Sigmund-Freud-Museum: Nicht nur erinnern und wiederholen

Eine Sonderausstellung im Wiener Sigmund-Freud-Museum widmet sich dem geistigen Erbe des Gründervaters der Psychoanalyse

Warten auf den Doktor: Das Vorzimmer ist der einzige rekonstruierte Raum im Sigmund-Freud-Museum.
Warten auf den Doktor: Das Vorzimmer ist der einzige rekonstruierte Raum im Sigmund-Freud-Museum.

Auf merkwürdige Art und Weise sind Wien und Sigmund Freud miteinander assoziiert. In Österreichs Hauptstadt ist man stolz auf den weltberühmten Sohn; der Nervenarzt wiederum war Wiener durch und durch und liebte seine Heimatstadt. Seine Wohn- und Arbeitsräume in der Berggasse 19 in Alsergrund, im neunten Bezirk, sind fast so bekannt wie der Mann, der dort zu Hause war. Unzählige Anekdoten kursieren über das, was sich dort auf und hinter der Couch ereignet hat. Viele Filmszenen führen den Zuschauer in Freuds Praxis im noch jungen 20. Jahrhundert. Wenn wir über Freud sprechen, reden wir nie nur über den geistigen Kosmos, den er eröffnet hat. Es ist eine eigenartige Aufladung unbelebter Gegenstände und Orte – wie sie auch in Lothar Müllers lesenswertem Buch »Freuds Dinge« unterhaltsam beschrieben werden –, die ins Zentrum rücken, wenn wir uns den Urvater der Psychoanalyse ins Gedächtnis rufen. Freud und die Couch, die Zigarre, die antiken Statuetten.

Besucht man das Museum, das sich heutzutage in den Räumlichkeiten befindet, stößt man zunächst auf Gedanken anregende Leere. Fast 50 Jahre lebte, lehrte, arbeitete Freud hier. 1938 wurde die Flucht vor den Faschisten unausweichlich, Hinterlassenschaften in Wien gibt es nicht, und so führt hier niemand ein historistisches Kostümstück auf. Einzelne Stücke aus Freuds Besitz sind zwar ausgestellt, aber sonst erscheint nur das Wartezimmer in der Originaleinrichtung. Fotografien, kurz vor der Flucht von Edmund Engelmann aufgenommen, geben einen Eindruck davon, wie es in den großzügigen Zimmern ausgesehen haben muss. Die eigentliche Ausstellung findet vielleicht im Imaginären statt. Freud hätte das womöglich gefallen.

Eine aktuelle Sonderausstellung mit dem Titel »Die unendliche Analyse«, kuratiert von Esther Hutfless, nimmt »psychoanalytische Schulen nach Freud« in den Blick. Der Museumsbesucher trifft hier auf ein schlichtes, reduziertes Ausstellungskonzept, das ganz der Wissensvermittlung verschrieben ist. Mit altbackener Exponatenprahlerei hat man es nicht zu tun.

Fünf postfreudianischen Schulen widmet sich die Ausstellung in je gleicher Weise. Auf einer Tafel wird die Denkrichtung selbst, auf einer weiteren ein zentraler Repräsentant vorgestellt; in einem Videointerview gibt ein zeitgenössischer Vertreter Auskunft; und Schlüsselwerke können, auf einem schmalen Regalbrett angeordnet, durchgeblättert werden. Der didaktische Charakter ist nicht zu leugnen, aber kaum irgendwo dürfte man eine so kompakte Einführung in die Grundlagen der Psychoanalyse heutzutage bekommen wie in dieser Ausstellung. Wem der Weg nach Wien dafür zu weit ist, kann, die Lektürehinweise ausgenommen, alle Informationstexte und Videos auch online einsehen.

