Katja Hoyer »Diesseits der Mauer«: Die Sehnsucht nach einem Sinn

»Diesseits der Mauer«: Was hat Katja Hoyer falsch gemacht, dass sie so harsch attackiert wird? Nichts.

  • Dieter Segert
  • Lesedauer: 8 Min.
Quedlinburg,1968: Studenten helfen in der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) Münchenhof
Quedlinburg,1968: Studenten helfen in der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) Münchenhof

Marlen Hobrack hat in einem Kommentar auf der ersten Seite des »Freitag« vom 17. Mai auf die »teils harschen Verrisse« der »neuen Geschichte der DDR« von Katja Hoyer in »Spiegel«, »Taz« sowie in der eigenen Zeitung hingewiesen. Ein besonders scharfer Verriss, der von Ilka-Sascha Kowaczuk, war eben dort am 11. Mai erschienen. Mir scheint es sinnvoll, nach Gründen für die von Katja Hoyer gewählte Art der Darstellung der DDR zu fragen und danach, ob diese berechtigt ist.

Was ist mir beim Lesen des so harsch attackierten Buches »Diesseits der Mauer« der 1985 in der DDR geborenen Historikerin aufgefallen, die nach ihrem Geschichtsstudium an der Friedrich-Schiller-Universität Jena ging sie nach England nach Großbritannien ging? Zunächst, dass sie die DDR in ihrer Verwurzelung in der Geschichte der KPD darstellt. Das erste Kapitel beginnt mit einer Schilderung des Schicksals eines deutschen Kommunisten, der 1937 in einem sibirischen Gefängnis sitzt. Der Leser stutzt, aber dieser Verweis auf die Emigration in die Sowjetunion, die an die Hoffnungen der deutschen Kommunisten erinnert und an die Katastrophe der Stalinschen Diktatur für jene, ist dann doch nachvollziehbar. Geschichtliche Perioden wurzeln in vorherigen Ereignissen und deren Interpretation. Die DDR wurzelt in der Geschichte der deutschen Kommunisten und ihren Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und der Sowjetunion der 30er Jahre. Daran zu erinnern, ist ein erstes Verdienst dieses Buches.

Sodann fällt die genutzte Methode der Darstellung von Geschichte auf, eine Verknüpfung autobiografischer Erzählungen mit statistischen Daten und den verallgemeinernden Analysen anderer Historiker. Häufig beginnt ein Kapitel mit einer Zeitangabe, nicht selten einem bestimmten Tag in einem Jahr und den Erlebnissen einer einzelnen Person zu diesem Zeitpunkt. Das gibt dem Text eine Lebendigkeit, die bei anderen Darstellungsformen nicht erreicht wird. Offenbar wird auf ein Publikum gezielt, das sich unvoreingenommen, ohne große Kenntnis wissenschaftlicher Einschätzungen, dem Stoff zuwendet. Dieses Publikum war zunächst kein deutsches, denn das Buch ist zuerst auf Englisch erschienen, in dem Land, in dem die Ostdeutsche lebt und arbeitet – als Wissenschaftlerin am King’s College London und Fellow der Royal Historical Society sowie als Kolumnistin unter anderem für die BBC und die »Washington Post«.

Dieses Buch ist aber auch eine Intervention in den bisherigen Mainstream der deutschen Geschichtsdebatte über die DDR, die bisher »von den Siegern« bestimmt wurde. Und insofern ist das Publikum, auf das die Autorin hofft, das deutsche, vielleicht besonders das ostdeutsche. Sie will es ermutigen, die eigenen Erinnerungen nicht einfach zu verdrängen. Das schnelle Ende der DDR und die Art der Überwindung der deutschen Teilung hat zu überwiegend negativen Sichtweisen auf jenen Staat geführt, die sich in Begriffen wie »zweite deutsche Diktatur« oder »Unrechtsstaat« ausdrücken und dazu führen, dass die Ostdeutschen mehrheitlich dazu verleitet wurden, sich selbst innerlich von ihrem früheren Land zu distanzieren. Dabei hatten sie sich doch in großem Maße mit ihm – wenn auch aus je unterschiedlichen Gründen – identifiziert.

