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Marx-Engels-Werke: Keine unschuldige Lektüre

Im Interview spricht Ingo Stützle vom Karl Dietz Verlag Berlin über Mühen und Erkenntnisgewinn der Überarbeitung der Marx-Engels-Werke

  • Interview: Sebastian Klauke
  • Lesedauer: 8 Min.
Die berühmten »blauen Bände«: Auch wenn sie bereits seit 1956 erscheinen, ist die Arbeit an der Werkausgabe von Marx und Engels noch längst nicht abgeschlossen.
Die berühmten »blauen Bände«: Auch wenn sie bereits seit 1956 erscheinen, ist die Arbeit an der Werkausgabe von Marx und Engels noch längst nicht abgeschlossen.

Ende März 2023 ist die überarbeitete Neuauflage des Bands 21 der Marx-Engels-Werke (MEW) erschienen. Warum sollte dieser heute noch gelesen werden?

Interview

Ingo Stützle ist promovierter Politik­wissen­schaftler und betreut seit 2019 beim Karl-Dietz-Verlag Berlin die Marx-Engels-Werkausgabe (MEW). 2008 erhielt er den vom Verein zur Förderung der MEGA-Edition e. V. ausgelobten David-Rjazanov-Preis für die »beste Nachwuchsarbeit auf dem Gebiet der Marx-Engels-Forschung und -Edition«.

Der Band umfasst die Texte, die nach Marx’ Tod im März 1883 entstanden sind. Engels war in dieser Zeit mit dem Nachlass von Marx und ihrem gemeinsamen politischen und publizistischen Erbe betraut. Wie er dieses Erbe annahm und was er daraus machte, lässt sich in dem Band nachvollziehen. Es findet sich darin etwa Engels’ »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats« sowie »Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie«. Dies sind zwei Texte, die vor allem aufgrund der politischen Umstände zu dem wurden, als das sie bis heute gelten: zu Referenzwerken des historischen Materialismus, wie er sich nach Marx’ Tod herausbildete.

Seit 2019 sind Sie zuständig für die Überarbeitung der MEW beim Karl-Dietz-Verlag in Berlin. Was bedeutet »überarbeiten« in diesem Fall?

Ich führe beim Verlag fort, was dort seit 2006 gemacht wird. Damals feierte die Werkausgabe den 50. Geburtstag. Zu diesem Anlass verfassten die damaligen Bearbeiter Rolf Hecker und Richard Sperl nicht nur ein neues Vorwort für die Neuauflage, sondern es wurde ins Auge gefasst, die Bände sukzessive zu überarbeiten. Seit 2006 erfolgt die Herausgabe der MEW durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Dank der Stiftung ist es überhaupt möglich, dass die Bände weiterhin lieferbar sind und überarbeitet werden können. Inzwischen wurden acht Bände aufbereitet. Wesentlich geht es dabei um das Vorwort und den Apparat der Bände – die Texte, ihre Auswahl und Anordnung bleiben bestehen. Die Vorworte der einzelnen Ausgaben wurden bis 1990 immer vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee (ZK) der SED gezeichnet. Sie hatten eine ideologisch-politische Funktion, die darin bestand, Marx und Engels staatsoffiziell auszulegen. Aus diesem Grund werden die Vorworte bei Neuauflagen ersetzt.

War der Anmerkungsapparat auch ideologisch eingefärbt?

Ja und Nein. In den Anmerkungen schlagen zwar häufig jene für die Texterschließung wertvollen Sachinformationen in Bewertungen im Sinne des Marxismus-Leninismus um. So fehlen etwa vollständige Angaben zur Textgeschichte, was der vom ZK angestrebten Enthistorisierung der Schriften entgegenkam. Die Texte sollten aktuell und allgemeingültig zugleich wirken – Klassiker, die die SED-Herrschaft legitimieren. Die Schriften von Marx und Engels selbst wurden jedoch weder verkürzt noch verfälscht, sondern auf Grundlage der Originale ediert. Vor diesem Hintergrund stellt sich bei jeder Neuauflage die Frage, wie Verlag und Herausgeberin ihrem Anspruch am sinnvollsten gerecht werden können, der politischen Verantwortung nachzukommen, die mit dieser Imprägnierung der MEW einhergeht.

Worin liegen die größten Herausforderungen Ihrer Arbeit?

