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Die Erfindung des Erfolgs

Du hast keine Chance, aber nutze sie: In »Schrödingers Grrrl« von Marlen Hobrack schult eine Nichtliteratin zur Topliteratin um

  • Matthias Reichelt
  • Lesedauer: 4 Min.

Mara lebt in Dresden, und der Briefkasten ihrer Wohnung könnte wie bei Erwin Schrödingers Gedankenexperiment zum quantenmechanischen Gesetz mit der Katze in der Blackbox funktionieren. Im Briefkasten sind sehr wahrscheinlich nur unangenehme Sachen: Rechnungen, Mahnungen und Ähnliches. Aber solange Mara ihn nicht öffnet, sind sie für die junge Frau nicht da.

In Marlen Hobracks starkem Debütroman ist die Hauptfigur abseits einer bürgerlichen Mitte, die sich – ökonomisch abgesichert und erfolgreich – mit Selbstfindungs-, Identitäts- und Luxusproblemen rumschlagen kann. Bei Mara geht es eher um das Überleben in einer Gesellschaft, die ihr eigentlich nur eine Zuschauerfunktion aus niederer Position zubilligt. Sie kommt aus der Unterschicht und hat das Gymnasium nach der zweiten Wiederholung der neunten Klasse abgebrochen.

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Der Künstler und Nonkonformist Herbert Achternbusch prägte in den 70er Jahren den Satz: »Du hast keine Chance – aber nutze sie!« Das muss sich Mara auch gesagt haben und hat sich in den Kopf gesetzt, im Internet als Influencerin aufzutauchen, um um sich ein anderes Leben zu erträumen. Sie will Tipps für Kleidung und Kosmetik geben und viele Follower generieren.

Weit her ist es damit allerdings nicht, denn auch hier ist aller Anfang schwer – und man braucht Geld. Die Waren, die sie bewerben will, muss sie noch bezahlen, was zu einer Rechnungsflut führt. Erfolgreiche Influencer mit vielen Followern bekommen die Waren natürlich kostenlos und frei Haus geliefert. Manchmal erhalten sie Reisen auf Kreuzfahrtschiffen gesponsert, wie das junge Paar in Ruben Östlunds letztem Film »Triangle of Sadness«.

Mara hat aber noch ganz andere Probleme. Sie muss sich als »Kundin« der Arbeitsagentur einmal im Monat bei ihrer Sachbearbeiterin Frau Kramer melden. Diese meint es allerdings gut mit ihr, zeigt Empathie und Verständnis. Mara erweist sich auf ihrer Fahrt mit dem Bus dorthin als kluge Beobachterin, bestens vertraut mit der sozialen Matrix der Stadt. Denn die Station Prager Straße war für Menschen wie sie – »fürs Shopping nicht liquide genug« – zu einer unsichtbaren Grenze geworden. Für Armut, Angstschweiß und billiges Parfum gleichermaßen sensibilisiert, taxiert Mara die Fahrgäste im Bus, detektiert mit guter Beobachtungsgabe die »Kunden« der Arbeitsagentur und weiß sie treffsicher von den Studenten und Studentinnen zu unterscheiden, die erst eine Station später aussteigen.

Maras Mutter arbeitet als Raumpflegerin in einer Putzkolonne, der sich die Tochter zur Demonstration ihres guten Willens gegenüber der Arbeitsagentur kurzzeitig auch anschließt. Selbstbewusst in ihrem Auftritt und schlagfertig ist sie in der Kneipe, in der ihre Freundin Chrissie hinter dem Tresen arbeitet. Dort spricht sie ein älterer Mann namens Hanno an. Er arbeitet als Agent für einen Autor, der zwar bekannt ist, aber eben auch ein »alter, weißer Mann« und damit für den Literaturmarkt nur noch mäßig interessant. Hanno sucht für ihn eine Strohfrau, die den von ihm geschriebenen Text als ihren neuen heißen Stoff verkaufen soll. Der aus der Perspektive eines weiblichen Underdogs geschriebene Roman soll als autofiktionales Debüt einer jungen Autorin inszeniert werden. Diese besondere Verkaufsstrategie hat sich Hanno, der Berufsjugendliche mit gegeltem Haar, ausgedacht. Er sieht in Mara mit ihrem interessanten, aber nicht uniformen Look die perfekte Verkörperung dieser Illusion.

Mara braucht dringend Geld und fühlt sich auch irgendwie anerkannt. Das Rollenspiel erledigt sie mit Bravour, als hätte sie sich als angehende Influencerin genau darauf vorbereitet. Unangestrengt liest sie den fremden Text auf Lesungen, als wäre er ein Teil von ihr, ebenso cool beantwortet sie Rückfragen mit einfachen, aber intelligenten Verweisen auf ihre eigene Biografie im Prekariat. Wie von Hanno vorausgesagt, erreicht sie damit eine beträchtliche Medienresonanz.

Als sie schließlich auch noch für einen Literaturpreis vorgeschlagen wird, kann der dann doch ziemlich eitle, aber echte Autor des Romans, den Mara angeblich geschrieben hat, nicht mehr an sich halten und outet sich als Urheber und damit Mara als Lügnerin. Vorher hat sich Mara auch noch unglücklich verliebt – in einen jungen Mann aus London. Im Internet lief mit ihm alles sehr gut, in der Realität, als sie ihn besucht, aber überhaupt nicht.

All diese Entwicklungen hinterlassen eine ernüchterte Protagonistin, die zwar klarer sieht, aber nach dem Ausbleiben der Honorare für die Lesungen nun wieder die Arbeitsagentur aufsuchen muss. Marlen Hobracks Roman ist ein Entwicklungs- und Bildungsroman einer jungen Frau, die Erfahrungen mit der postmodernen Talmi- und Fake-News-Welt macht und ihre bitteren Lektionen lernt. Ihre Freunde jedoch verzeihen Mara die Lüge.

Dass Mara sich am Ende vorstellen kann, wieder zusammen mit ihrer Mutter putzen zu gehen, ist ernüchternd und doch realistisch. Denn die »Brechung des Bildungsprivilegs« war vorgestern; heute sind die Klassenbarrieren wieder manifest und signalisieren der abgehängten Klientel, sich in der Unterschicht mit der Alimentierung dauerhaft einzurichten.

Marlen Hobrack: Schrödingers Grrrl. Verbrecher-Verlag, 270 S.,
geb., 24 €.

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