Erhard Scherner: Er ist ein Überlebender

Die Geschichte eines Zerrissenen: »Graben«, ein sehenswerter Dokumentarfilm über Erhard Scherner

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
Als China noch ganz anders war: Erhard Scherner vor Ort.
Als China noch ganz anders war: Erhard Scherner vor Ort.

Ein Film über Erhard Scherner. Eigentlich klingt der Name nicht gut. Er klingt nach Walter Ulbricht und Alfred Kurella, nach dem Agitprop-Dichter KuBa (Kurt Barthel) und repressiver SED-Kulturpolitik. Will man davon heute noch etwas hören? Sven Boeck, der das Buch zum Film schrieb und auch Regie führte, will es genau wissen und widmet sich dem exemplarischen Leben Erhard Scherners, geboren 1929, als gelte es, einen bislang unbekannten Kontinent zu entdecken. Das ist ein nobler Ansatz und zudem ein fruchtbarer. Boeck befragt Scherner zugleich mit respektvoller Empathie für den Jahrhundertzeugen – und aus kritischer Distanz zum Ideologen, der er auch war.

So öffnet sich in diesem – um es gleich zu sagen: überaus sehenswerten – Film die Jahrhundertperspektive auf das Leben Scherners, der sich bis heute gern »Berufsrevolutionär« nennt, aber beladen wurde mit einem ihn zur Durchschnittlichkeit verdammenden Funktionärsamt. Denn er war jahrelang persönlicher Mitarbeiter von Alfred Kurella, des (neben Alexander Abusch) wohl dogmatischsten unter den DDR-Kulturfunktionären der 50er und frühen 60er Jahre. Einer, der schon einmal eigenhändig Bilder von jungen Malern, die er missbilligte, von der Wand nahm, so bei der von Fritz Cremer im September 1961 organisierten Ausstellung »Junge Kunst«. Ein gefürchteter Zensor, ganz auf der Linie des Schdanowschen Formalismus-Verdikts gegen die moderne Kunst. Aber das ist nur die eine Seite, die der Film andeutet – denn es geht in »Graben« um den sehr persönlichen Blick Scherners auf diese Geschichte, die auch die seine ist.

»Graben« ist ein guter, weil doppeldeutiger Titel. Hier wird gegraben, immer tiefer, um – jenseits der aburteilenden Schlagworte – etwas Substanzielles zu Tage zu fördern. Aber dieser Graben trennt auch, etwa die Tochter Erhard Scherners von ihrem Vater. Sie spricht im Hintergrund eigene Texte, die sich am Vater, dem Funktionär, abarbeiten. Da ist etwas, das ausgesprochen werden muss, nicht anklagend, aber mit Trauer und Unverständnis angesichts von abstrusen dogmatischen Urteilen, die viel Schaden in der Kulturlandschaft der DDR anrichteten. Aber es geschieht hier aus einer nicht aufgekündigten menschlichen Nähe heraus. Hätte dies nicht nach 1989 ein Modell für den Umgang mit DDR-Geschichte und den Personen, die diese repräsentieren, sein können?

Scherners Lebensgeschichte ist, wie die vieler seiner Altersgenossen, die eines innerlich Zerrissenen, eben weil von Krieg und nachfolgendem Kalten Krieg geprägt. Ein Überlebender! Mit diesem Bewusstsein traten sie nach 1945 an, um etwas Neues zu schaffen, das grundsätzlich anders sein sollte als der Nationalsozialismus, der Krieg und Tod gebracht hatte. Aber es geschah zwangsläufig in Gestalt des Stalinismus, der auf andere Art mörderisch war.

Er selbst schien vorher privilegiert als junger Chorsänger, der etwa in der UFA-Produktion »Die Feuerzangenbowle« auftrat, auch bei propagandistischen NS-Anlässen. Der Chor war außerhalb Berlins untergebracht, man schien in Sicherheit. Doch dann kamen Werber von der SS, die Freiwillige für den »Endkampf« suchten – und ohne einen alten Soldaten mit zerschossenen Gliedern, der ihn beiseite nahm, hätte wohl auch er sich gemeldet. Keiner von denen, die mitgingen, überlebte.

So aber konnte er 1947 sein Abitur machen und wurde sofort Neulehrer. Wie das ging, ohne Studium? Er habe gelesen und gelesen, erinnert er sich. Da hatte er ihn noch, den Traum von der besseren Zukunft. Ein Traum von der Erde, auf der Mensch und Baum, wie er sagt, brüderlich zusammenleben. Wann hat er ihn verloren, diesen Traum? »Niemand bewegt sich nicht in der Zeit«, so hören wir – ein Satz, mit dem man nicht leicht fertig wird, einer, der verheißt und droht zugleich.

