Ham wa nicht! Oder doch?

Ein Osterspaziergang durch die DDR – am Spreeufer in Berlin

Kannst du das mit der elenden Klingelei nicht lassen? Ich komm gleich runter. Dann gibt es was hinter die Löffel, das kann ich dir sagen!«, tönt eine zornige Männerstimme aus der Sprechanlage. Drückt man einen Klingelknopf höher, seufzt eine Frauenstimme im sächsischem Dialekt erleichtert: »Nu, uf den Elektriker ham wa schon 14 Tage gewartet.« Eine weitere Hausbewohnerin lehnt hingegen strikt ab, den Bittsteller einzulassen: »Nee, mir haben schon im Betrieb für die Volkssolidarität gespendet.« Freundlicher die nächste Reaktion: »Wer, die HGL? Natürlich komme ich zum Subbotnik. Ich sag’s Ihnen aber gleich: Ich hab’s im Kreuz, ich kann nur leichte Aufgaben machen.« Man ist amüsiert. Origineller Einfall, diese Sprechanlage, die sich hier – nicht ganz korrekt – neben einer Fahrstuhltür befindet, von wo aus es in eine typische DDR-Plattenbauwohnung geht.

Seit einer Woche ist das DDR-Museum in Berlin wieder geöffnet. Es war ebenfalls von der »Flutkatastrophe« am 16. Dezember vergangenen Jahres betroffen. Man erinnere sich: In den frühen Morgenstunden barst mit lautem Knall der weltgrößte AquaDom in einem nahegelegenen Hotel. Eine Million Liter Wasser ergossen sich über die Karl-Liebknecht-Straße und anliegende Gebäude, darunter in das Museum am Spreeufer gegenüber dem Berliner Dom. »Kein schöner Tag«, erinnern sich dessen Betreiber. »Knöcheltief stand das Wasser«, berichten Quirin Graf Adelmann von Adelmannsfelden und Gordon Freiherr von Godin bei der Pressevorbesichtigung.

Ja, das war schon mal die erste Überraschung: Ausgerechnet Aristokraten sollen ein Faible für den untergegangenen Arbeiter- und Bauernstaat haben, zu dessen Grundverständnis »Junkerland in Bauernhand« gehörte? Einschließlich der Verstaatlichung von vor Jahrhunderten aus einstigem Gemeineigentum (Allmende) von Privatpersonen unrechtmäßig angeeigneter Wälder und Wiesen, protziger Schlösser und Gutshäuser, die in der sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR zu gemeinnützigen Kinderheimen, Kulturhäusern und Kliniken umgebaut worden sind. Und nach 1990 großteils nach bundesdeutschem »Recht« wieder »zurückgegeben« worden sind. 

Nun, des einen Adelstitel ist angeheiratet: Gordon Freiherr von Godin, Jg. 1970, ist in Prenzlauer Berg aufgewachsen, lernte Hotelfachmann und fingiert seit 2016 als Direktor des DDR-Museums. Quirin Graf Adelmann von Adelmannsfelden verlebte seine Kindheit im französischen Montpellier und übersiedelte 1993 nach Berlin, um hier Rechtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu studieren und sich Immobiliengeschäften zu widmen; er ist geschäftsführender Gesellschafter des 2006 ins Leben gerufenen Museums. Beide sind der Überzeugung, dass die Schlachten der Vergangenheit geschlagen sind und auf die DDR heute vorurteilsfreier und milder geblickt wird als in den Jahrzehnten zuvor. Dies beträfe insbesondere das Bildungswesen und die Emanzipation der Frau. Derartige Statements wecken die Neugier, wie die DDR hier präsentiert wird.

Dafür maßgeblich verantwortlich ist Stefan Wolle, seit Anbeginn wissenschaftlicher Leiter des Museums, als DDR-Kenner ausgewiesen durch die eigene Vita sowie als Autor zahlreicher Publikationen und Ausstellungen über den zweiten deutschen Staat. 1950 in Halle an der Saale geboren, hat er Geschichte an der Humboldt-Universität studiert, war zeitweise aus politischen Gründen relegiert, arbeitete sodann an der Akademie der Wissenschaften der DDR und gehörte in der sogenannten Wendezeit dem Unabhängigen Historikerverband an.

