Till Lindemann: Die alte Leier des Patriarchiats

Eine Frau erhebt schwere Vorwürfe gegen Rammstein-Frontmann Till Lindemann, das mediale Echo bildet nur ein Zerrbild ihrer Aussagen

  • Nadia Shehadeh
  • Lesedauer: 5 Min.

Eine 24 Jahre alte Frau aus Irland reiste Ende Mai nach Vilnius, nachdem sie zuvor von einer anderen Frau, die sich auf Instagram als »Casting Director« bezeichnet und laut ihrer Social-Media-Biografie aktuell auf Tour mit Till Lindemann unterwegs ist, als Gästin zum Rammstein-Tourauftaktkonzert eingeladen worden war. Sie erhält einen »Row Zero«-Zugang (also ein Konzerterlebnis im direkten Bereich vor der Bühne) und eine Einladung zur Pre- und After-Party: eine exklusive Angelegenheit.

In der »Row Zero« hat man einen begehrten Stehplatz und die beste Sicht auf die Show. In der Szene sind solche Plätze und die Rammstein-Partys wohlbekannt – sodass auch die Mit-Organisatorin dieser besonderen Gästeliste, die bei Instagram Alena Makeeva heißt, eine große Anhängerschaft hat. Beachtliche mehr als 30 000 Follower*innen. Ob sie die Gästelisten im Alleingang organisiert oder offiziell an das Management angebunden ist, bleibt unklar. Dass Makeeva tatsächlich Frauen für die »Row Zero« und die Partys anwirbt, lässt sich ihren Instagram-Storys entnehmen, in denen sie fleißig Statements von Fans teilt.

Die junge Frau aus Irland, die sich in den sozialen Netzwerken Shelby Lynn nennt, gibt auf Instagram und Twitter an, ein verstörendes Konzerterlebnis gehabt zu haben. Unter anderem habe sie nach einem alkoholischen Getränk, das ihr auf einer Pre-Party angeboten worden sei, neben sich gestanden. Zur Show-Pause sei sie in einen kleinen Raum geführt worden, in den laut ihrer Aussage Rammstein-Sänger Till Lindemann kam, um mit ihr Sex zu haben. Das lehnte sie ab. Lindemann habe dies akzeptiert, sei aber nicht erfreut gewesen. Am nächsten Tag sei sie mit Erinnerungslücken aufgewacht und hatte außerdem Hämatome am Körper.

Sie möchte herausfinden, was mit ihr passiert ist und lädt eine Reihe Instagram-Storys und Tweets hoch. Ihr Verdacht: Es ist ihr etwas ins Getränk gemixt worden. Sie hat darüber hinaus das Gefühl, dass man zu den Shows geladen würde, um sich auf Sex einzulassen. Außerdem vermutet sie, dass das, was ihr passiert ist, auch anderen widerfahren sein könnte. Sie bittet um Erfahrungsberichte anderer Konzertgästinnen, die sie ebenfalls anonymisiert veröffentlicht.

In den sozialen Medien macht diese Geschichte am Pfingstwochenende die Runde, die deutschsprachige Presse hält sich zunächst bedeckt. Lindemanns Sturz von der Vilnius-Bühne ist in der Klatschpresse das große, unverfänglichere Thema, die Vorwürfe der jungen Frau werden nicht behandelt. Kein Wunder: Verdachtsberichterstattung ist dünnes Eis, und man wird besonders akribisch recherchieren müssen. Die Dinge, von denen die junge Konzertbesucherin berichtet, sind zunächst: Anschuldigungen.

Doch an der Rechercheleistung scheitert es offenbar bereits, wenn es darum geht, die Berichte eines weiblichen Musikfans auch nur korrekt wiederzugeben. Jede*r, der lesen kann (und will) oder bei fehlenden Englischkenntnissen auf den »Übersetzen«-Button von Tweets und Postings drückt, kann Lynns Schilderungen nachlesen. Spoiler: auch Journalist*innen. Fazit: Selbst wenn es sich erst einmal um Anschuldigungen handelt, ist es nicht unmöglich, diese auch korrekt wiederzugeben.

Aber es kommt natürlich anders. Die Diskussion im Netz setzt sich in Gang. Wie zu erwarten war, werden dabei auch die Aussagen der jungen Frau komplett verzerrt wiedergegeben, was sie veranlasst, ein Statement zu veröffentlichen: »Ich möchte es nochmal erklären. Till hat mich NICHT angefasst. Er hat akzeptiert, dass ich keinen Sex mit ihm wollte. Ich habe nie behauptet, dass er mich vergewaltigt hat. Bitte lest den kompletten Twitter-Thread für den kompletten Kontext, bevor ihr Behauptungen anstellt.«

Eine junge Frau erzählt also ihre Geschichte, wird falsch zitiert, sieht sich genötigt, die Sachlage klarzustellen – und daraus basteln manche Medien Behauptungen, dass das Opfer zurückrudere. Und: »Das angebliche Opfer relativiert seine Anschuldigungen«. Daraus meinen einige Rezipient*innen herauszulesen, dass die junge Frau gelogen habe und ihre Anschuldigungen frei erfunden seien. Aus einem Musikfan, der eventuell Scheiße auf einem Konzert geschehen ist und die darüber aufklären will, was mit ihr passiert ist, wird eine mutmaßliche Täterin, die Lügengeschichten über einen berühmten Musiker verbreitet.

#MetalToo? Fehlanzeige, hat man anscheinend noch nicht mal was aus der #MeToo-Ära gelernt und hält man noch immer an dem sexistischen Mythos fest, dass Frauen grundlos Karrieren erfolgreicher Männer mit Anschuldigungen zerstören wollen. Dass Frauen oft nicht geglaubt wird, wenn sie über Gewalterlebnisse oder Übergriffe berichten, ist unbestritten. Dass jungen Frauen, die als ausgewiesene Fans von Bands Scheiße bei Live-Shows erleben und das auch thematisieren, nicht geglaubt wird und man nicht mal genauer darauf schaut und sich fragt: »Wie sicher sind solche Events eigentlich?«, ist – egal was am Ende passiert ist – vor allem bedenklich.

Ich frage mich, woher es kommt, dass Menschen so unfassbar wütend werden, wenn prominente Männer beschuldigt werden. Dass Shelby Lynn und inzwischen auch viele andere junge Frauen darüber sprechen, was ihnen auf Konzerten mutmaßlich passiert ist, ist offenbar für viele Menschen schon ein zu krasser Affront. Es geht bei den erhitzten Debatten nicht um Wahrheitsfindung – und auch nicht darum, ob es im Bereich des Möglichen liegt, dass weibliche Fans schlimme Dinge bei Konzerten erlebt haben können. Die große Provokation liegt darin, dass Frauen sich gegen bestehende Strukturen wehren. Und damit das bewährte Default angreifen, das sich doch eigentlich bisher immer so super bewährt hat.

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