Frei wie nie zuvor

Morgen beginnt in Ostwestfalen ein Fest der jüdischen Kunst

  • Jana Talke
  • Lesedauer: 5 Min.
Am Freitag fragen sich Alexander Estis und Gundula Schiffer: »Woher kommen wir, was erben wir, wohin gehen wir?«
Am Freitag fragen sich Alexander Estis und Gundula Schiffer: »Woher kommen wir, was erben wir, wohin gehen wir?«

Jüdisches Leben in Deutschland, das gibt es eigentlich, seit es deutsches Leben gibt, dennoch assoziieren die meisten damit noch immer ausschließlich den Holocaust. Auch wenn eine solche Reaktion verständlich ist, so wird es dennoch Zeit, den Blick vermehrt auf die gegenwärtige jüdische Kulturlandschaft zu richten.

Denn das kulturelle deutsch-jüdische Leben könnte bald wieder zu seinen einstigen Höhen in der Vorkriegszeit zurückkehren. Trotz des stetig zunehmenden Antisemitismus waren in der Weimarer Republik jüdische Künstler in vielen Domänen erfolgreich. Herwarth Walden trieb als Publizist und Galerist den deutschen Expressionismus voran und war einige Jahre mit der Dichterin und führenden deutschen Expressionistin Elke Lasker-Schüler verheiratet. Alfred Döblin war mit seinen Romanen Wegbereiter der deutschen literarischen Moderne, Kurt Tucholsky zählte zu den wichtigsten Journalisten der Weimarer Republik und der Künstler Max Liebermann wurde Mitbegründer der Berliner Secession. Was all diese Menschen gemeinsam haben? Sie waren deutsche Juden.

In der Nachkriegszeit waren jüdische Stimmen im deutschen Kulturbetrieb nur noch vereinzelt vorhanden, aber nicht weniger kraftvoll als zuvor – von der Literaturnobelpreisträgerin Nelly Sachs und ihrem Kollegen und Freund Paul Celan, einem der berühmtesten deutschsprachigen Lyriker des letzten Jahrhunderts, bis hin zum Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, der wie kein anderer die deutsche Literaturlandschaft von der Nachkriegszeit bis ins 21. Jahrhundert geprägt hat.

Der Liedermacher Wolf Biermann ist ebenfalls Jude, wenn auch nur väterlicherseits. Dies rührt an eine komplizierte Debatte innerhalb der jüdischen Welt: Wann gilt man eigentlich als Jude? Nur wenn man im jüdischen Glauben groß geworden ist? Oder auch wenn man nur eine jüdische Großmutter hat? Diese Problematik ist wesentlich für eine Personengruppe, die heute die Mehrheit der Juden in Deutschland ausmacht – Aschkenasen aus dem postsowjetischen Raum. Diesen gewährte die Bundesrepublik in den Neunzigerjahren, als sogenannte Kontingentflüchtlinge einzureisen, soweit sie nachweisen konnten, dass sie jüdische Wurzeln hatten.

Dies war nicht schwer – Religionsausübung war in der UdSSR bekanntlich verboten, Antisemitismus allerdings mitnichten, und so wurde in Sowjetpässen unter »Nationalität« vermerkt, wer Jude war – einerlei, ob Halbjude oder nicht, ob Mutter- oder Vaterjude. Das ergab nicht wenige »Vaterjuden«, die nach ihrer Immigration in den Westen desillusioniert waren – denn nach orthodoxem jüdischem Gesetz, welches auch die europäische Perspektive heute prägt, gelten sie als nichtjüdisch. Dabei wurden sie in der Sowjetunion ihr Leben lang als Juden diskriminiert. Die seelischen Wunden, die die UdSSR Menschen mit jüdischen Wurzeln zugefügt hat, aber auch Gedanken zur neuen Heimat Deutschland, zu Identität und Religion, finden in den Texten von Migranten vorwiegend aus Russland und der Ukraine Ausdruck, die die deutschen Intellektuellenkreise der letzten Jahrzehnte aufgemischt haben.

