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Die Deutschen und die Banlieues: Debattenunkultur
Wenn es um soziale Unruhen in anderen Ländern geht, gibt man hierzulande gern Ratschläge.
Mensch, was war das wieder für ein banales Wochenende! Hitzerekord, der olle Ukraine-Krieg, Barbie. Aber keine frischen Bilder mehr aus französischen Vorstädten, die aus der Banlieue ins Eigenheim flimmern, keine brennenden Barrikaden und vermummten Jugendlichen. Natürlich beginnt genau jetzt die Phase, die immer einsetzt, wenn etwas außerhalb der eigenen Landesgrenzen passiert: die bräsige Selbstvergewisserung, dass so etwas hier nicht passieren kann. Die gibt es übrigens in zwei Varianten: der stillen und der besserwisserischen. Auf letztere verstehen sich deutsche Regierungen besonders gut, deren Unterhändler derzeit offenbar jede Menge guter Ratschläge bei den Pariser Kollegen abladen. Was bei denen gar nicht so gut ankommen soll.
Wahrscheinlich geht es den französischen Beamten wie mir, der ich mich seit Wochen frage, woher die gebetsmühlenhaft wiederholte Feststellung kommt, dass Deutschland vor sozialen und ethnischen Unruhen gefeit sei. Warum das denn? Etwa weil wir hier über die Probleme, die der französischen Gesellschaft gerade auf die Füße fallen, noch nicht einmal nachdenken?
Selbst wenn es stimmen mag, dass keine der Schlafstädte in Duisburg, Köln oder Bremen in einem solchen Zustand ist wie die im Pariser Norden, herrscht auch hier bei Millionen Menschen der Eindruck, abgehängt zu sein. Und zwar in soziologisch klar definierbaren Stadtteilen. Auch hier haben tausende Jugendliche zu Recht den Eindruck, dass sie aufgrund ihrer Hautfarbe besonders häufig kontrolliert werden. Wie auch die Polizei oft nicht zu Recht den Eindruck hat, dass sie immer die gleichen Menschen erwischt, die sie dann auch noch verhöhnen. Weil alle Seiten wissen, dass sie sich schon bald wieder begegnen werden, weil es eben doch Straftaten gibt, die folgenlos bleiben. Wachsende Wut auf beiden Seiten, auch nicht gerade beruhigend.
Ach, und die großartigen deutschen Quartiere, die so rein gar nichts mit denen in Frankreich zu tun haben: In jeder westdeutschen Großstadt gibt es Viertel, in denen Kinder drastisch schlechtere Zukunftschancen haben als ihre Altersgenossen in den wohlhabenden Vierteln. In Neukölln wird die Bildungs- und Soziallandschaft gerade vom CDU-geführten Senat geschleift. Die SPD macht natürlich mit. Und hat damit die Politik zu verantworten, die immer mehr Menschen an den Rand drängt, die der Kanzler dann mit altväterlichem Gefasel (»alle mitnehmen«, »keinen zurücklassen«) umschmeichelt. Dass das eine Lüge ist, weiß er selbst. Die betroffenen Menschen wissen es schon etwas länger. Und erwarten von der Politik längst nichts mehr. Auch das kommt einem bekannt vor, oder?
Man kann übrigens gerade dabei zuschauen, wie sich das Wohlstandsgefälle im Zuge der Inflation weiter verschärft. Man braucht nur bei einer »Tafel« vorbeizuschauen. Gibt es darüber eine ernsthafte Debatte? Über die Kinderarmut? Darüber, dass manche Menschen aus gutem Grund den Eindruck haben, dass die politischen Diskurse nichts mit ihrem eigenen Leben zu tun haben? Stattdessen dozieren Menschen, die in ihrem Leben noch nicht viel mehr gesehen haben als Hörsäle, über »Demokratieverachtung«.
»In Berlin«, schreibt die kluge Frankreich-Kennerin Elisabeth Raether, »ist es längst normal, dass Deutsche – und gut integrierte Migranten – alles tun, um ihre Kinder auf bestimmte Schulen nicht schicken zu müssen.« In jeder anderen Großstadt ist es auch so. Gibt es eine Debatte, wie anti-sozial sich solche Eltern verhalten? Gibt es umgekehrt eine Debatte darüber, dass immer mehr Grundschüler kein Deutsch können, wenn sie eingeschult werden? Gibt es nicht. Und das passt zum Zustand der Schulen, in denen die Klos nicht funktionieren und Quereinsteiger versuchen, Mathe zu unterrichten. Wenn der Unterricht überhaupt mal stattfindet. Nein, wir Deutschen haben keinen Grund, uns in französische Debatten einzumischen. Wir wissen schließlich noch nicht einmal, was eine Debatte ist.
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