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  • Vereinzelung und Isolation

Einsamkeit: Allein machen sie dich ein

In westlichen Gesellschaften leiden immer mehr Menschen unter Vereinzelung. Ein Essay über Einsamkeit und Isolation im Kapitalismus

  • Anne Seeck
  • Lesedauer: 7 Min.
So kann es sich anfühlen in hiesigen Verhältnissen – auch unabhängig von der physischen Anwesenheit anderer Menschen.
So kann es sich anfühlen in hiesigen Verhältnissen – auch unabhängig von der physischen Anwesenheit anderer Menschen.

Obwohl es zahlreiche Fachartikel und Studien zur Einsamkeit gibt, ist dieser Zustand ein Tabuthema. Wer gibt schon gerne zu, einsam zu sein? Ich selbst erfuhr Einsamkeit bereits früh in meinem Leben, da ich als Kind vier Jahre in der Schule gemobbt wurde. Später war ich einsam nach einem Studienabbruch und einem Umzug in eine Großstadt. Einsamkeit spürte ich auch nach einer Trennung als Alleinerziehende und dann aufgrund einer Erkrankung. Aktuell habe ich mehr soziale Kontakte, trotzdem kann ich mich einsam fühlen.

Leidvoll oder befreiend

Es gibt also viele Gründe, warum Menschen einsam sein können, darunter Phasen des Umbruchs und Schicksalsschläge. Zu unterscheiden ist dabei zwischen dem Gefühl der Einsamkeit, leidvoller sozialer Isolation und befreiendem Alleinsein. Einsamkeit ist zunächst eine subjektive Empfindung, die sogar entstehen kann, wenn man sich inmitten bekannter Menschen befindet. Verschiedene Varianten dieses Gefühls sind emotionale Einsamkeit (ein Mangel an engen Beziehungen), soziale Einsamkeit (ein Mangel an persönlichen Bindungen) und kollektive Einsamkeit (ein Mangel an Zugehörigkeitsgefühl zur Gemeinschaft). Dieses subjektive Gefühl der Einsamkeit muss nicht unbedingt bekämpft werden. Anders steht es um die soziale Isolation, unter der Menschen leiden: Dies bedeutet, dass man objektiv, also messbar, keine oder kaum soziale Kontakte hat. Dabei kann selbst soziale Isolation einen produktiven Effekt haben, etwa wenn manche Außenseiter*innen lernen, Menschen zu beobachten und die Gesellschaft zu durchschauen.

Wer allein ist, muss leiden oder verrückt sein, so wird es oft angenommen. Ich selbst bin gern allein, dann nämlich kann ich kreativ sein und bin wirklich »bei mir« – kann nachdenken, schreiben, lesen, Musik und Radiosendungen hören, jüngst zum Beispiel »Eine Lange Nacht vom Alleinsein. Vermessung der inneren Welt« auf Deutschlandfunk Kultur. Und eigentlich bin ich in diesen Momenten eben gar nicht wirklich allein, sondern umgeben von den Werken kreativer Menschen aus der Geschichte und Gegenwart. Dem Alleinsein kann eine schöpferische Kraft innewohnen, weshalb gerade Künstler*innen diesen Zustand immer wieder bewusst aufsuchen. Vielen Menschen ist das physische Alleinsein übrigens gar nicht vergönnt, weil sie zu beengt wohnen. Andere halten es schlicht nicht aus, allein zu sein, sie haben Angst vor Isolation.

Zum Glück gibt es Menschen, die gegen den vorherrschenden, negativ gefärbten Einsamkeitsdiskurs auf die Barrikaden gehen. Die Publizistin Sarah Diehl etwa hat die positiven Seiten des Alleinseins in einem Buch beleuchtet, unter dem Titel »Die Freiheit, allein zu sein. Eine Ermutigung«. Allein sein sei ein Talent, eine Art Kulturtechnik, die Menschen in die Lage versetzt, sich vor der Beeinflussung durch andere zu schützen. Man könne die Zeit selbst füllen, Muße und Alleinsein machten eigene Entfaltung möglich. In der Großstadt kann Alleinsein darüber hinaus der Entspannung dienen – eine Dimension des Phänomens, die übrigens längst von der Wellness-Industrie entdeckt wurde. Hier wird Alleinsein zum Geschäftsmodell: Ab ins Kloster, selbstverständlich für viel Geld.

Was tut die Politik?

Auch die Politik hat die Einsamkeit entdeckt. In Großbritannien etwa gibt es seit 2018 ein Einsamkeitsministerium. Das Hörspiel »Ministerium der Einsamkeit – Eine halbdokumentarische Farce« nimmt diese Form der Bewältigung des Einsamkeitsproblems auf die Schippe. Auch in Japan, Australien, Neuseeland, Frankreich, den Niederlanden und den USA ist die Politik auf das Thema aufmerksam geworden. Das Bundesfamilienministerium in Deutschland startete 2022 ein Kompetenznetz Einsamkeit und weitere Modellprojekte, um diese zu bekämpfen. Im Landtag in Nordrhein-Westfalen gab es sogar eine Enquetekommission zum Thema, deren Abschlussbericht mit dem Titel »Bekämpfung sozialer Isolation in Nordrhein-Westfalen und der daraus resultierenden physischen und psychischen Folgen auf die Gesundheit« im März 2022 veröffentlicht wurde.

