Virus löst politische Krise in Chile aus

Atemwegsinfektionen bringen Gesundheitssystem an den Rand des Zusammenbruchs

  • Malte Seiwerth, Santiago de Chile
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Grundschullehrerin Judith Lillo kramt in ihren Sachen, sie sucht eine Atemschutzmaske. »Ich hatte schon vergessen, wo ich die Dinger gelagert hatte«, meint sie mit einem Lächeln. Eigentlich war die Maske seit dem offiziellen Ende der Pandemie aus dem öffentlichen Leben verschwunden, doch seit dem 14. Juni verlangt das chilenische Gesundheitsministerium an allen Schulen erneut das Tragen einer Maske.

Grund für die Rückkehr zum Pandemiemodus ist eine besonders hohe Welle des alljährlichen Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV), das vor allem bei Säuglingen und Kleinkindern zu schweren Krankheitsverläufen führen kann. Seit Wochen sind die öffentlichen und privaten Kinderkrankenhäuser am Anschlag. Lehrerin Lillo erzählt, dass in ihren Klassen gut ein Drittel der Kinder wegen Krankheit fehlt.

Die Opposition nutzt dabei jeden Fehler der Regierung, um aus einer gesundheitlichen eine politische Krise zu machen. Damit zielt die rechte Opposition auch auf eine anstehende Reform des privaten Gesundheitssektors, der derzeit kurz vor dem Kollaps steht.

»Chile erlebt einen der stärksten Ausbrüche des Synzytial-Virus«, sagte Gesundheitsministerin Ximena Aguilera bereits Anfang Juni, die Fallzahlen seien weit über den Erwartungen. Mittlerweile zählen die Behörden über 1000 hospitalisierte Kleinkinder. Fast täglich berichten Medien von Todesfällen, verursacht häufig wegen fehlender Betten auf den Intensivstationen.

Nach der Pandemie wurden weltweit stärkere RSV-Ausbrüche registriert, da es während des Lockdowns kaum zu Ansteckungen und somit nicht zur Immunisierung der Bevölkerung kam. Dies trifft insbesondere die ärmere Bevölkerung, die angesichts tiefer Temperaturen in der Nacht, unisolierter Häuser und fehlender finanzieller Mittel zum Heizen häufig unter der Kälte leidet.

Besondere Aufmerksamkeit erhielt ein Fall aus der Hafenstadt San Antonio, bei dem herauskam, dass die Behörden sich nicht um eine Verlegung in ein privates Krankenhaus gekümmert hatten. Sofern in Chile alle öffentlichen Betten belegt sind, zahlt die öffentliche Krankenkasse den Aufenthalt in einer deutlich teureren Privatklinik.

Nachdem sowohl Ministerin Ximena Aguilera als auch der zuständige Staatssekretär Fernando Araos mehrmals die Version gewechselt hatten, warum in diesem Fall keine Verlegung stattfand, drohte die rechte Opposition, im Parlament in der Mehrheit, mit einer Verfassungsklage gegen die Ministerin. Erst als Staatssekretär Araos am 13. Juni sein Amt verließ, wurde die Drohung zurückgezogen.

Vor versammelter Presse versprach die rechte Politikerin Camila Flores am 12. Juni die rechtliche und politische Verfolgung der Verantwortlichen, »weil der chilenische Staat einem grundlegenden Recht nicht nachgekommen ist, dem der Gesundheitsversorgung«. In einem in den Medien als »schauderhaft« bezeichneten Akt, lud die Politikerin dabei die emotional sichtlich zerstörten jungen Eltern des verstorbenen Säuglings aus San Antonio zur Pressekonferenz ein.

Das öffentliche Gesundheitssystem erlebt gerade einen enormen Zustrom neuer Patient*innen, da immer mehr Menschen von privaten in die öffentliche Krankenkasse wechseln. Von 2021 bis heute verloren die privaten Krankenkassen gut ein Viertel aller Beitragszahler*innen. Dies, nachdem das oberste Gericht im Dezember 2022 zum wiederholten Male die privaten Krankenkassen aufforderte, ein Urteil aus dem Jahr 2019 zu befolgen, nach dem die Beiträge deutlich zu hoch berechnet wurden und demzufolge Rückzahlungen in Millionenhöhe fällig seien. Seitdem haben aufgrund von Zahlungsschwierigkeiten private Spitäler ihre Verträge mit den Krankenkassen gestrichen, was zu Schwierigkeiten bei der Übernahme der Kosten führt.

Die Opposition verlangt seit Monaten, die Regierung solle einen Teil der Kosten übernehmen und somit die Krankenkassen retten. Stattdessen baut die Regierung allerdings öffentliche Spitäler und medizinische Zentren aus, fördert die öffentliche Krankenkasse Fonasa und plant die ersten Schritte für einen Übergang zu einem universellen öffentlichen Gesundheitssystem. Federführend beim Ausbau war der kürzlich zurückgetretene Staatssekretär Araos. Die dazugehörenden Parlamentsdebatten werden von der Opposition weitgehend boykottiert. Für Lehrerin Lillo ein Affront: »Während wirkliche Lösungen nicht vorankommen, machen Medien und Opposition einen Skandal aus einem alljährlichen Phänomen.« Die Vermutung liegt nahe, dass hier versucht wird, von einem anderen Thema abzulenken.

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