- Berlin
- Tanzkultur
Seniorendisco: »Wer sich nicht bewegt, ist schon halb tot«
Michael Borges »Seniorendiscothek« geht erneut an den Start
Die Tanzfläche im Veranstaltungsraum der Seniorenwohnanlage Moro an der Neuköllner Rollbergstraße ist noch leer. Die Gäste wirken zunächst etwas verhalten, während Discjockey Michael Borge zwischen deutschen Schlagern und amerikanischen Evergreens wechselt, um herauszufinden, was sein Publikum hören will. Das sitzt noch an den Tischen, bei Kaffee, Wein oder Bier. Kuchen gibt es natürlich auch. Besonders der selbst gebackene Apfelstreuselkuchen ist beliebt bei den Bewohner*innen, die immerhin hier und da schon mitsingen. Auch wenn noch niemand tanzt, freuen sie sich sichtlich über das heutige Programm: Michael Borges »Seniorendiscothek«.
nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik - aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin - ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss.
Fast anderthalb Jahre musste Borges Veranstaltung pausieren, bevor der 74-Jährige sie Ende Mai wieder aufleben lassen konnte. Er hatte sie Ende 2021 schweren Herzens aufgeben müssen. Nun kann Borge seiner Leidenschaft wieder nachgehen. Die Frage ist, ob der Funke auch auf seine neuen Besucher*innen überspringt.
»Er ist ja zum ersten Mal hier. Die Leute müssen sich erst einmal daran gewöhnen«, sagt Helga Künstler zu »nd«. Auch der Seniorin war die seit 1974 bestehende »älteste Seniorendiscothek Berlins«, wie Borge seine Veranstaltung nennt, noch nicht bekannt. »Aber ich finde das ganz toll hier. Man muss nicht unbedingt tanzen, es läuft sehr gute Musik, und man kann bei ein bisschen Wein die Nachbarn kennenlernen.« Künstler wohnt seit dreieinhalb Jahren mit ihrem Ehemann an der Rollbergstraße und würde eigentlich auch mittanzen, wenn sie nicht eine Verletzung an der Ferse davon abhielte.
Die Künstlers hatten ihre Wohnung in Neukölln zuvor nach einem Eigentümerwechsel verlassen müssen. Der neue Eigentümer habe ihnen gesagt: »Entweder ihr bezahlt 240 000 Euro oder ihr müsst ausziehen«, berichtet Künstler. »Wo sollten wir denn so viel Geld herhaben?« Weil die beiden Senior*innen auf dem freien Wohnungsmarkt keine Chance hatten, zogen sie also in die Wohnanlage, in der gerade Borge auf die Musikwünsche seiner Gäste reagiert und Udo Jürgens spielt. »Mein Mann ist in Neukölln groß geworden, der wäre niemals hier weggezogen«, sagt Künstler. Sie mag die Seniorenwohnanlage und freut sich immer, wenn es ein Programm gibt. Auch sonst ist sie gern aktiv: »Wer sich nicht bewegt, ist schon halb tot.«
Im Veranstaltungssaal wird unterdessen die Stimmung ebenfalls langsam beschwingter. Einige Gäste sind inzwischen auf der Tanzfläche gelandet. Michael Borge gibt sich unübersehbar Mühe, sein Publikum zu unterhalten: Er moderiert seine Lieder an, verschenkt Rosen und CDs als Gewinne, etwa beim Song-Raten, und erzählt Witze.
Als Borge vor anderthalb Jahren das vorläufige Ende seiner damals seit 47 Jahren bestehenden Tanzveranstaltungen verkünden musste, stimmte ihn das traurig. Es war vor allem die eigene Gesundheit, die dem 74-Jährigen zu schaffen machte. Dazu kam die Pandemie, während der es zeitweise gar nicht möglich war, Tanzveranstaltungen abzuhalten. »Der Plan ist, die 50 Jahre doch noch vollzumachen«, sagte Borge damals, im Dezember 2021, zu »nd«. Diesen Plan will er nun in die Tat umsetzen.
Nachdem der Discjockey und beim Musikverlag Meisel angestellte Promoter eine Schmerztherapie hinter sich gebracht hatte, sollte Schluss sein mit der Zwangspause. »Ich war im Januar und im Februar in einer Klinik, jetzt bin ich wieder fit«, sagt er zu »nd«.
Ganz ohne Probleme läuft es allerdings nicht für seine »Seniorendiscothek«. So kann Borge die Räume in der »Tanzschule Keller« in Steglitz, die ihm lange als wöchentlicher Veranstaltungsort dienten, nicht mehr nutzen. In den vergangenen Jahrzehnten der »Seniorendiscothek« musste er immer wieder umziehen. Es sei aber längst nicht mehr so einfach wie zuvor, Veranstaltungsräume in der immer voller werdenden Stadt nutzen zu können. »Es ist deutlich schwieriger als gedacht, etwas Neues zu finden«, sagt Borge.
