Glückshormone freisetzen

Singen im Chor stärkt das Immunsystem – und die soziale Verbundenheit

  • Angela Stoll
  • Lesedauer: 6 Min.

»Ich kann nicht singen.« Diesen Satz hört der Musiktherapeut Wolfgang Bossinger immer wieder. Er kontert mit Engelsgeduld, dass im Grunde jeder singen kann. Wer sagt denn auch, dass man exakt die Noten treffen muss? Doch manche Menschen sind durch negative Erlebnisse, etwa im Musikunterricht ihrer Kindheit, so sehr geprägt, dass sie sich nicht trauen, sich stimmlich auszuprobieren. Gelingt es ihnen dennoch, empfinden sie das oft wie eine Erlösung.

Ein schönes Beispiel dafür ist die Geschichte eines Kriminalkommissars, der vor einigen Jahren an einem von Bossingers Seminaren zu »heilsamem Singen« teilnahm. Er hatte als Kind in Musik eine glatte »Sechs« bekommen. Im nächsten Jahr stellte ihm sein Lehrer eine »Vier« in Aussicht – aber nur unter der Bedingung, sich in die letzte Reihe zu setzen und niemals mitzusingen. Daher war der Mann der festen Überzeugung, komplett unmusikalisch zu sein. Nur aus Liebe zu seiner Freundin, die eine Ausbildung zur Singleiterin machte, nahm er an dem Seminar teil. Schon bald fasste er in der neuen Gruppe Mut – und zwar so sehr, dass er seiner Liebsten schließlich vor 40 Leuten solo-singend einen Heiratsantrag machte. »Sie hat dann auch ›Ja‹ gesagt«, erzählt Bossinger. »Der Mann war überglücklich.« Er freute sich nicht nur über die Zusage, sondern auch darüber, dass eine Last von ihm abgefallen war und er seine Stimme wiedergefunden hatte.

»In der Musiktherapie gibt es das schöne Bild, dass in jedem von uns ein musikalisches inneres Kind lebt, das singen, musizieren, lachen und tanzen möchte«, sagt der Therapeut aus dem bayerischen Syrgenstein. Es wieder zum Leben zu erwecken lohnt sich – denn Singen hat vielfältige positive Eigenschaften auf Körper und Psyche. »Menschen, die viel singen, sind ausgeglichener, seltener depressiv und besser trainiert«, fasst er zusammen.

Zunächst einmal wirkt sich Singen, in welcher Form auch immer, positiv auf die Lungenfunktion aus. »Singen ist Atemtraining«, sagt Bernhard Richter vom Freiburger Institut für Musikermedizin. Wer längere Phrasen singt, braucht dazu ausreichend Luft. Er oder sie muss also lernen, vertieft zu atmen, was wiederum die Durchblutung der Organe verbessert.

Tatsächlich deuten Studien darauf hin, dass auch Menschen mit chronischen Lungenkrankheiten wie COPD und Asthma vom Singen profitieren. Wissenschaftlerinnen des London Imperial College kamen nach der Analyse mehrerer Studien zu dem Schluss, dass Singen die Lebensqualität lungenkranker Menschen steigert. Sie fanden dabei auch Hinweise darauf, dass sich einzelne Lungenfunktionsparameter verbessern.

Auch wenn man sich meist wenig bewegt, ist Singen für den Körper so anstrengend wie leichter Sport. »Der ganze Körper erbringt eine Hochleistung«, sagt Bossinger. »Das stärkt das Herz-Kreislauf-System. Profi-Sänger sind daher fit wie Dauerläufer.« Gleichzeitig lieferte eine Studie des Musikwissenschaftlers Gunter Kreutz, heute Professor an der Universität Oldenburg, bereits vor Jahren Hinweise darauf, dass Singen auch das Immunsystem auf Trab bringt: Dabei wurden Mitgliedern eines Laien-Chors vor und nach einer Probe Speichelproben entnommen. Nach dem Singen waren die Werte von Immunglobulin A deutlich erhöht. Dieser Stoff hilft, Infektionen der oberen Atemwege abzuwehren. Doch der diesbezüglich gute Ruf von Chören ist gewaltig ins Wanken geraten, als zu Beginn der Pandemie von Corona-Ausbrüchen nach gemeinsamen Proben berichtet worden war. »Dadurch hat Singen leider ein schlechtes Image bekommen«, sagt Bossinger. Inzwischen habe sich die Lage entspannt und die Nachfrage nach Singangeboten sei enorm gestiegen. Viele Menschen, meint er, sehnen sich nach der langen Isolation gerade nach Gemeinschaftserlebnissen.

