Jürgen Grässlin: Für das Leben

Jürgen Grässlin über Rüstungsexporte, Militär als Klimakiller und die Kraft zivilen Widerstandes

  • Interview: Olaf Neumann
  • Lesedauer: 8 Min.

Herr Grässlin, vor nunmehr 35 Jahren erreichten Sie, dass Daimler-Chrysler seine Landminenproduktion einstellt. 2013 hat der Konzern sogar seine ganze Rüstungssparte verkauft. Welche Fähigkeit braucht man als Friedensaktivist vor allem, wenn man einen mächtigen Konzern dazu zwingen möchte, aus der Waffenproduktion auszusteigen?

Interview

Jürgen Grässlin, 66, der laut »Spiegel« bekannteste und hartnäckigste Pazifist und Rüstungsgegner der Bundesrepublik Deutschland, recherchiert seit Jahrzehnten in Kriegs- und Krisen­gebieten, begibt sich immer wieder auf die Spur deutscher Waffen und interessiert sich für das Schicksal ihrer Opfer. Jetzt hat der studierte Pädagoge und Sprecher der Deutschen Friedens­gesell­schaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen eine kämpferische und berührende Autobiografie vorgelegt: »Einschüchtern zwecklos. Unermüdlich gegen Krieg und Gewalt – was ein Einzelner bewegen kann« (Heyne, br., 380 S., geb., 14 €).

Erst einmal die Bereitschaft, eigene Vorbehalte zu überwinden. Für mich hieß das, meinen Beschluss über Bord zu werfen, niemals im Leben eine Aktie eines Rüstungskonzerns zu kaufen. Anfang der 90er Jahre habe ich eine Daimler-Aktie erworben und bin bei den Kritischen Aktionärinnen und Aktionären eingestiegen. Mit nur einer einzigen Aktie hat man die gleichen Rechte wie mit 10 000 Aktien. So kann man Gegenanträge stellen, zum Beispiel zur Nichtentlastung von Vorstand und Aufsichtsrat.

Und das haben Sie dann getan.

Ja, wir haben immens darauf gedrängt, dass Daimler sich von der Rüstungssparte trennt, die unter den damaligen Vorsitzenden Edzard Reuter und Werner Breitschwerdt in den vormaligen Autokonzern eingegliedert wurde. Daimler avancierte zum größten deutschen Rüstungsriesen. Durch breit angelegte öffentliche Kampagnen ist es uns gelungen, den Druck der Öffentlichkeit gegen den Daimler-Vorstand, nunmehr unter Jürgen Schrempp, so stark aufzubauen, dass das Unternehmen um seinen guten Ruf als Automobilproduzent fürchten musste. Unser Motto war: Wir kaufen keinen Mercedes bei einem Konzern, der Landminen herstellt. Daimler ist letztlich nicht nur aus der Landminen-, sondern auch aus der Rüstungsproduktion ausgestiegen. Was für ein Erfolg!

Der Bundessicherheitsrat im Kanzleramt befindet über besonders brisante Rüstungsexporte. Wie bewerten Sie hier die Rolle von Olaf Scholz?

Die meisten Waffenexporte in Krisen- und Kriegsgebiete in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sind von Kanzlerin Angela Merkel als Vorsitzende des Bundessicherheitsrates genehmigt worden, zusammen mit acht Ministern in geheimen Sitzungen. Olaf Scholz war in ihrer Großen Koalition Vizekanzler und hat unter anderem den Waffentransfers nach Saudi-Arabien, Katar und in die Vereinigten Arabischen Emirate mit bewilligt. Hemmungslos genehmigt er bis heute Waffenexporte an Staaten, die Menschenrechte verletzten oder gar Krieg führen. So gesehen leistet der Bundessicherheitsrat Beihilfe zum Morden auf den Schlachtfeldern der Welt.

Rüstungsexporte bedeuten Tod. Wie hoch war in den letzten Jahren die Zahl der Opfer von deutschen Waffen?

Eine verifizierbare Antwort auf diese Frage bekommen Sie von keinem Experten auf der Welt. Ich habe mich wiederholt auf die Spuren der G3-Gewehre in Krisen- und Kriegsgebieten begeben und auch diesbezüglich für mein neues Buch »Einschüchtern zwecklos« recherchiert. recherchiert. Anhand konkreter Schicksale zeige ich, wüten die Empfänger deutscher Kleinwaffen bis in die tiefsten Winkel Afrikas und Asiens auf bestialische Art und Weise wüten. Die Zahl der Opfer deutscher Waffen kann man immer nur an einzelnen Massakern oder an offiziellen Zahlen der Militärs festmachen.