Man habe »aus der Not eine Tugend« gemacht, erklärt Wolle. Die notwendige Sanierung sei als Chance für eine inhaltliche Neugestaltung genutzt worden. Stolz sind alle drei Männer, innerhalb von drei Monaten die Wasserschäden behoben und eine erweiterte, aktualisierte Ausstellung präsentieren zu können – in einer Rekordzeit, die bei staatlichen Museen kaum denkbar ist. Immensen Schaden habe das Kulturgut nicht erlitten, versichert das Trio. Zwar habe der Salzgehalt des geplatzten Aquariums eine Schreibmaschine der Marke »Erika« festgefahren, doch plage sie keineswegs die Sorge, über nicht genügend Austauschexponate zu verfügen. Mit mehr als 300 000 Objekten verfügt das Museum über eine der weltweit größten Sammlungen zur DDR. Um diese zu ergattern, mussten weder der Graf Adelmann von Adelmannsfelden noch der Freiherr von Godin, auch Wolle nicht, auf Dachböden klettern, über Flohmärkte streifen oder Auktionen besuchen, wie sie auf nd-Nachfrage gestanden. Der Reichtum des Museums verdanke sich der enormen Spendenbereitschaft vormaliger DDR-Bürger.

Über 585 000 Besucher jährlich zählte man vor Corona und hofft, gewiss nicht zu Unrecht, daran wieder anknüpfen oder diese Zahl gar toppen zu können. Ein Garant hierfür dürften schon allein die Berlin-Touristen sein. Bereits am Wiedereröffnungstag wurde eine Menschenschlange vor dem Museum gesichtet.

Eingangs begrüßt den Interessierten, wen wundert’s, ein Trabant 601, nicht himmelblau, wie in einem DDR-Schlager bejubelt. Aber über’s Land fahren kann man mit ihm: Computersimulation macht’s möglich. Dahinter eine himmelblaue »Schwalbe«, ein Moped der Marke Simson aus dem Suhler IFA Kombinat »Ernst Thälmann«; auch ihn sieht man heute noch über ostdeutsche Straßen rollen. Ebenfalls ein Kultgefährt. Ein paar Schritte weiter ein protziger Volvo aus der Fahrbereitschaft der DDR-Regierung. Während Walter Ulbricht und Genossen der Tschaika aus dem Awtomobilny Sawod im sowjetischen Gorki genügte, musste es für Erich Honecker und Entourage eine Westlimousine sein.

Nachdem auf einer überdimensionierten Karte die Teilung Deutschlands in Besatzungszonen nach dem Sieg über den Hitlerfaschismus 1945 und die Gründung der beiden deutschen Staaten vier Jahre darauf informiert wird, sind die nächsten Kapitel Partei und Staat, Propaganda sowie der realsozialistischen Volks- und Planwirtschaft und den Gewerkschaften als »Transmissionsriemen der Partei« (Lenin) gewidmet. Die Volkskammer wird als »klägliche Karikatur eines Parlaments« etikettiert: »Keine Debatten, keine Zwischenrufe, kein Widerspruch. Hier wurde abgenickt, was die SED-Führung verfügt hatte.« Ein einziges Mal gab es Gegenstimmen. Am 9. März 1972 votierten einige CDU-Abgeordnete gegen das Gesetz zur Schwangerschaftsunterbrechung. »Doch selbst das war vorher abgesprochen.«

Von einer »Zustimmungsdiktatur« ist die Rede. »Das Politbüro war eine Art Überregierung.« Das Verdikt »Unrechtsstaat« wird in dieser Ausstellung nicht strapaziert, dafür die rhetorische Frage erhoben: »Ein Rechtsstaat also?« Es folgt gemäß dem im DDR-Volksmund populären Radio Jerewan die Antwort: »Im Prinzip ja … aber nur, wenn es der Partei in den Kram passte.« Warum in diesem Kontext aber ausgerechnet das (gerade im Vergleich zur alten Bundesrepublik) progressive Arbeits- und Familienrecht der DDR denunziert wird, erschließt sich nicht.

