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Dirk von Lowtzow: »Alles muss plötzlich politisch sein«
»Ich tauche auf«: Ein Gespräch mit Dirk von Lowtzow über sein neues Buch, das Autofiktionale und das Autoritäre, Privatheit und Systematik
Ihr neues Buch »Ich tauche auf« ist ein Corona-Tagebuch. War es von Anfang an für die Öffentlichkeit angedacht, oder hat sich erst im Laufe des Schreibprozesses die Idee bei Ihnen entwickelt, daraus eine Buchveröffentlichung zu machen?
Dirk von Lowtzow, Jahrgang 1971, ist Sänger, Gitarrist und Texter von Tocotronic. Anfang des Monats ist sein neues Buch »Ich tauche auf« erschienen, in dem er versucht, der gespenstischen Coronazeit Gestalt zu verleihen. Es ist sein zweites Buch: 2019 veröffentlichte er »Aus dem Dachsbau«, eine Sammlung autobiografischer Texte über seine Jugendzeit, geordnet wie ein Alphabet.
Als Corona-Tagebuch würde ich es ehrlich gesagt gar nicht bezeichnen – obwohl ich da gar nichts gegen habe -, denn dafür kommt mir das Virus und die Pandemie als solche im Kontext des Buches zu sehr als Hintergrundrauschen vor. Ursprünglich hatte ich die Idee, ein Tagebuch zu schreiben, das die Zeit zwischen meinem 49. und 50. Geburtstag umfasst. Dabei hatte ich schon die Vorstellung, daraus dann auch später potenziell ein Buch zu machen. Als ich dann am frühen Morgen des 21. März 2020 mit dem ersten Eintrag des Tagebuchs begann, gab es eben schon die gespenstische Stimmung aufgrund des Lockdowns, der wenige Tage zuvor beschlossen wurde. Ich will natürlich nicht sagen, dass es mir gut gefallen hat. Aber gleichwohl war es doppelt interessant, gerade in dieser Zeit mit dem Schreibprozess zu beginnen.
Haben Sie auch vorher schon Tagebuch geführt oder woher kommt Ihre augenscheinliche Disziplin, bis auf wenige Ausnahmen nahezu täglich aufs Neue Worte auf Papier zu bringen?
Tatsächlich habe ich minutiös jeden Tag geschrieben, diese Systematik war mir sehr wichtig. Das Lektorat meines Verlags hat dann allerdings einige Einträge herausgestrichen, da es doch ein paar Redundanzen und Tautologien gab. In dieser Systematik habe ich vorher auch noch kein Tagebuch geführt. Seit es allerdings Smartphones gibt, schreibe ich mir eigentlich ständig irgendwas auf. Das können dann Ideen für Lieder sein oder Beobachtungen, die ich während meiner zahlreichen Spaziergänge mache. Früher wäre ich allerdings nie auf die Idee gekommen, so ein Notizbuch aus der Tasche zu ziehen und zu schreiben – das wäre mir viel zu prätentiös vorgekommen. Heute empfinde ich es als wahnsinnig praktisch, da ich mein Smartphone immer dabei habe und alles festhalten kann, was mir einfällt.
Rein künstlerisch betrachtet ist das natürlich ein großer Vorteil. Die Kehrseite dessen aber ist, dass man durch die Allgegenwärtigkeit des Geräts auch permanent das Gefühl hat, man könne potenziell immer noch mehr kreieren. Das führt dann auch schnell zu einer immensen Rastlosigkeit.
Das ist sicherlich richtig. Und das merkt man dem Buch glaube ich auch an, dass ich ein Jahr lang täglich damit konfrontiert war, Äpfel vom Ereignisbaum zu pflücken. Nicht umsonst gibt es im Buch auch einen Verweis auf das von mir sehr gern gelesene Buch »Unrast« von Olga Tokarczuk.
In welchem Verhältnis steht diese Unruhe denn allgemein zu Ihrem Bedürfnis, kreativ zu arbeiten – ob musikalisch oder literarisch?