Zurzeit kann er alle vier Wochen in der Neuköllner Moro-Seniorenwohnanlage und alle vier Wochen im »Ballhaus Wedding« auflegen. Doch das reicht ihm nicht. »Mein Ziel ist es, die ›Seniorendisco‹ wieder einmal in der Woche zu machen.«. Der 74-Jährige will nicht daran denken, in den Ruhestand zu gehen. »Leute zu unterhalten, das ist mein Lebensinhalt. Das ist das, was ich schon immer mache, warum sollte ich damit aufhören?« Erst wenn er merke, dass er sein Publikum mit seiner Arbeit nicht mehr erreiche, erst dann werde er einen Schlussstrich ziehen.
Noch ist er da zuversichtlich, und das nicht ohne Grund: Waren bei seiner ersten Veranstaltung in der Moro-Wohnanlage in Neukölln nur etwa 30 Senior*innen anwesend, so konnte er bei seinem nächsten Versuch im Juni schon doppelt so viele Gäste unterhalten. »Ich muss dort neu anfangen und beim ersten Mal war es vor allem wichtig, das Publikum zu erobern. Das ist mir gelungen«, sagt Borge.
Besonders schön findet der Discjockey, dass – so zumindest sein Eindruck – alle Gäste, die schon im Mai dabei waren, beim nächsten Mal wiederkamen. »Es war voll, es war schön und den Leuten hat es gefallen«, so sein Fazit zur zweiten Veranstaltung. Borge nimmt an, dass sich seine »Seniorendiscothek« schnell herumgesprochen hat in der Wohnanlage. Denn schon zur Juni-Veranstaltung habe es viele Anmeldungen gegeben und auch für die nächste Veranstaltung am 2. August hätten sich viele Menschen angemeldet.
Neben dem neu zu erobernden Publikum in Neukölln kann sich Borge aber auch auf einige Stammgäste verlassen. So sind bei der ersten »Seniorendisco« in der Moro-Wohnanlage die fleißigsten Tänzer*innen zwei Paare, die Borge schon seit Jahren kennen und in der Vergangenheit zu vielen seiner Veranstaltungen gekommen sind. »In die ›Tanzschule Keller‹ sind wir bestimmt zehn Jahre lang gegangen, wir haben dort alle unsere Geburtstage gefeiert«, erzählt Marion Wendt. Borge selbst sagt, dass es nicht einfach sei, seine Stammgäste von damals in neue Veranstaltungsräume mitzunehmen, wenn diese zu weit weg lägen. »Wir kommen gerne wieder, wenn er wieder was macht«, sagt Wendt.
Das Besondere an Borges »Seniorendiscothek« sei, neben den Unterhaltungseinlagen durch kleine Spielchen und Anekdoten, dass der Promoter schon immer gute Verbindungen zu bekannten Schlagersänger*innen gehabt habe und diese als Gäste zu seinen Veranstaltungen einladen könne, erzählt Pepe Knetsch. Auch er kennt Borge schon lange und tanzt mit Partnerin Sandra Mayer viele Runden zu Borges Liedern.
Auch Borge erzählt in Neukölln gern von den »längst vergangenen Zeiten«. Max Raabe zum Beispiel habe er selbst entdeckt, auch Roland Kaiser sei einst ein Gast seiner »Seniorendiscothek« gewesen, als diese noch ganz am Anfang von Borges Karriere in einem Tanzpalast am Kurfürstendamm stattgefunden habe. »Damals war ich der erste, der sich für die Älteren interessiert hat. Inzwischen gibt es da viel mehr Angebote, was ja auch gut ist«, sagt er. Ihm sei wichtig, dass trotz der Zielgruppe Senior*innen alle Altersgruppen auf seinen Veranstaltungen willkommen seien. »Ich mache Musik für alle«, sagt er.
Als er gegen Ende seiner Veranstaltung Tina Turner auflegt, zieht es langsam auch diejenigen auf die Tanzfläche, die vorher noch auf ihren Stühlen klebten. Klatschend und stampfend tanzen die Menschen zur Musik der jüngst verstorbenen »Rockröhre«.
Die nächste »Seniorendiscothek« soll am 17. Juli im »Ballhaus Wedding« steigen. Dort will Borge in den kommenden Monaten ebenso wie an der Neuköllner Rollbergstraße einmal im Monat auflegen. Angedacht ist, die Veranstaltungen zunächst für ein halbes Jahr lang genau so abzuhalten. »Mal schauen, wie es danach weitergeht. Ich mache gerne weiter, solange die Leute mich wollen«, sagt Discjockey Borge.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.