Nicht zu viel und nicht zu wenig zu ändern und eine historisch-kritische Einordnung der Texte vorzunehmen, ohne den Zeitgeist einzuflechten. Denn die Anmerkungen sollen keine Kommentare zum Text sein, sondern Erläuterungen. Die Herausforderung ist also nicht zu kommentieren, obwohl ich natürlich eine Meinung zu diesem und jenem habe.

Gibt es neue Erkenntnisse, die auch Sie bei Ihrer Arbeit überraschen?

Eine Re-Lektüre von Texten ist meistens überraschend. Denn man liest die Ausführungen mit neuen Augen, mit neuen Fragen im Kopf und bringt durch die Lektüre anderer Texte Neues mit, weiß also selbst mehr. Man liest deshalb anders und wird überrascht, gerade wenn man denkt, den Text bereits zu kennen. Das ist, was der französische Marxist Louis Althusser meinte, als er behauptete, es gebe keine »unschuldige« Lektüre von Texten.

Das Vorhaben der Überarbeitung existiert schon länger, in der DDR etwa gab es neben der MEW noch eine weitere Gesamtausgabe.

Ja, ab 1975 erschien beim Dietz-Verlag die Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA2). Damit verbunden war ein Qualitätssprung in der Edition der Werke von Marx und Engels, sie wird also nicht ohne Grund noch immer weitergeführt. Sonst wurde ja fast alles, was aus der DDR kam, abgewickelt – aber die Gesamtausgabe von Marx und Engels nicht! Auf dieser Grundlage wurden MEW-Bände bereits in den 1980er-Jahren überarbeitet oder neu ediert. Wie die hochgestellte Ziffer bei MEGA2 verrät, gab es aber zuvor schon eine Gesamtausgabe. In der Sowjetunion war in den 1920ern und 1930ern eine historisch-kritische Ausgabe angestrengt worden – übrigens inklusive einer Kooperation mit dem Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main, das dieses Jahr sein 100. Jubiläum feiert. Die Arbeit an dieser ersten Edition wurde allerdings unter Stalin abgebrochen, die wichtigsten Mitarbeiter am Marx-Engels-Institut wurden entlassen, viele ermordet. Was ja Bände spricht: Stalin wollte nicht, dass Marx und Engels im Original gelesen werden.

In welchem Verhältnis stehen die MEW zur Marx-Engels-Gesamtausgabe? Gibt es hier einen Austausch?

Während die beiden Editionen früher organisatorisch und verlegerisch unter einem Dach waren – bis 1993 erschien die MEGA2 bei Dietz – gibt es inzwischen keinen offiziellen Austausch mehr. Die MEGA² ist für die Marx-Forschung, für die Edition von Studientexten und für Übersetzungen sowie für die politische und wissenschaftliche Diskussion von immenser und grundlegender Bedeutung, weil sie die Textgrundlagen erschließt, auf denen alles Folgende basiert. Die Editionsprinzipien der MEGA2 unterscheiden sich von denen der MEW: Als Gesamtausgabe strebt erstere eine vollständige und originalgetreue, historisch-kritische Edition an. Dies umfasst auch die Darstellung der Textentwicklung vom Manuskript zur Druckfassung sowie zwischen den unterschiedlichen Druckfassungen. Die MEW als Studienausgabe hingegen beinhaltet die letzte Fassung der Texte und alles ist ins Deutsche übersetzt. Innerhalb der MEGA2 stehen noch viele Bände aus, die unser Bild von Marx und Engels beträchtlich erweitern werden. Inzwischen werden sie auch online zugänglich gemacht. Es ist daher sehr zu wünschen, dass dieses Projekt, wie vorgesehen, bis zum Abschluss weiter gefördert wird. Zeitaufwendige Großeditionen stehen ja in der Wissenschaftspolitik seit Längerem in starkem Gegenwind und allenthalben werden Finanzierungsvorbehalte geäußert. Solche Editionen wie die MEGA2 stellen aber eine immens wichtige Grundlagenwissenschaft dar.

Welche Veröffentlichungen der Marx-Forschung der letzten Jahre erachten Sie außerdem als besonders wichtig?