Dafür ist die Unruhe sicherlich die Bedingung, und so war es auch schon mein ganzes Leben. Ich habe schon sehr früh – mit 12 oder 13 Jahren – angefangen, Songs zu schreiben, und ich glaube, das resultierte aus meiner schon damaligen Unfähigkeit, mich einfach mal ganz still mit mir selbst zu beschäftigen. Stattdessen hatte und habe ich eben ein großes Bedürfnis, mich permanent selbst zu entäußern und möglichst jedes Gefühl, das ich empfinde, zu transformieren in einen Song oder eben in literarische Texte. Als Kind habe ich auch noch wahnsinnig viele Comics gezeichnet, was sicherlich auch eine Möglichkeit sein kann, unmittelbare Stimmungen wie Wut oder Aggression auszudrücken.
Kann es denn unmittelbar nach dem Schaffensprozess – entweder des Schreibens eines neuen Songs oder eines neuen Buchkapitels, mit dem man fürs Erste rundum zufrieden ist – auch einen kurzen Moment der inneren Ruhe geben?
Das kann es geben, und es kann einen dann auch durch den Tag tragen, aber dann verpufft es, und dann muss man schon wieder von vorne anfangen.
»Von peinigenden Selbstzweifeln bis zur massiven Selbstüberschätzung ist es nur ein kurzer Weg«, schreiben Sie an einer Stelle des Buches, als Sie das damals noch unveröffentlichte »Nie wieder Krieg«-Album hörten. Wendet man diese Feststellung auf Ihr aktuelles Buch an: Wie geht es Ihnen heute damit – überwiegen Selbstzweifel oder Selbstüberschätzung?
Das ist ein bisschen fies (lacht). Letztlich ist immer beides da. Was ich an der Stelle in dem Buch meine, ist, dass man sich fragt: Taugt das was? Und dann geht es wiederum sehr schnell, dass man sich überschätzt und eine Hybris bekommt und denkt, das ist jetzt überhaupt das Beste, was jemals gemacht wurde. Das ist natürlich auch Quatsch. Im besten Falle pendelt es sich dann irgendwann so in der Mitte ein. Ich muss aber auch sagen: Ein Buch zu schreiben ist für mich nicht so emotional wie die Arbeit an einem neuen Album. Das ist vielleicht auch normal. Ein Buch zu schreiben ist wahrscheinlich ein etwas rationalerer Prozess, und deshalb ist das Gefühl diesbezüglich auch nicht ganz so stark bipolar geprägt wie die Auseinandersetzung mit dem Album, die ich in dem Buch schildere.
Ich denke auch, dass man durch den Prozess des Schreibens mehr Distanz zu sich selbst aufbauen kann als beim Musikmachen.
Ja, ein bisschen vielleicht. Natürlich ist es so, dass das Tagebuchschreiben die persönlichste und offenbarenste Tätigkeit ist, die man sich so vorstellen kann. Aber gleichzeitig – und das ist das Interessante – auch wieder nicht. Denn in dem Moment, in dem man anfängt, über sich selbst zu schreiben, fiktionalisiert man ja schon. Und dadurch findet automatisch eine Form der Distanzierung zu sich selbst statt. Diese Form der Selbstverfremdungstaktiken kann man beim Musikmachen natürlich auch anwenden, und das ist auch etwas, was wir mit Tocotronic bis auf die Spitze getrieben haben, sodass man dann nie weiß: Wer spricht da eigentlich? Ist das authentisch oder künstlich? Aber man kann bei der Musik nichts dagegen machen, man schimmert als schaffende Person immer selber durch. Das liegt an der Kraft der Musik. Denn wenn es am Ende nicht doch emotional, nah, authentisch – oder was für Wörter man auch immer verwenden will – ist, dann ist es letztlich kein Lied.
Mehr noch als beim Vorgänger »Aus dem Dachsbau« ist »Ich tauche auf« ein überaus intimes, Verletzlichkeit offenbarendes Buch. Stellenweise minutiös schildern Sie alltägliche Marotten, Gedankenspiralen, körperliche Leiden oder kleine Panikattacken. Haben Sie sich im Vorfeld generell Gedanken darüber gemacht, was Sie preisgeben möchten und was Sie möglicherweise als zu privat erachten? Was waren dafür die handlungsleitenden Parameter?
