Berliner Kitas: Keine Zeit für Bildungsarbeit

Den Kita-Fachkräften reicht es. Jetzt haben sie ein Manifest für Bildung und Entlastung vorgelegt

»SOS Kita«: So lautet das Motto der kämpfenden Erzieher*innen auf dem Alexanderplatz.
»SOS Kita«: So lautet das Motto der kämpfenden Erzieher*innen auf dem Alexanderplatz.

Noch scheint die Sonne, als sich die etwa 30 Erzieher*innen mit ihren gelben Warnwesten und weißen Regenschirmen auf den Weg vom Alexanderplatz zum Roten Rathaus machen. Sie laufen im Block und rufen im Chor: »Eins und zwei und drei und vier – für gute Kitas kämpfen wir!« Und darum, dass ihre dramatische Überbelastung in den Einrichtungen ein Ende findet. »SOS, das ist das Zeichen, für Bildung wollen wir mehr erreichen! In den Kitas brennt die Luft, darum heute jeder ruft: Und eins...« Damit geht das zehnversige Protestgedicht wieder von vorn los.

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Bis zum Roten Rathaus können die Erzieher*innen ihre einstudierte Performance allerdings nicht durchziehen. Schon auf der Hälfte der 700-Meter-Strecke stürmt es in einem Ausmaß, dass die Regenschirme nicht mehr zu halten sind. Es kommt so viel Wasser vom Himmel, dass sich alle in die umliegenden Restaurants flüchten und in den Waschräumen abtrocknen müssen. »Das Wetter passt zu unserer Situation«, sagt eine der Erzieher*innen, als sich die Gruppe nach Abklingen des Gewittersturms am späten Dienstagnachmittag tapfer doch noch vor dem Roten Rathaus für eine kleine, durchnässte Kundgebung versammelt.

Anlass der Aktion ist die Vorstellung des »Kita-Manifests für Bildung und Entlastung«, das von der Gewerkschaft Verdi und den dort organisierten Erzieher*innen der fünf landeseigenen Berliner Kita-Betriebe erarbeitet und nun öffentlich verlesen wird. »Wir, die pädagogischen Fachkräfte in den Kitas, sind am Ende: Fachkräftemangel, Krankheitsausfälle, steigende Bedarfe bei Kindern und Eltern. Bilden und erziehen können wir schon lange nicht mehr – wir verwahren nur noch«, heißt es in dem Manifest, das den dringenden Handlungsbedarf deutlich macht. In keinem anderen Berufsfeld sei die Burn-out-Quote so hoch. Zurzeit sei es kaum möglich, das Wohl und die Sicherheit der Kinder zu gewährleisten.

Deshalb versuchen die Erzieher*innen, sich in ihren Betrieben zu organisieren, um Veränderungen zu erwirken. Auf betrieblicher Ebene schlägt das Manifest dabei drei Handlungsoptionen vor: erstens Gefährdungsanzeigen schreiben, um die Dramatik der Situation über die Betriebsleitungen an die Kita-Aufsichten und die Landesebene weiterzugeben, zweitens Personalbarometer einführen, um den Personalbedarf und die tatsächliche tägliche Besetzung festzuhalten, und drittens Notfallpläne umsetzen, um verbindliche Maßnahmen bei Unterbesetzung zu ergreifen.

Mariana Varga ist Erzieherin in einer Lichtenberger Einrichtung der kommunalen Kindergärten Nord-Ost. »Ich bin seit 15 Jahren in dem Beruf. In der Zeit hat eine große Entwicklung stattgefunden, der Bildungsbereich hat sich sehr verändert«, sagt sie »nd«. Die Mittvierzigerin stellt in ihrem Arbeitsalltag fest, was Pädagog*innen seit vielen Jahren immer wieder anprangern: Es fehlt an Personal, um angemessen mit den Kindern zu arbeiten. »Man kommt einfach nicht dazu, gezielte pädagogische Bildungsangebote zu machen, zum Beispiel die notwendige Sprachförderung in Kleingruppen. Oder die Begleitung von Kindern in ihrem Alltag, gerade bei herausforderndem Verhalten, wo es eine kleinteilige Betreuung braucht.«