Einer der bekanntesten jüdischen Autoren mit osteuropäischen Wurzeln ist zweifelsfrei der Schriftsteller Maxim Biller, andere kennen eher den polemisch-poppigen Wladimir Kaminer. Aber es gibt auch eine neue Riege von Kunstschaffenden, die in den Neunzigern als Kinder nach Deutschland kamen, wie die Autorinnen Lena Gorelik, Sasha Marianna Salzmann, Olga Grjasnowa, Slata Roschal. Oder die Filmemacher Leo Khasin und Arkadij Khaet. Es bleibt abzuwarten, wohin sich der Blick dieser Generation in den nächsten Jahren wenden wird, nachdem das Thema Immigration sich nach und nach erschöpft und andere – wie die Pandemie, Russlands Krieg mit der Ukraine oder die Wirtschaftskrise – in den Vordergrund rücken.

Eine zweite Auswanderungswelle hat in den letzten Jahren die deutsche Kulturlandschaft gewandelt – junge israelische Menschen, welche meist aus politischen Gründen ihre Heimat verlassen und vor allem nach Berlin ziehen. Darunter sind Kunstschaffende wie die renommierte Multimediakünstlerin Yael Bartana, die vor zwei Jahren in Berlin für Furore sorgte, als sie bei ihrer Soloausstellung im Jüdischen Museum Selbstporträts in SS-Uniform präsentieren wollte (das Museum unterband diesen Versuch), und die Kuratorin und Filmemacherin Hila Peleg. Die ebenfalls in Berlin lebende Journalistin Tal Alon gründete das erste hebräische Magazin in Deutschland seit dem Holocaust, »Spitz«. Die Organisation Dagesh bringt jüdisch-deutsche, jüdisch-slawische und jüdisch-israelische Künstler zusammen und richtet Ausstellungen und Festivals aus. Berlin ist wieder Epizentrum des jüdischen Kulturlebens in Deutschland, wie schon vor hundert Jahren.

Im ostwestfälischen Herford und im nahe gelegenen Wasserschloss Brake in Lemgo wird ab Mittwoch ein dreitägiges Fest der jüdischen Kunst abgehalten, mit Lesungen, Musik, Vernissagen und einem Festmahl, in Zusammenarbeit mit der ortsansässigen jüdischen Gemeinde organisiert von der Hebräisch-Übersetzerin und Dichterin Gundula Schiffer, dem Pianisten Matitjahu Kellig und dem Autor Alexander Estis.

Das Ganze beginnt am Mittwochabend um 18.30 Uhr mit der Vernissage der Ausstellung der Gemälde des Malers und Grafikers Nikolai Estis sowie Reliefs und Leinwände der Bildhauerin und Malerin Lydia Schulgina im Schloss Brake in Lemgo. Am Donnerstagabend diskutieren dort dann Alexander Estis, Matitjahu Kellig und Gundula Schiffer über Fragen der Zugehörigkeit und jüdischen Identität – mit anschließender Lesung von Schiffer und Estis, musikalisch unterstützt von der Sopranistin Hyeona Lim und der Violinistin Sua Lim Musik, die Felix Mendelssohn Bartholdy erklingen lassen. Der Freitag findet in der Jüdischen Gemeinde Herford-Detmold statt. Um 14.30 Uhr wird dort der Dokumentarfilm »King of the Jews« von Yair Qedar gezeigt. Und um 17 Uhr fragen sich Alexander Estis und Gundula Schiffer: »Woher kommen wir, was erben wir, wohin gehen wir?« Sie lesen literarische Texte und unterhalten sich über jüdische und deutsche Familiengeschichten, begleitet von Kantor Jakow Zelewitsch und Julia Zelewitsch am Klavier.

Jüdische Kultur in Deutschland, sie ist vielfältiger und freier als je zuvor.

29.3.-31.3. Fest der jüdischen Kunst in der Jüdischen Gemeinde Herford-Detmold und im Schloss Brake in Lemgo

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