Eine Bilanz des Militärs der Türkei etwa besagt, dass es im Bürgerkrieg gegen die Kurden mehr als 30 000 Opfer gegeben hat. Diese Zahl kann unter- oder auch übertrieben sein. Ich habe vor Ort bei Undercover-Gesprächen mit türkischen Soldaten und kurdischen Betroffenen festgestellt, dass die Streitkräfte aus Ankara im Kurdengebiet mehr als 3000 Dörfer zerstört und Abertausende Menschen getötet haben – zu 90 Prozent mit Hecklee & Koch-Waffen. Insgesamt schätze ich, dass mehr als zwei Millionen Menschen mit Waffen dieses Unternehmens aus Oberndorf oder Lizenzstätten in aller Welt erschossen wurden. Während des Kalten Krieges nahmen die Rüstungsexporte im Großwaffenbereich bis 2001 ab, nachgewiesen durch Sipri. Seit den Terroranschlägen von None/Eleven nehmen sie wieder zu, mit dem Ukraine-Krieg sogar exorbitant. Im Moment finden weltweit 25 Kriege statt, die von den Industrienationen in West und Ost mit Waffenexporten extrem befeuert werden.

Wie belastend waren für Sie die Begegnungen mit Opfern bzw. deren Hinterbliebenen?

Immens. Ich habe dies erstmals 2003 in meinem Buch »Versteck dich, wenn sie schießen« beschrieben. In meinem neuen Buch berichte ich, wie ich an manchen Tagen mit drei oder vier Opfern für je zwei Stunden gesprochen habe. Ich protokolliere immer alles sehr genau. Zu diesen oft bitterarmen Menschen haben mich Flüchtlingsorganisationen oder Gewerkschaftskollegen und -kolleginnen geführt. Oft saß ich einer immer noch am ganzen Leib zitternden Witwe eines ermordeten Mannes gegenüber. Eine ganze Generation von Kurdinnen und Kurden in der Türkei ist aufgrund des skrupellosen Einsatzes deutscher Kleinwaffen bis heute traumatisiert, selbst wenn das Abschlachten vor mehr als zehn oder zwanzig Jahren stattgefunden hat.

Wie kann man mit Traumatisierten sprechen?

Behutsam. Fragt man genau nach, kann es passieren, dass die Ehefrau, der Bruder oder die Mutter eines getöteten Menschen einen Flashback erlebt und plötzlich berichtet, wie dessen Hirn an die Wand spritzte. Vielfach übergeben sich die Angehörigen dann oder machen sich in die Hose. Ich habe die Berichte manchmal selbst kaum ausgehalten und wollte wiederholt das Interview abbrechen. Aber die Betroffenen wollten nicht, dass ich gehe. Sie wollten erzählen. Ich musste auch sehr aufpassen, dass die Stimmung nicht kippt und die Leute in ihrer Verzweiflung in mir gar einen Mitschuldigen sehen, einen Mann aus dem Land der Waffenexporte. In solchen Momenten wurde mir hautnah bewusst, wie eng wir Deutschen in das Leid und die Not auf den Schlachtfeldern der Welt involviert sind. Heute ist alles noch schlimmer als früher. Aber da die Türkei Nato-Partner ist, kümmert sich die westliche Welt nicht um das Schicksal der Kurden.

Der Ukraine-Krieg hat zu einer neuen Aufrüstungsspirale geführt. Mit welchen Folgen für die Friedensarbeit?

Es ist wie ein Rollback in die Zeit des Kalten Krieges, als die Militaristen und Bellizisten die Oberhand hatten. Als ein Aktivist der Friedensbewegung der 80er erinnere ich mich noch sehr genau an unsere damalige Angst, dass der Kalte Krieg ein heißer wird, um Millionen Grad heißer als alle vorherigen Kriege, dass von Ost nach West und von West nach Ost alles und alle vernichtende Atomraketen fliegen. Die Welt stand mehrfach am Rand eines nuklearen Krieges. Diese Erinnerungen kommen jetzt wieder hoch. Wladimir Putin droht massiv mit dem Einsatz von Atomraketen, sollte die konventionelle Kriegsführung nicht die gewünschten Erfolge erzielen. Erstaunlicherweise führt das nicht zu der Erkenntnis in der westlichen Politik, dass Pazifismus wichtiger ist denn je, im Gegenteil, man schwört auf Militarismus. Das Ergebnis: Jetzt schon ist ein Drittel der Ukraine mit Landminen verseucht. Dieser Prozess schreitet voran, und täglich sterben mehr als 500 Menschen.