Und so kann sich der interessierte Besucher in einem überschaubaren Raum Station für Station widmen. Die Objektbeziehungstheorien einer Melanie Klein, die auf die Analyse von Kindern und deren präödipales Verhältnis zu anderen Personen fokussieren, werden vorgestellt. Stephen Mitchell, einer der Begründer der relationalen Psychoanalyse, sah den Kern in der Beziehung von Analysand und Analytiker und hat eine neue Selbstreflexion von Letzterem eingefordert. Ähnlich wie durch diesen erfährt auch in Heinz Kohuts Konzept der Selbstpsychologie Freuds Triebtheorie eine Kritik; Kohut konzentrierte sich vielmehr auf das Ich und seinen Leidensdruck. Jacques Lacans strukturale Psychoanalyse wiederum geht davon aus, dass das Individuum, wortwörtlich, durch die Sprache konstituiert und strukturiert ist. Einer der bekanntesten Lacan-Schüler ist Jean Laplanche, der seine eigene Trieb-, Struktur- und Konflikttheorie begründet hat, dernach er Freuds Triebtheorie dergestalt variiert, dass der Trieb nicht mehr dem Subjekt eingeschrieben ist, sondern aus der gesellschaftlichen Situation erwächst und sich im Individuum manifestiert.

All diese teils überkomplexen Denkrichtungen finden sich zurzeit in der psychoanalytischen Praxis selten in einer dogmatischen Ausgestaltung. Zentrale Ideen aus den einzelnen Schulen, etwa was die Rolle des Analytikers angeht, finden sich gegenwärtig mehr oder weniger übergreifend im therapeutischen Kontext jedweder Ausbildung.

Die Beziehungsgeschichte zwischen der Linken und der Psychoanalyse ist lang und gezeichnet von Widersprüchen und Vorbehalten. Der Vulgärmaterialismus der einen wollte und will nicht zur zutiefst bürgerlichen Nabelschau der anderen passen. Und doch gab es immer wieder Berührungspunkte, die mit dem Freud-Schüler Wilhelm Reich ihren Anfang nehmen. Er hat vor seiner parawissenschaftlichen Wende auch praktisch nach einer Versöhnung von linker und psychoanalytisch-medizinischer Praxis gesucht und in der Zwischenkriegszeit im Umfeld der kommunistischen Bewegung gewirkt. Die Kritische Theorie dachte Freud und Marx zusammen. In Folge von 1968 erlebte die Psychoanalyse, gelesen unter linken Vorzeichen, eine Renaissance.

Von den in der Ausstellung vorgestellten Schulen ist es heutzutage wohl vor allem, aber nicht nur, die strukturale Psychoanalyse, die unter Linken ihre Rezipienten hat. Hat sich Lacan gegen politische Vereinnahmung gewehrt, so hat sich der französische Denker doch unter theorieaffinen Linken seinen Platz im Bücherregal erkämpft. Nicht zuletzt der linke Pop-Philosoph Slavoj Žižek zieht ihn regelmäßig für seine unkonventionellen Deutungen neuester Hervorbringungen der Kulturindustrie zu Rate. Über den Umweg Louis Althusser hat sich Lacan aber auch in die marxistische Philosophie Frankreichs tief eingeschrieben.

Von diesem erheblichen Einfluss Freuds und seiner Erben auf linke Theoriebildung erfährt man in »Die unendliche Analyse. Psychoanalytische Schulen nach Freud« nichts. Die Ausstellung verfolgt die Psychoanalyse vor allem als therapeutische Praxis und nicht vordergründig als weltanschaulich-philosophische Strömung. Dass aber auch diese nicht eines politischen Charakters entbehrt, wird vor allem an den Interviews deutlich.

Der Kleinianer Kirkland C. Vaughans thematisiert beispielsweise Rassismus, der einige Analysanden auf die Couch führt. Avgi Saketopoulou, eine Vertreterin der relationalen Psychoanalyse, kritisiert die Selbstüberhöhung der Psychoanalyse und mahnt gleichsam an, Queer und Postcolonial Studies mitzudenken, wenn es darum geht, die Konstitution des menschlichen Individuums ausmachen zu wollen. Sie hält die Psychoanalyse für widerständig auch gegen die neoliberale Logik des ständigen Produktivitätszwangs. Auch die Lacanianerin Eve Watson hält sie für das probate Mittel gegen die Reduzierung des Menschen auf ein bloßes Objekt auf dem Markt. Wenn sie das vermag, darf die Analyse gerne weitergehen – vielleicht auch unendlich lang.

»Die unendliche Analyse. Psychoanalytische Schulen nach Freud«, bis 8. Oktober, Berggasse 19, Wien, Sigmund-Freud-Museum
www.freud-museum.at

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