Katja Hoyer interessiert sich gerade für diese Identifikation. Sie wollte wissen, warum diese DDR, trotz ihrer Mängel und Defizite in Demokratie oder Konsumniveau im Vergleich zur Bundesrepublik, von vielen, auch von Nichtkommunisten, mitgetragen wurde – beispielsweise ob des Versprechens eines genuin antifaschistischen, sozialistischen Deutschland. Es gab natürlich die unterschiedlichsten Gründe, was sichtbar wird, wenn die Autorin etwa die Militarisierung des öffentlichen Lebens zwar als die Bevölkerung polarisierend darstellt, aber für eine bestimmte Gruppe auch als anziehend, nämlich für diejenigen, die »sich nach Sinn und Zugehörigkeit sehnten, im Gegensatz zu dem, was sie als leeren Konsum des Westens empfanden«.

Und zu dieser Identifikation hat auch beigetragen, dass eine Anpassung an die Forderungen der Vertreter der Staatsmacht dazu führen konnte, dass man sein eigenes Anliegen doch noch durchsetzen konnte. Das Buch zeigt das am Beispiel der Puhdys, die auf ein Auftrittsverbot mit partieller Fügsamkeit reagierten und ihre Songs auf Deutsch statt wie bisher auf Englisch sangen, was sie zu Mitbegründern eines deutschen Rock machte. Opportunismus, so hat es Günter Gaus einmal formuliert, als Menschenrecht? Auf jeden Fall jedoch als Weg zum persönlichen Erfolg, und den will schließlich jeder.

Die Kritik wirft Katja Hoyer vor, sie verharmlose die Diktatur, etwa indem bei der Darstellung des Aufstands vom 17. Juni 1953 die Sichtweise der SED auf den Protest als vom Westen initiiert übernommen würde. Doch stellt sie im Unterschied zu dieser Behauptung den Arbeiterprotest tatsächlich sachlich richtig dar als Ergebnis einer voluntaristischen Politik der SED-Führung unter Walter Ulbricht, die mit aller Macht im Eilschritt zum Sozialismus kommen wollte und dafür die Produktionsziele willkürlich höherschraubte. Der »Rias« kommt bei ihr nur am Rande vor und nicht als zentraler Akteur der Ereignisse. Erst in einem zweiten Abschnitt werden die Absichten der USA erwähnt, nicht aber als Verursacher der Proteste, sondern als Mitspieler in den Ereignissen mit eigener Strategie (187 f.). Dabei stützt sich Hoyer auf eine Analyse des Kalten-Kriegs-Experten Christian F. Ostermann und nutzt sie vor allem, um auf den nachfolgenden Ausbau des DDR-Gewaltapparats zu kommen, zu einem der »effizientesten und rücksichtslosesten Polizeistaaten aller Zeiten«.

Auch an anderen Stellen wird der kontrollierende und unterdrückende Staat umfänglich ausgebreitet, insbesondere die Ausweiterung der »Staatssicherheit«. Es werden Biografien von Menschen vorgestellt, die in die Fänge dieses Systems gerieten. Das, was dieses Buch von anderen Darstellungen des Gewaltapparates unterscheidet, ist vielleicht, dass die Autorin versucht, auch die Paranoia der Führungspersonen Ulbricht, Erich Honecker und Erich Mielke zu erklären, die sich in deren immensem Sicherheitsbedürfnis äußert – aus eigenen Unterdrückungserfahrungen in den Jahren vor 1945.

Im Buch werden viele Themen aus Alltag und Herrschaft in der DDR aufgegriffen und beleuchtet, vielleicht nicht immer mittels eines angemessenen wissenschaftlichen Instrumentariums kommentiert, aber gerade deshalb für eine nichtfachliche Leserschaft gut nachvollziehbar und an eigener Erfahrung zu überprüfen. Etwa bei der Frage, warum Ulbricht die »Waldsiedlung Wandlitz« für das Politbüro einrichtete oder ob die DDR auch ohne eine befestigte Grenze lebensfähig gewesen wäre – was bezweifelt wird (S. 222). Das Leben im Schatten der Mauer wird auch in seinen produktiven Seiten vorgestellt: die Freuden des Urlaubs in der DDR und außerhalb (etwa während der Reisen mit den Kreuzfahrtschiffen der Gewerkschaft), die Wirtschaftsreformen der ersten Hälfte der 60er Jahre oder der Wohnungsbau etwa in Halle-Neustadt. All das wird durch individuelle Geschichten illustriert. Das Resümee des zweiten Jahrzehnts der DDR macht das Anliegen der Autorin deutlich: »All dies schmälert nicht die nationale und menschliche Katastrophe der deutschen Teilung, aber es macht das Gesamtbild komplizierter. Die frühen 1960er Jahre waren auch eine Zeit des Fortschritts, denn die DDR war stets mehr als nur die Mauer.«