Einer der wichtigsten Aspekte beim Singen ist für Bossinger nämlich der soziale: Durch gemeinsames Singen entsteht Verbundenheit. An einem kleinen Experiment konnten Forscher der schwedischen Uni Göteborg zeigen, dass sogar die Herzen von Chorteilnehmerinnen gleich schlagen. Sie untersuchten die Herzfrequenz der Sängerinnen und Sänger in Aktion und stellten fest, dass sich ihr Herzschlag als Folge koordinierten Atmens nach einigen Takten synchronisierte.

Gerade für Randgruppen der Gesellschaft, etwa für Obdachlose, Strafgefangene oder chronisch kranke Menschen können gemeinsame Proben besonders wohltuend sein. Im Jahr 2009 gründete Bossinger mit seiner Frau Katharina die Initiative »Singende Krankenhäuser«, die sich für Singangebote in Kliniken, Altenheimen und Hospizen engagiert. »Es ist faszinierend, wenn zum Beispiel Patienten mit chronischen Schmerzen berichten, dass sie beim Singen völlig schmerzfrei sind«, berichtet er von einer Schmerzklinik, die entsprechende Angebote macht.

Eine Rolle dabei könnte spielen, dass beim Singen offenbar körpereigene Cannabinoide ausgeschüttet werden. Immer wieder berichten Chorsängerinnen und -sänger, dass sie das Proben entspannt und glücklich stimmt. Dass sich dabei tatsächlich entsprechende Biomarker im Blut ändern, belegt ein unterhaltsames wissenschaftliches Experiment: Dafür ließ die Physiologin Saoirse O’Sullivan von der University of Nottingham Laiensänger jeweils eine halbe Stunde zusammen tanzen, Rad fahren, singen sowie Bedienungsanleitungen lesen und untersuchte ihr Blut vor und nach den Aktivitäten. Nach dem Singen stellte sie bei den Teilnehmerinnen die weitaus stärkste Ausschüttung körpereigener Cannabinoide fest, gefolgt von Tanzen und Radfahren. Dagegen veränderten sich die Werte beim Studieren von Anleitungen kaum – vielmehr wurde dabei schlechte Laune beobachtet.

Es muss aber nicht immer ein Chor sein. Auch wer allein unter der Dusche oder im Auto singt, profitiert von den positiven Effekten des Singens. »Emotionen Ausdruck zu verleihen, tut gut«, sagt Bernhard Richter. Das kann auch Trauer sein – nicht umsonst haben Klagelieder in zahlreichen Kulturen eine lange Tradition.

Viele Lieder sind mit starken Emotionen besetzt und wecken Erinnerungen an vergangene Zeiten. Alzheimer-Patienten, die sich an kaum noch etwas erinnern, können oft Melodien, häufig samt Texten, erstaunlich gut abrufen. »Lieder von früher können für sie ein Türöffner sein und den Zugang zur eigenen Kindheit eröffnen«, weiß der Musikermediziner. Das liegt daran, dass Musik in einem Bereich des Gehirns gespeichert ist, der von der Krankheit lange verschont bleibt.

Auch bei anderen neurologischen Erkrankungen profitieren die Betroffenen vom Singen, allen voran beim Verlust der Sprache infolge einer Hirnschädigung (Aphasie). In schweren Fällen hat sich insbesondere die »Melodische Intonationstherapie« bewährt: Dabei wird versucht, Patientinnen und Patienten durch Singen und rhythmisches Klopfen zum Mitsingen und -sprechen zu bringen. Erstaunlicherweise können manchmal auch Aphasiker, die sich kaum äußern können, bekannte Liedtexte singen. Das liegt daran, dass vertraute Floskeln in der rechten, intakten Hirnhälfte verankert sind – bewusste Sprache dagegen in der linken, die bei der Störung meist geschädigt ist. Daher gibt es in Deutschland mehrere Chöre für Aphasikerinnen und Aphasiker.

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