In Bezug auf mich selbst hat das eigentlich keine Rolle gespielt, denn da habe ich kaum Hemmungen. Durch den Schreibprozess wird schon so viel verfälscht und fiktionalisiert, dass ich am Ende ohnehin nicht mehr das Gefühl habe, als würde es noch um mich gehen. Deshalb stört mich das nicht. Für mich fängt die angesprochene Privatheit immer da an, wo andere Personen aus meinem Umfeld involviert sind, die möglicherweise instrumentalisiert, verletzt oder manipuliert werden könnten. Das wäre für mich die Grenze, und da bin ich an einigen Stellen im Buch schon haarscharf dran vorbeigeschrammt. Das Buch ist auch ein Liebestagebuch in vielerlei Hinsicht: Es geht um die Liebe zu Freunden, zu J. oder dem Bärchen, und das fand ich auch wichtig zu beschreiben. Aber da muss man dann auch immer schauen, dass man das nicht ohne die Einwilligung der Beteiligten offenbart. Das fände ich moralisch fragwürdig und das ließe sich für mich auch nicht mehr durch den berühmten Rückgriff auf die Kunstfreiheit rechtfertigen.
Sie haben gerade das Bärchen angesprochen, das eine prominente Rolle in Ihrem Buch spielt. Was hat es damit auf sich?
An der Stelle würde ich ungern Selbstdeutungen vornehmen, denn das würde ein bisschen den Zauber zerstören. Grundsätzlich kann man das Bärchen als Cartoonfigur betrachten, wie ohnehin das ganze Buch stark Comic-beeinflusst ist, durch das Slapstickartige oder durch Verknappungen. Es kann natürlich auch ein Stofftier oder – wenn man es küchenpsychoanalytisch deuten will – ein kleines, unbekanntes Objekt oder eine Abspaltung von einem selbst sein. Aber diese Deutung würde ich als Autor ungern vorgeben.
Wenn man das Buch in Ihr Gesamtwerk einordnet, führt es jenen Prozess weiter fort, der mit dem »Roten Album« von Tocotronic 2015 begonnen wurde und womit – um an dieser Stelle mal mit Olaf Scholz zu sprechen – eine Zeitenwende innerhalb Ihres Schaffens eingeleitet wurde. Es fällt auf, dass Sie seitdem konkreter, aber auch autofiktionaler schreiben. Würden Sie dem zustimmen? Und wenn ja, was war für Sie rückblickend ausschlaggebend dafür, künstlerisch neue Wege zu beschreiten?
Ja, dem würde ich zustimmen, vor allem rückblickend. Im Prozess damals habe ich das vielleicht noch gar nicht so bemerkt. Aber nach dem Album »Wie Wir Leben Wollen«, das 2013 erschien, dämmerte es uns als Band, dass wir damit auch ein Limit erreicht hatten in Bezug auf Verrätselung, Verkopftheit und Diskursivität, weshalb uns auch irgendwie klar war, dass wir was Neues probieren müssen. Rückblickend sind es vor allem zwei Stücke des »Roten Albums«, die paradigmatisch für diese Zeitenwende stehen, und zwar »Ich öffne mich« – was sich ja allein schon im Titel andeutet – und der Hiddentrack »Date mit Dirk«. Gerade letzterer war für mich durch die Art der Selbstbegegnung ein echter Durchbruch. Und ich war da, glaube ich, auch stark von autofiktionaler Prosa – wie etwa dem Buch »Torpor« der US-amerikanischen Schriftstellerin Chris Kraus – beeinflusst, die ich damals verstärkt gelesen habe, nachdem ich vorher viele Jahre lang stärker der Theorie zugeneigt war, die auch für Tocotronic lange Zeit ein wichtiger Bezugspunkt war. Da sind wir gegenwärtig als Band sicherlich auch ein Stück weit vom Zeitgeist des »autofiktionalen Turns« geprägt, der sich dann ja auch im Erfolg von Büchern wie »Rückkehr nach Reims« von Didier Eribon widergespiegelt hat …
… und Ende des vergangenen Jahres in der Vergabe des Literaturnobelpreises an die französische Schriftstellerin Annie Ernaux gipfelte.