Es folgt für Scherner ein Studium, erst in Berlin bei Wolfgang Harich, dem jungen Philosophie-Star, der ihn nach Leipzig schickt, wo Ernst Bloch und Hans Mayer, soeben aus dem US-amerikanischen Exil zurückgekehrt, Professuren innehaben. Viele von denen, die später die DDR-Literatur prägen, studieren dort, Christa Wolf etwa. Sie kommt in seine Seminargruppe und löst gleich einen Eklat aus, der üble Folgen hätte haben können: Sie verliert ihr SED-Parteibuch – eine Steilvorlage für die Inquisitoren neuen Typs.

Scherner will Dichter werden, veröffentlicht auch mehrere Gedichtbände. Aber er gerät – vorerst – auf den literaturwissenschaftlichen Weg, schreibt seine Abschlussarbeit über den Lyriker KuBa (Kurt Barthel). Vergeblich versucht Hans Mayer, ihn davon abzubringen. KuBa war, so Günter Kunert, ein »dichtender Psychopath«, auf militante Weise parteifromm. Ein schwerer Fehler, diese Wahl, aber Scherner ist von dem Pseudo-Majakowski fasziniert. Ein Schritt hin zu den Dogmatikern, weg von Bloch und Mayer.

Und dann tritt jener Mann auf, der ihm zum Schicksal werden sollte: Alfred Kurella. Dessen Leben gleicht einer Odyssee im Parteiauftrag, nach 1933 auf der Flucht vor den Nazis und im Widerstand gegen sie. Kurella ist umtriebig, hält sich in den 20er Jahren viel in der Sowjetunion auf, reist durch Europa, mit dem Auftrag, die Kommunistische Internationale auf Stalins Kurs zu bringen. Seit 1937 besitzt er die sowjetische Staatsbürgerschaft, sein jüngerer Bruder Heinrich wird als angeblicher Verräter hingerichtet. Seiner Treue zu Stalin tut der Mord am Bruder keinen Abbruch. Die deutschen Exilanten im Hotel Lux fürchten ihn.

Nach dem Zweiten Weltkrieg findet sich Kurella plötzlich in Abchasien wieder, dort wo Stalin geboren wurde, am Schwarzen Meer am Fuße des Kaukasus. Hier lebt er als Schriftsteller, Bildhauer und Übersetzer. Ab 1949 ist er wieder zurück in Moskau – will aber schnell weiter in die neu gegründete DDR. Präsident Wilhelm Pieck und Kulturminister Becher wollen diese Rückkehr jedoch unbedingt verhindern (sie wissen warum). Doch für Ulbricht scheint er als harter Kader brauchbar und dieser genehmigt schließlich – aber erst 1954! – die Rückkehr. Und Scherner wird ihm als persönlicher Mitarbeiter zugeteilt.

Wie der heute 94-jährige Scherner da vor seinem Computer sitzend an Kurella zurückdenkt, hat man nicht den Eindruck, dass er bedauert, in seine Nähe geraten zu sein. Das einflussreiche ZK-Mitglied stürzt Mitte der 60er Jahre aus allen Ämtern und vereinsamte. Doch Scherner, dem Funktionärsleben endgültig den Rücken kehrend, hielt Kurella die Treue – und verwaltete sogar nach dessen Tod 1975 dessen Archiv.

Plötzlich war da der nicht erklärbare Sprung. 1957 schickt ihm Franz Fühmann einen Brief nach Peking an den Verlag für fremdsprachige Literatur, in dem er nun arbeitet. Wie er dort hinkam und was China bis heute für ihn bedeutet, auch darüber spricht Scherner mit Boeck. In dem Brief geht es um Scherners Intimus KuBa, der in Berlin gerade ein Spektakel zum 40. Jahrestag der Oktoberrevolution vorbereitet, ein »Monsterprogramm« mit Jeeps, riesigem Kammerchor und Orchester in der Werner-Seelenbinder-Halle, bei dem als Höhepunkt »ein kleiner roter Sputnik ziepend innen in der Seelenbinderhalle kreisum« fliegen soll. Hauptsache, dieser Sputnik stürze nicht in der voll besetzten Halle ab, sorgt sich Fühmann.

Absturz! Das ist eine mahnende Metapher für Scherners weiteres Leben geblieben. Denn als er schließlich von Peking nach Berlin zurückkehren will, nimmt ihn das Flugzeug wegen des Papageis, den er bei sich hat, nicht mit. Er fährt mit dem Zug. Das Flugzeug stürzt ab. Der Papagei hat noch bis vor kurzem gelebt.

»Graben«: Deutschland 2022. Buch und Regie: Sven Boeck, 79 Minuten. Läuft diesen Montag um 18 Uhr im nd-Filmclub im Kino Toni, Antonplatz 1, Berlin-Weißensee. Im Anschluss Paul Werner Wagner im Gespräch mit Sven Boeck und Erhard Scherner.

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