Varga ist deshalb seit Januar richtig in die Gewerkschaftsarbeit eingestiegen. »Ich bin schon sehr lange bei Verdi, war aber nur zahlendes Mitglied. Jetzt bin ich aktiv geworden, weil die Situation nicht mehr hinnehmbar ist.« Die Überbelastung, weil ständig Personalengpässe aufgefangen werden müssen, der Umstand, dass längerfristige Planungen von Diensten nicht möglich sind – diese Missstände möchte Varga beheben. »Man kann nur etwas ändern, wenn man selbst aktiv wird. Deshalb ist es so wichtig, dass wir jetzt etwas tun«, sagt sie.

Dabei geht es längst nicht nur darum, dass Erzieher*innen unter angemessenen Bedingungen arbeiten können. Es geht auch und vor allem um Sicherheit, Bildung und soziale Gerechtigkeit für die Kinder, und das nicht nur in der Kita selbst. »Schulstartschwierigkeiten durch mangelnde Sprachfähigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten: Das sind die zwei größten Probleme, die wir in die Schule mitgeben«, sagt Varga.

Die Erzieherin beobachtet in ihrem eigenen Kiez, in dem sie wohnt und arbeitet, wie schwer es Kinder in der Schule haben, weil soziale Benachteiligungen oder gesundheitliche Schwierigkeiten schon in der Kita nicht aufgefangen werden können. »Wir geben die Kinder mit stark unterschiedlichen Voraussetzungen an die Schulen ab. Dann haben die Lehrer dort das Problem, aber die Schulen sind ja auch nicht darauf ausgelegt, das aufzufangen.« Und so bleibe alles wieder an den Familien hängen. »Uns Erzieher*innen und den Kindern sollte man die Zeit und den Raum geben, dass die Kinder sich entwickeln können. Aber die haben wir nicht«, sagt Varga.

Um mit der angespannten Personalsituation umzugehen, sind in Vargas Betrieb bereits die Notfallpläne im Einsatz, die die bei Verdi organisierten Erzieher*innen für alle Kita-Betriebe fordern. »Wir mussten in diesem Jahr schon zwei oder drei Mal die Öffnungszeiten verkürzen«, sagt die Erzieherin. Das gelte dann für zwei bis drei Wochen, in denen zu viele Fachkräfte etwa krankheitsbedingt ausfielen, und müsse gegebenenfalls verlängert werden, wenn sich die Lage danach nicht entspannt habe.

»Die Maßnahmen treten in Kraft, wenn wir es nicht schaffen, die Dienste abzudecken. Dabei geht es inzwischen eigentlich nur noch um die Aufsichtspflicht.« Alternativ würden Gruppen, die nicht betreut werden könnten, auf die anderen aufgeteilt. »Dann sind zum Beispiel statt 22 Kindern eine Zeit lang 28 Kinder in einer Gruppe« – was die Belastung für die Kolleg*innen im Dienst noch weiter erhöhe. Auf der anderen Seite müssten verkürzte Öffnungszeiten oder Schließtage von den Eltern aufgefangen werden, die darüber auch nicht gerade glücklich seien und die Betreuung ihrer Kinder nur in einem bestimmten Ausmaß übernehmen könnten. »Die Eltern unterstützen uns, aber sie müssen auch die Möglichkeit zur Betreuung selbst haben«, sagt Varga.

In zwei der fünf Berliner Kita-Eigenbetriebe werden bereits Notfallpläne bei Personalunterbesetzung umgesetzt. »Die anderen Betriebe sind da auch dran«, sagt Tina Böhmer, zuständige Gewerkschaftssekretärin bei Verdi, zu »nd«. Man wolle berlinweit einheitliche Standards einführen. Dazu gehöre ein Stufenplan, der unterschiedliche Maßnahmen im grünen, gelben und roten Bereich der Personalbesetzung vorgebe, bei denen Gruppen zusammengelegt, Angebote gekürzt und im schlimmsten Fall Öffnungszeiten reduziert würden.