Genau. Normalerweise arbeite ich ja auch gern antizyklisch und gegen den Zeitgeist, aber in diesem Falle verstehe ich die Begeisterung der Öffentlichkeit, die dieser Form des Schreibens entgegengebracht wird. Zumal auch auffällig ist, dass ein Großteil der autofiktional Schreibenden – ich denke neben Kraus etwa an Julia Schoch, Deborah Levy oder Celia Paul – weibliche Personen sind und damit auch ein weiblicher Blick auf die Welt einhergeht, was mein Interesse an der Form des Schreibens sicherlich zusätzlich bestärkt hat.
An einer Stelle des Buches schreiben Sie auch über Ihre heutige Abneigung gegenüber provokativer Theorie, die Sie in Ihrer Vergangenheit zuweilen noch bewundert hätten. Würden Sie Autofiktionalität als Antipoden der Theorie betrachten?
Ich finde, am interessantesten ist es eigentlich, wenn es auch im autofiktionalen Schreiben einen theoretischen Überbau gibt, der so durchschimmert und nicht nur reine Nabelschau betrieben wird. In der angesprochenen Stelle im Buch geht es eher um die erschreckend Corona-leugnerischen Aussagen des italienischen Philosophen Giorgio Agamben, den ich in der Vergangenheit nicht zuletzt aufgrund des provokativen Gehalts seiner Philosophie noch geschätzt habe, wo sich dann aber in der Pandemie plötzlich gezeigt hat, wie schnell der Bogen auch überspannt ist und Provokation in Querdenkerei kippen kann.
In einer anderen Szene beschreiben Sie Ihre Leidenschaft, sich selbst zu interviewen. Welche Frage in Bezug auf Ihr neues Buch möchten Sie sich daher an dieser Stelle unbedingt noch selbst stellen?
Oh, das ist wieder eine fiese Frage (lacht). Na ja, das ist keine direkte Leidenschaft von mir, aber ich habe das vor allem als Kind und Jugendlicher gern gemacht, weil es für mich die Möglichkeit war, mir in meinem damaligen Kleinstadtkosmos ganze Musiker-Karrieren ausdenken zu können. Dabei war ich natürlich auch stark beeinflusst von Zeitschriften wie »Spex« und »Musikexpress« und anderen und den darin enthaltenen Storys über meine damaligen Lieblinge wie etwa Morrissey, Siouxsie Sioux, Jeffrey Lee Pierce oder Kim Gordon. In der angesprochenen Stelle im Buch geht es vor allem um die Vorbereitung für die Promophase von »Nie Wieder Krieg« und die Herausforderung, dass einem heute vonseiten des Journalismus immer lauter Bekenntnisse abverlangt werden. Das ist auch so eine Zeitenwende: Ich erinnere mich, dass zu Zeiten des Tocotronic-Albums »Kapitulation« das Politische in unserer Musik häufig eher als störend empfunden wurde. Heute habe ich hingegen den Eindruck, dass das Politische grundlegend geworden ist für die Vermarktung von Produkten. Alles muss plötzlich politisch sein. Als Künstler wird man permanent gefragt: Ist dies und jenes politisch? Und ich als Künstler kann nur sagen: Du kannst es doch hören. Das Politische wird dann zu einer Art Qualitätsmerkmal erhoben, völlig ungeachtet der Tatsache, dass es ja auch schreckliche politische Kunst gibt.
Ja, total. Zumal diese Art der Frage ja auch was stark Autoritäres hat, wenn die Kunstschaffenden selbst permanent vorgeben sollen, was konkret die Aussage ihrer Kunst sein soll – die es in der eindeutigen Form ja in der Regel auch nicht gibt.
Genau, und an der Stelle des Buches geht es im Grunde genommen auch um meine tief empfundene Abneigung gegen alles Autoritäre. Und bei solchen Fragen beschleicht mich dann mitunter das Gefühl: Das Autoritäre kommt da durch die Hintertür wieder rein.
Dirk von Lowtzow: Ich tauche auf. Kiepenheuer & Witsch, 240 S. geb., 22 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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