943 wird sie, im Zuge der sogenannten Fabrikaktion, am Arbeitsplatz verhaftet, mit vielen anderen in einen der offenen Güterwaggons gepfercht und nach Auschwitz deportiert. Sie weiß nicht, dass ihr 81jähriger kranker Vater, für den sie lange gesorgt hat, da schon tot ist, gestorben am 13. Februar in Theresienstadt. Sie selbst ist vermutlich gleich nach der Ankunft des Transports in der Gaskammer ermordet worden.
Kenner stellen Gertrud Kolmar in eine Reihe mit Nelly Sachs und Else Lasker-Schüler. Von ihnen ist sie allerdings die Unbekannteste geblieben. Lag’s daran, dass sie so scheu, so zurückgezogen lebte? Dass in ihren bilderreichen Strophen manches Rätselhafte steht? Dass man sich lange kein rechtes Bild machen konnte von ihrem Dasein, ihren Interessen, ihren Nöten? Erst Regina Nörtemann hat vor 20 Jahren dafür gesorgt, dass man in der dreibändigen Werkausgabe, erschienen im Wallstein-Verlag, alles finden kann, was Kolmar hinterlassen hat. Und nun gibt es, nach Nörtemanns Biografie von 1995, auch ein weiteres Buch über die Dichterin. Friederike Heimann schenkt uns eine neue Biografie, aber keine, die nüchtern und aus großer Entfernung auf dieses Schicksal blickt. Sie folgt behutsam den Wegen Gertrud Kolmars, sucht die Straßen, die ihr vertraut waren, und die Häuser, die es nicht mehr gibt, und erzählt einfühlsam, mit sichtlicher Empathie die Geschichte von Komars Leben und verbirgt dabei nicht, wie nah ihr diese wunderbare Dichterin ist.
Der Name Gertrud Kolmar steht zum ersten Mal 1917 auf dem Titelblatt eines Versbandes mit dem schlichten Titel »Gedichte«. Da ist sie 23 Jahre alt. Sie hat, 1894 in der Mitte Berlins als Gertrud Chodziesner geboren, eine haus- und landwirtschaftliche Frauenschule in Leipzig absolviert, in einem Kinderhort gearbeitet, zwei Diplome als Sprachlehrerin erworben, und sie hat sich während des Ersten Weltkrieges in einen Offizier verliebt. Die Beziehung wird in mancher Verszeile ihre Spuren hinterlassen, doch sie endet in einer Tragödie, mit einem Schwangerschaftsabbruch und Nervenzusammenbruch, der womöglich ein Selbstmordversuch war. Sie lebt unauffällig, fast unsichtbar, träumt von einem festeren Ich und schreibt den Traum in ihre Gedichte, die sie in der Regel sorgfältig vor fremden Blicken verbirgt. Nur weil dem Vater, einem kaisertreuen, musisch interessierten Rechtsanwalt, zufällig einige Blätter in die Hände fallen und er den Fund zu einem Verleger trägt, gelangen die frühen Strophen an die Öffentlichkeit.
An ihrer unglaublichen Bescheidenheit ändert das Büchlein von 1917 jedoch nichts. Der Schwester übergibt sie es mit einer Widmung, in der sie nicht Gertrud, sondern »die Verfasserin« ist. Noch im letzten Brief, als Zwangsarbeiterin, wird sie von zwei Kolleginnen, einer Opernsängerin und einer Schauspielerin, erzählen. »Lauter Berühmtheiten«, sagt eine dritte zu ihr. »Bloß wir beide sind nichts und können nichts.« Und sie: »Ich hörte das an, ohne mit der Wimper zu zucken.«
Dem Erstling sind noch zwei weitere Gedichtbände gefolgt: 1934 die Sammlung »Preußische Wappen« und »Die Frau und die Tiere«, aber da, 1938, ist es schon zu spät. Die Pogrome vom November verhindern, dass das Büchlein verkauft werden kann. Es wird eingestampft. Dann kommt es noch schlimmer. »Wir haben gestern unser Haus verkauft«, schreibt Gertrud Kolmar am 24. November 1938 ihrer Schwester. Der Satz klingt harmlos, doch er beschreibt eine Katastrophe. Man hat Vater und Tochter gezwungen, den Besitz in Finkenkrug bei Berlin aufzugeben und ins sogenannte jüdische Viertel von Schöneberg zu ziehen. Dort verbringt Gertrud Kolmar die letzten fünf Jahre, eingeschnürt in ein Leben, das ihr kaum Luft zum Atmen lässt.
Hermann Kasack war der Erste, der gleich nach dem Krieg auf ihre Lyrik aufmerksam machte, aber dann dauerte es lange, bis man ein halbwegs zuverlässiges Bild von ihr hatte. In den Gedichten, 1955 in einem Band des Kösel-Verlags erstmals versammelt, war die Trauer über ihre unglücklichen Liebeserfahrungen genauso bekundet wie die quälende Suche nach der eigenen Identität. Gertrud Kolmar holte weit aus, beschwor Mythen und Geschichte, vertiefte sich, kaum dass Hitler triumphiert hatte, in die Ära Robespierres, widmete sich der Natur und den Verachteten, den Stigmatisierten und Geächteten, fasste das alles in streng gebaute Strophen, die den Einfluss Rilkes nicht verleugnen. Sie war, wenn sie Briefe schrieb, auf der Hut, vermied seit 1933 jede direkte politische Äußerung.
Doch als sie zwischen dem 18. August und 25. Oktober 1933 an ihrem Zyklus »Das Wort der Stummen« arbeitete, machte sie die Barbarei, das Unrecht, die Verfolgung der Juden zum Thema einiger Gedichte. Die Handschrift, sofort aus dem Haus gegeben und versteckt, tauchte erst in den siebziger Jahren wieder auf und wurde 1978 im Buchverlag Der Morgen veröffentlicht. Auch in ihrer prägnanten Prosa, dem Roman »Die jüdische Mutter« und der Erzählung »Susanna«, ist Gertrud Kolmar immer nah an der trostlosen Wirklichkeit.
Sie hat ihren kranken Vater unter keinen Umständen verlassen wollen und ist deshalb in Deutschland geblieben. Ihr Leben ist von Tag zu Tag freudloser geworden, aber sie hat es klaglos ertragen. Friederike Heimann, die im Mai 2014 mit Kolmars Neffen Ben auch die Stolpersteine im Bayerischen Viertel betrachtete, die an Vater Chodziesner und seine Tochter erinnern, beschreibt zum Schluss eindringlich die letzten Monate und Wochen der Dichterin, ihre Tapferkeit, die kurze, vergebliche Liebe zu einem jüngeren Mann, den allmählichen Rückzug aus dem Leben, die besorgten Fragen und Ängste der Schwester. »Ganz ohne Freuden bin ich freilich nicht«, steht im letzten Brief. Und dann berichtet Gertrud Kolmar vom Morgenspaziergang, wie sie bei Sonnenaufgang loszieht, auf der Straße noch einmal zurückblickt und die Farben dieser frühen Stunde genießt. Ein erstaunliches Zeugnis stiller Selbstbehauptung.
Friederike Heimann: In der Feuerkette der Epoche. Über Gertrud Kolmar, Suhrkamp Verlag/Jüdischer Verlag, 463 S., geb., 28 €.
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