Die Eigenbetriebe beschäftigen etwa 7600 Fachkräfte und betreuen rund 35 000 Kinder in knapp 280 Einrichtungen. Damit machten die öffentlichen Kitas rund 20 Prozent der Berliner Kita-Landschaft aus, sagt Böhmer. Der deutlich größere Teil wird von freien Trägern betrieben. »Die Probleme sind strukturell und betreffen alle Kitas in Berlin«, sagt die Gewerkschafterin. Langfristig wolle man die Arbeitsbedingungen der Erzieher*innen im ganzen Land verbessern.

»Wir fangen mit unseren Forderungen bei den Eigenbetrieben an, weil wir im öffentlichen Dienst direktere Ansprechpartner haben«, sagt die Gewerkschafterin. Wenn sich die Erzieher*innen mit ihren Forderungen zur Entlastung in den landeseigenen Kitas durchsetzten, hätte das aber auch einen »Strahleffekt« auf die anderen Einrichtungen. »Die Eigenbetriebe haben eine Vorbildfunktion für die freien Träger.«

Notfallpläne und Maßnahmen zur Entlastung der pädagogischen Fachkräfte sind derweil keine langfristige Lösung für die Notlage in den Kitas. »Wir brauchen mehr Personal, aber für mehr Personal braucht es bessere Arbeitsbedingungen. Das beißt sich in den Schwanz«, sagt Böhmer. Mit den Handlungsoptionen im Manifest wolle man den Erzieher*innen zunächst einmal etwas an die Hand geben, um »aktiv ›Stopp‹ zu sagen«.

Ein weiterer Aspekt auf dem Weg zu Entlastung und mehr Personal betrifft die tarifliche Ebene. »Die Bezahlung ist schon ein großer Faktor, um sich für oder gegen den Beruf zu entscheiden«, sagt die Gewerkschafterin. Deshalb bereite man sich schon auf die nächste Runde zur Verhandlung der Gehälter im Tarifvertrag der Länder vor. Die Forderungen der Gewerkschaften würden wahrscheinlich im Spätsommer stehen, im Herbst gehe es dann in den Arbeitskampf, um die Forderungen auch durchzusetzen. »Wenn die Beschäftigten eine tarifpolitische Verbesserung erreichen wollen, dann führt kein Weg daran vorbei, sich bei Verdi zu organisieren, weil wir Hauptverhandler sind«, sagt sie.

Insgesamt brauche es eine finanzielle Aufwertung der Branche und gesellschaftliche Anerkennung. »Das ist eine qualifizierte, gesellschaftlich hoch relevante Arbeit, und als solche muss sie auch gesehen werden«, sagt Böhmer. Schließlich seien Kinder die Zukunft, und ihre Bildung beginne schon in der Kita, wo die Grundlagen für die weitere Entwicklung gelegt würden.

»Die strukturellen Probleme finden sich genauso in den anderen Berufen, im Bereich der sozialen Arbeit ganz allgemein.« An den Schulen fehlten Lehrkräfte und weiteres pädagogisches Fachpersonal, die Jugendhilfe sei ebenfalls nicht gut genug aufgestellt. »Das zieht sich von den Kitas in die Schulen bis in die Jugendsozialarbeit. Das wird alles nicht in angemessener Dringlichkeit diskutiert«, sagt Böhmer.

Dass die Probleme im Bereich Bildung und sozialer Arbeit zusammenhängen, zeigt sich auch während der Kundgebung vor dem Roten Rathaus. Heike Brühan, Integrationsfacherzieherin an einer Schule und aktiv im »Arbeitskreis Schule«, richtet dort ein Grußwort an die Kita-Erzieher*innen. »Die Situation in den Kitas ist besonders angespannt, Bildung kann dort so nicht stattfinden. Das müssen wir in den Schulen dann ausbaden«, sagt sie. Das äußere sich zum Beispiel darin, dass immer mehr Kinder in den Schulen herausforderndes Verhalten zeigten. »So kämpfen die Kinder um ihr Recht auf Bildung und Aufmerksamkeit.«

Die Erzieher*innen versprechen, dass ihr Kampf um Entlastung weitergehen werde. »Wir werden wiederkommen, wir werden mehr sein und das Wetter wird besser sein«, sagt eine von ihnen zum Abschluss der Kundgebung mit Blick auf das Rathaus als Symbol für die Entscheidungsträger*innen der Berliner Landespolitik.

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