Mein Eindruck ist, dass es hier mehr um bezahlte Beschäftigung für Politik-, Sozial- und Wissenschaftsprofis geht – so wie überhaupt festzuhalten ist: Wenn sich die parlamentarische Politik eines solchen Themas annimmt, geht es weniger um das menschliche Leid als um Geld- und Kostenfragen. So empfiehlt denn auch die Enquetekommission im Bereich Wissenschaft die Beauftragung einer Studie, welche die Kosten für das Gesundheits- und Bildungssystem sowie den Arbeitsmarkt fachgerecht beurteilt. Zudem soll die Einsamkeitsforschung gefördert, turnusmäßige Einsamkeitsberichte abgeliefert und untersucht werden, ob weitere Lehrstühle sinnvoll sind. Schließlich wurden ein Forschungspreis, ein jährlicher Einsamkeitskongress und »Einsamkeitswochen« gewünscht.

Wissenschaftliche Begleitmusik

Die Einsamkeitsforschung ist in Deutschland noch ein junges Forschungsgebiet. Den »Weckruf« machten Neurowissenschaftler wie Manfred Spitzer und John T. Cacioppo, sie erklärten Einsamkeit zur Krankheit und gefährlichen Epidemie. Einsamkeit sei Todesursache Nummer eins, so der Autor und Psychiater Spitzer. Dabei wird auch den Betroffenen die Schuld zugewiesen: Einsame Menschen sehen die Welt laut Cacioppo wie durch einen Schleier der Negativität. Diese »verzerrte« Wahrnehmung führe zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, es entstehe ein Teufelskreis, der die Menschen noch einsamer mache. Laut seines Buches »Einsamkeit« (verfasst mit William Patrick) helfen vier Schritte bei der sozialen Einbindung: Erweiterung des Aktionsradius, ein Aktionsplan, »Selektion« der Kontakte (die Qualität zählt) und das eigene Bild »aufzupolieren«, um sich selbst optimistischer zu präsentieren. In einer Studie von Cacioppo wird gar behauptet, Einsamkeit sei ansteckend, verbreite sich also wie eine Infektion von Person zu Person.

Das »Problem Einsamkeit«, eigentlich eine Lebenserfahrung, wird nunmehr als medizinisches Problem gedeutet und entsprechend behandelt. Wie mittlerweile fast jedes »abweichende Verhalten« wird der Zustand pharmakologisch normalisiert, womit die Pharmaindustrie an den Einsamen verdient. Die Wissenschaftlerin Stephanie Cacioppo, Witwe von John Cacioppo, forschte in den USA sogar an einer Pille gegen Einsamkeit.

Risikofaktoren Armut, Alter, Kapitalismus

Der Neurowissenschaftler und Journalist Jakob Simmank hingegen kritisiert in seinem Buch »Einsamkeit. Warum wir aus einem Gefühl keine Krankheit machen sollten«, dass die Debatte um Einsamkeit zu wenig auf die bürgerliche Gesellschaft fokussiere. Als besonders relevant für diesen Zusammenhang beschreibt Simmank das Thema Altersarmut. Und tatsächlich ist soziale Isolation vor allem eine Frage des Geldbeutels. Wer kein soziales Netzwerk und wenig Geld hat, ist im Kapitalismus existenziell bedroht. Das löst Stress aus, kann zu Krankheiten und vorzeitigem Tod führen. Immer wieder liegen Menschen nach ihrem Tod lange in ihrer Wohnung, bevor sie gefunden werden und werden begraben, ohne das jemand sie betrauert. Viele von ihnen waren schon im Leben einen »sozialen Tod« gestorben. Der Sozialverband Deutschland warnte 2020 in einem Gutachten vor zunehmender sozialer Isolation in der Coronakrise: Besonders betroffen waren Pflegebedürftige, chronisch Kranke und Menschen mit Behinderung.

Betrachtet man unsere gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, zeigt sich schnell, warum die Systemfrage gestellt werden muss, damit niemand mehr sozial isoliert wird: Der Kapitalismus vereinzelt weite Teile der Bevölkerung, die Menschen konkurrieren gegeneinander. Dadurch lastet ein großer Druck auf den Einzelnen, die nach sozialem Status jagen und sich voneinander abgrenzen. Wer dabei nicht mithält, wird gnadenlos ausgegrenzt. Die meisten Menschen hetzen gestresst durch den Alltag, in einer beschleunigten Welt, in der wenig Zeit für die Mitmenschen bleibt. Dabei können Menschen, die nicht mobil sind, ebenso unter Einsamkeitsgefühlen leiden wie solche, die ständig beruflich unterwegs sind. Trotzdem spielen viele sich gegenseitig eine heile Welt vor, sind scheinbar immer gut drauf, niemand will als »Versager*in« gelten. Aber in Wirklichkeit ist die Schwere im Menschen eben gar nicht Ausdruck eines gescheiterten Lebens, sondern des Leidens an einer brutalen Welt. Der Publizist Martin Hecht bezeichnet die Vereinzelung in seinem Buch »Die Einsamkeit des modernen Menschen. Wie das radikale Ich unsere Demokratie bedroht« gar als Demokratieproblem.

Ausweg Organisierung

Als Auswege aus der Vereinzelung werden häufig »Einsamkeitsfähigkeit«, mehr Orte der Begegnung und ehrenamtliches Engagement genannt. Tatsächlich bräuchte es vor allem eine wirklich solidarische Gesellschaft. Deshalb geht es um eine sozial-ökologische Transformation, um Vergesellschaftung und eine andere Eigentumsordnung, um eine Humanisierung der Arbeitswelt, die gerechte Verteilung der Sorgearbeit und vieles mehr.

Schon bei der Rockband Ton Steine Scherben hieß es »Allein machen sie Dich ein«, und das stimmt: Vereinzelte können die Ruhe im herrschenden System nicht stören. Also organisieren wir uns und kämpfen gemeinsam für eine bessere Gesellschaft – angesichts des Zustands der Welt bleibt dafür nicht mehr viel Zeit.

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