Neben der MEGA2 gibt es de facto die »Beiträge zur Marx-Engels-Forschung« und die »Marx-Engels-Jahrbücher«, die sehr nah an den Texten sind. Sie beschäftigen sich losgelöst von theoretischen oder politischen Fragen mit dem Werk von Marx und Engels selbst. Besonders dankbar kann man für die MEGA2-Edition der unvollendeten Manuskripte und Exzerpte von Marx und Engels sein – und denjenigen, die im Rahmen ihrer Arbeit an der Edition eine Promotion verfasst haben, etwa Ulrich Pagel zur »Deutschen Ideologie«, Timm Graßmann zu Marx’ Krisenverständnis oder Kohei Saito zu den naturwissenschaftlichen Exzerpten. Sehr gespannt bin ich auch auf die Arbeit von Emanuela Conversano. Sie arbeitet derzeit zu Marx’ ethnologischen Studien, die gerne herangezogen werden, um zu unterstreichen, dass Marx eurozentristische Positionen nach und nach aufgegeben hat.

Welcher Band wird innerhalb der MEW als Überarbeitung folgen?

Bisher war es möglich, sich die Reihenfolge sozusagen vom Abverkauf diktieren zu lassen. Das wird zukünftig nicht mehr so sein. Unsere Bestände stammen zum Teil noch aus der Zeit vor 1990, zu viele Bände müssen gleichzeitig überarbeitet werden. Das ist vom Arbeitsaufwand und auch finanziell kaum zu stemmen. Gerade bei Bänden, deren Nachdruck aufgrund der Nachfrage nur in kleinen Auflagen gerechtfertigt wäre, etwa die Briefbände. Hier übersteigen die Herstellungskosten den Verkaufspreis unverhältnismäßig.

Welche Bücher werden – neben den Bänden des Kapitals – am häufigsten nachgefragt?

Das sind die »Grundrisse« (MEW 42) und die zeitlich danach entstandenen ökonomischen Manuskripte in den Bänden 43 und 44, »Die deutsche Ideologie« – also MEW 3 – und der vierte Band mit unter anderem dem »Kommunistischen Manifest« sowie die Frühschriften, die sich in den Bänden 1 und 40 finden. Briefe und die Bände der 1850er und 1860er-Jahre, in denen sich viele journalistische und organisationspolitische Schriften finden, sind indes nicht der Renner.

Ist eine Digitalisierung der MEW geplant?

Wir sind mittendrin. Digitalisiert sind sie ja schon seit Jahren, in diversen Formaten und auch zugänglich gemacht auf den unterschiedlichsten Websites. Von uns gab es etwa CDs oder eine USB-Card mit einer innovativen Suchfunktion. Jetzt sitzen wir gemeinsam mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung an einer digitalen Edition. Sie wird hoffentlich die Zugänglichkeit, Lektüre und Arbeit auf ganz neue Füße stellen und den MEW nicht nur in Form der blauen Bände, sondern auch als digitale Edition eine Heimat geben.

2018 ist der vollständig neue MEW-Band 44 erschienen. Wird es weitere gänzlich neue Bände geben?

MEW 44 war der erste neue Band nach 1990, bearbeitet von Rolf Hecker und mir. Mit ihm arbeite ich jetzt an Band 45. Was viele nicht wissen: Die englische und auch die russische Werkausgabe umfassen deutlich mehr Bände als die deutschsprachige MEW. Nach 1990 wurden diese Editionsprojekte nicht einfach abgebrochen. In Deutschland schon.

Was wird uns mit MEW 45 erwarten?

Das ist schwer zusammenzufassen, weil wir mit diesem Band versuchen, alles das in die Werkausgabe aufzunehmen, wovon wir denken, dass es im Rahmen der Studienausgabe ediert gehört und nicht in einer Einzelpublikation, wie wir etwa Engels »Anti-Dühring« 2020 aufgelegt haben. In MEW 45 werden knapp 200 Briefe von Marx und Engels zugänglich gemacht, die in den letzten 50 Jahren aufgetaucht sind, etwa die Briefe an La Chârtre, dem Verleger der französischen Übersetzung des »Kapitals«. Aber auch ein paar Texte aus der Frühphase, die bisher nicht berücksichtigt wurden sowie Beiträge zu Polen und Russland werden wir edieren, die teilweise laut Meinung des Moskauer Instituts für Marxismus-Leninismus 1952 »nicht in Deutschland publiziert werden sollten«. Grund war unter anderem die nicht gerade wohlwollende Marx’sche Charakterisierung Russlands. Es ist genau diese Geschichte, die wir als Verlag kritisch aufzuarbeiten gedenken.

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