Hochrüstung sorgt nicht für mehr Sicher-
heit?

Vielleicht empfindet das manch einer so, ich aber keinesfalls. Ich recherchiere seit 40 Jahren zu Hochrüstung und Rüstungsexporten. Dabei habe ich eine Negativerfahrung nach der anderen gemacht. Die US-amerikanischen Wissenschaftlerinnen Erica Chenoweth und Maria Stephan listen in ihrer Studie »Why Civil Resistance Works« mehr als 300 kriegerische Auseinandersetzungen auf und bezeugen, dass gewaltfreier Widerstand stets wesentlich erfolgreicher war und ist als militärische Interventionen. Kriege führen in der Regel nur zu verbrannter Erde. Die einzigen Profiteure sind die Rüstungskonzerne, die beiderseits der Front in unendlichem Ausmaß Waffen für die Schlachtfelder liefern. Die Opfer sind wie immer Zivilistinnen und Zivilisten, aber auch Soldatinnen und Soldaten. Ein überraschendes Ergebnis der Analyse der beiden Forscherinnen war: Mit zivilem Widerstand in Form von gewaltfreien Blockaden bis hin zu Totalstreiks konnten vielfach Okkupanten aus dem Land vertrieben werden, ohne dass es zu Verwüstungen mit massenhaften Toten kam.

1988 ist der Bund für Soziale Verteidigung gegründet worden, der unter anderem Kampagnen wie »Wehrhaft ohne Waffen!« organisiert. Können solche Initiativen die Eskalationsspirale in der Ukraine und anderswo stoppen?

Es gibt Hunderte von gewaltfreien Widerstandsformen, über die leider in den Medien kaum berichtet wird. Auf der Homepage des Bundes für Soziale Verteidigung (www.soziale-verteidigung.de) findet man einige. Ich will mir nicht anmaßen, Menschen in der Ukraine zu sagen, wie sie sich zu verhalten haben. Aber das Ergebnis der militärischen Eskalationsspirale sehen wir bereits jetzt. Da der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, seine Regierung und die Regierenden westlicher Staaten einseitig auf militärischen Widerstand setzen, gibt es in der Ukraine einen verheerenden Stellungskrieg. Bereits jetzt schätzt man die Zahl der Toten auf 100 000 Tote auf russischer und 140 000 Tote auf ukrainischer Seite. Wir brauchen schnellstmöglich einen Waffenstillstand und ernst zu nehmende Friedensverhandlungen mit dem Ziel der Neutralität der Ukraine, garantiert und gesichert von den Vereinten Nationen und den führenden Staaten in West und Ost.

Sie schreiben, ziviler Widerstand sei dreimal so erfolgversprechend wie militärischer. Wenn dem so ist, warum wird dann fast immer zu militärischen Mitteln gegriffen?

Weil der militärisch-industriell-politische Komplex von Kriegen profitiert. Konkret verantwortlich dafür sind diesmal Wladimir Putin und seine Militärs, die mit ihrer Intervention das Völkerrecht brachen. Zugleich wollen auch die westlichen Industrienationen ihre Rüstungsindustrie stärken und ihre Waffenexporte ausbauen – der Ukraine-Krieg erscheint ihnen da als dankbarer Anlass oder Vorwand. Es gibt eine Schicht von Verantwortlichen in der Rüstungsindustrie, in der Politik, bei den Lobbyisten, die sehr gut an Kriegen verdienen.

Immer mehr Waffen überschwemmen den Planeten. Können Sie da als Friedensaktivist noch optimistisch in die Zukunft blicken?

Wir müssen die »Zeitenwende« neu und ganz anders definieren, als Bundeskanzler Scholz am 27. Februar vergangenen Jahres in seiner Rede im Bundestag. Lassen Sie uns die Wende zum Guten anstoßen. Ich möchte den Menschen Mut machen zum Widerstand gegen Hochrüstung und Militarisierung und gegen die Klimakatastrophe. Auch das Militär ist ein schlimmer Klimakiller. Und es ist aus allen bedeutenden Klima-Abkommen ausgenommen. Die Streitkräfte aller Nationen können den Globus nach Belieben verschmutzen und belasten. Auch dagegen müssen wir uns wehren. Ich hoffe sehr, dass ich Menschen ermutigen kann, aktiv Widerstand zu leisten. Auch weil das Geld, das für den stark steigenden Rüstungsetat verschwendet wird, in Bildung und Kultur, in der Gesundheit und Pflege fehlt, wo es viel Gutes bewirken, Leben erhalten und Leben bereichern könnte.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.