Die Geschichten von Akteuren, die in dem Buch die Geschichte der DDR erlebbar machen, kommen vorwiegend aus zwei Etagen der Gesellschaft, von »ganz oben«, also aus dem Politbüro oder dessen unterstützendem Personal, sowie aus dem sogenannten einfachen Volk. Arbeit, Alltag und Freizeit spielen sich in ganz unterschiedlichen Bereichen ab: Der Militarisierung des Lebens in der DDR ab den 70ern, dem Leben der Vertragsarbeiter aus Vietnam, Kuba und afrikanischen Staaten, der Kaffeekrise 1977 sowie den Intershops und dem damit verbundenen Zweitwährungskreislauf sind spezielle Abschnitte gewidmet. Diese nicht systematische Aufzählung lässt die Bandbreite der Geschichten, aber auch blinde Flecken der Darstellung hervortreten: Es fehlen weitgehend Berichte aus dem Betriebsalltag oder aus dem »Parteileben« beziehungsweise aus den Massenorganisationen. Die Phasen des Zusammenbruchs der DDR im Sommer und Herbst 1989 und ihr 41. Jahr vor dem 3. Oktober 1990 sind unterbelichtet. Die Akteure für eine andere DDR werden kaum erwähnt (abgesehen von der unabhängigen Friedensbewegung). Man könnte hier anmerken, dazu gebe es schon ausreichend Erinnerungen und Analysen. Der Verriss des Buches durch manchen Autor wurzelt möglicherweise in der Nichtbeachtung der eigenen Studie. Nur, es ging der Autorin nicht um wissenschaftliche Vollständigkeit.

Katja Hoyer wollte offenbar über Geschehnisse und Empfindungen schreiben, die bisher vernachlässigt oder ausgeblendet wurden. Das Buch verfolgt durchaus ein politische Ziel, was zum Schluss noch einmal offen ausgesprochen wird: »Die deutsche Einheit lässt sich nicht mit einem einzigen Ereignis ›vollenden‹. Der ostdeutsche Ansatz, die Wende als den Beginn eines dynamischen Prozesses zu begreifen, erscheint konstruktiver. Er gestattet eine fließende, offene und veränderbare Interpretation eines Landes, das es nicht mehr gibt, das kein Feind mehr ist, den es zu überwinden gilt. Es ist an der Zeit, die Deutsche Demokratische Republik als das zu verstehen, was sie ist – ein Teil der deutschen Geschichte, jenseits der Mauer.«

Die heftigen Reaktionen auf dieses Buch lassen ebenso wie schon die lebendige Debatte über das Buch des Leipziger Germanisten Dirk Oschmann, »Der Osten – eine westdeutsche Erfindung« (Ullstein), vermuten, dass die beiden Autoren wohl erfolgreich einen sich wandelnden Zeitgeist am Schopf gepackt haben. Es ist durchaus möglich, dass zur DDR-Geschichte zukünftig verstärkt die Sichtweisen der unpolitischen Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung zur Sprache kommen werden. Sie sind ebenso berechtigt wie die Perspektive der beiden kleineren Gruppen politischer Aktivisten im politischen Herbst 1989: der DDR-Opposition und der sich um einen demokratischen Umbau ihres Staates bemühenden Minderheit von SED-Mitgliedern. Der Streitplatz DDR-Geschichte wird uns jedenfalls wohl noch eine Weile erhalten bleiben.

Katja Hoyer: Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949 – 1990. Hoffmann und Campe, 592 S., geb., 28 €.
Unser Rezensent ist Politikwissenschaftler, der sich mit der Geschichte des Staatssozialismus und dessen Erbe im heutigen Osteuropa beschäftigt; von ihm stammt unter anderem das Buch »Das 41. Jahr. Eine andere Geschichte der DDR« (Böhlau).

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