Eine Fotowand, den »Bruderkuss« zwischen Michail Gorbatschow und Honecker festhaltend, informiert, einem Adventskalender gleich zu öffnen, über die Beziehungen zur Sowjetunion – vom legendären Auftritt des Alexandrow-Ensembles der Roten Armee auf dem zerstörten Gendarmenmarkt 1948 über Dia-Abende der DSF (Deutsch-Sowjetische Freundschaft) bis hin zu den »Druschba-Leuten«, vornehmlich FDJler, die in den 80er Jahren die Erdgasleitung verlegten, von der auch noch das »vereinte Deutschland« profitieren sollte. »Der Lohn war nicht viel höher als daheim, aber die bezahlten Überstunden und Trassenzuschläge läpperten sich«, liest man. Kuverts und Postkarten bezeugen, dass Brieffreundschaften nicht nur in die Sowjetunion, sondern auch in andere sozialistische Staaten gepflegt wurden. 

An einer anderen Stellwand, die in Paradeuniform und mit MPi vor der Brust marschierende NVA-Soldaten zeigt, kann man Türen öffnen, die Einblicke in den Alltag der Wehrdienstleistenden gewähren, der sich nicht allzu sehr von jenem in Armeen anderer Staaten, auch der Bundeswehr, unterschieden haben dürfte. Beim Öffnen eines Spinds belfert die Stimme eines Unteroffiziers: »Das sieht ja aus wie bei Hempels unterm Sofa. Soldat Schulz, drei Wochen Scheißhausdienst!« Abgehandelt werden auch die »Kampfgruppen der Arbeiterklasse«, die indes gewiss nicht bereit zum Einsatz in einem Bürgerkrieg gewesen wären, wie eine Zwischenüberschrift suggeriert. Jedenfalls gibt es hinlängliche Beispiele aus dem dramatischen Herbst ’89, die das Gegenteil bezeugen. Hinter weiteren Türen und in Schubladen finden sich Wehrdienstausweis, Gasmaske und ein Diensttelefon, aus dem die Stimme von Ernst Busch ertönt: »Spaniens Himmel breitet seine Sterne über unsere Schützengräben aus ….« Nicht weit entfernt davon wird das Grenzregime der DDR anhand eines Modells veranschaulicht, in Vitrinen zu bestaunen gibt es eine Tretmine, Fernrohr, Utensilien der Passkontrolle sowie den nachempfunden Koffer eines »Ausreisenden«.

Und natürlich fehlt das obligatorische Mauersegment nicht. 

Im Abschnitt Volkswirtschaft darf man raten: »Was haben Schiesser-Unterhosen und Pepsi-Cola gemeinsam?« Sie gehörten zu den West-Produkten, die im Osten produziert wurden. Gestaltungsproduktion hieß das und habe beiden Seiten gedient: »Westunternehmen profitierten vom niedrigen Lohnniveau in der DDR, die DDR bekam moderne Industrietechnik, die Bevölkerung hatte wenig davon.« Nur ein kleiner Teil der Erzeugnisse blieb im Land, wurde in Exquisit- und Delikat-Läden oder im Intershop teuer verkauft. Während es dort fast alles gab, lautete die Standardformel im HO wie im Konsum: »Ham wa nich.« Betont wird in der Ausstellung aber auch: »In der DDR herrschten weder Not noch Elend.« Zu ergänzen wäre: In jenem Staat war nicht jedes fünfte Kind von Armut bedroht wie in der heutigen Bundesrepublik. Und auch wenn nicht alle begehrten Waren immer und überall ausreichend vorhanden waren, Einfallsreichtum, reger Tauschhandel, Westpakete und Devisen (wie auch immer ergattert) erfüllten Träume. Eigentlich war das fehlende Warenüberangebot umweltfreundlich. Allerdings: »Man kaufte nicht, was man brauchte, sondern das, was vorrätig war.«

Profiteur des »Billiglohnlandes« DDR war übrigens auch das westdeutsche Unternehmen Salamander, das sich – wie hier ergänzt sei – in der NS-Diktatur an der Ausplünderung vor allem jüdischer Zwangsarbeitern bereichert hatte. Es wäre trefflich über die Frage zu diskutieren, warum sich die Führung des Staates, der den Antifaschismus zur Staatsdoktrin erklärt hatte, zu Geschäften mit Nazi- und Kriegsverbrechern hinreißen ließ. Man denke unter anderem an den Empfang Honeckers in der Kruppschen Villa Hügel in Essen während seines offiziellen Besuches in der Bundesrepublik 1987.

»Jeder Mann an jedem Ort, einmal in der Woche Sport.« Wer kennt diese Aufforderung des Partei- und Staatschefs Ulbricht nicht? »Körpererziehung im Kindergarten«, Breitensport, Betriebssportgemeinschaften und frühe Talentsuche und -förderung waren die Basis und das Erfolgsgeheimnis des DDR-Leistungssports, in der Ausstellung mit stolzer Olympiastatistik und Medaillen belegt. Doping allein hätte nicht dazu geführt. Nach dem Genuss von »Sommer, Sonne, Strand«, Urlaub in der DDR, versinnbildlicht durch Picknickkoffer, Frisbyscheibe, Tauchausrüstung, Fotoapparat sowie – nicht zu vergessen laut eines Hits von Kurt Demmler, intoniert von Nina Hagen – einen Farbfilm von ORWO, steht man schließlich vor der erwähnten Fahrstuhltür, durch die man in eine Typenwohnung der Serie WBS 70 gelangt.

Auch hier alles authentisch, mit Blumen- und Ornament-Tapete, praktischer Einbauküche samt Durchreiche zur »guten Stube«. Aber zum Glück nicht mit dem klischeehaften röhrenden Hirsch überm Sofa, stattdessen wahrhaftiger mit einem Reprint von Paul Gauguins »Frauen von Tahiti«, vermutlich nebst Walter Womackas »Paar am Strand«, dem am häufigsten DDR-Wohnzimmer zierenden Kunstdruck. Im Kühlschrank der Marke »Foron« wie auch in der passgerechten Schrankwand »Carat« und in den Badezimmermöbeln wird Auskunft gegeben über Ernährung, Hygiene, Gesundheitswesen sowie Lese-, Fernseh- und Trinkgewohnheiten der DDR-Bürger. In der Küche kann sich der Besucher typische DDR-Rezepte ausdrucken: Würzfleisch, Gulasch, Soljanka etc. Und im Schlafzimmer darf man sich digital im Schick von PRAMO (Praktische Mode) oder JUMO (Jugendmode) einkleiden.

Der Rundgang mündet in Untergang, Ende und Neuanfang. Berichtet wird über die Entstehung oppositioneller Gruppen seit Beginn der 70er Jahre vornehmlich unter dem Dach der Kirchen, über die auch nach Westen ausstrahlende Initiative »Schwerter zu Pflugscharen« und die Umwelt-Bibliothek an der Berliner Zionskirche, die 1987 einem rabiaten Angriff der Staatsmacht ausgesetzt war. Ausgestellt ist eine Druckmaschine, wie sie damals beschlagnahmt wurde. Zu begehen ist eine nachgebaute Gefängniszelle, lugen darf man in einen Verhörraum. Etwas zum Gruseln muss immer dabei sein. Und natürlich fehlt ein Mauersegment nicht.

Was nun leistet das neu gestaltete DDR-Museum? Zweifellos: Geschichte zum Anfassen. Spieltrieb wird ausreichend bedient. Informationen in Hülle und Fülle. Das Design raffiniert. Und sonst? Ein Kaleidoskop? Panoptikum? Abenteuerland? Von allem etwas: DDR en miniature. Kaum ein Aspekt ist ausgelassen – bis auf die Kultur. Literatur, Theater, Film schienen eines eigenen Kapitels nicht wert. Weil nicht mit der Klammer ideologisiert und parteikonform zu fassen? Dabei findet sich vieles von dem, was in der Ausstellung an der DDR kritisiert wird, schon in den Werken etwa von Volker Braun, Stefan Heym, Heiner Müller oder Christa Wolf. Ausgeblendet ist ebenso der Anspruch, mit verhängnisvoller deutscher Geschichte zu brechen und eine gesellschaftliche Alternative zu bieten. 

Ansonsten gibt es für jeden etwas. Außer für eingefleischte DDR-Hasser. Wer mag, kann hier der Nostalgie frönen. Ein Osterspaziergang des auch an Feiertagen geöffneten Museums ist nicht umsonst. Im doppelten Sinne: Der Eintrittspreis kommt (in D-Mark umgerechnet) fast dem einst Westbesuchern der DDR auferlegten »Zwangsumtausch« nahe. Für aufgeschlossene, kritische Zeitgenossen durchaus lohnenswert.

DDR-Museum, Karl-Liebknecht-Str. 1, 10178 Berlin, Mo–So, 9–21 Uhr, 12,50 €, erm. 7 €, unter 6 Jahre frei.

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