• Kultur
  • Roman »Alles in allem«

Treibstoff: Seele

Wie steigt man besten ab? In Liebe. »Alles in allem« von Emanuel Maeß ist ein echter Bildungsroman

  • Michael Wolf
  • Lesedauer: 5 Min.
Vom idyllischen Friedenau (abgebildet) geht es für Maeß′ Protagonisten ins derbe Neukölln – und das ist nur eine Facette seines Abstiegs.
Vom idyllischen Friedenau (abgebildet) geht es für Maeß′ Protagonisten ins derbe Neukölln – und das ist nur eine Facette seines Abstiegs.

Mit Emanuel Maeß ist ein neuer Ton in die deutsche Gegenwartsliteratur eingezogen. Als vor vier Jahren sein Debüt »Gelenke des Lichts« erschien, fiel so manchem vor Schreck die Lesebrille von der Nase. Nicht weil diese Geschichte über einen verliebten Studenten aus Thüringen besonders provokant gewesen wäre, eher im Gegenteil. Denn Maeß verweigerte sich aller politischen Aussagen, er zeigte sich an Botschaften ohnehin nicht besonders interessiert. Die Zumutung lag im Ton dieses Romans, der beflissen über die prägenden Stile und Formen der letzten Jahre und Jahrzehnte hinwegging (Popliteratur? Autofiktion? War da was?), gar noch weiter in die Vergangenheit voranschritt und seine Zielpunkte in der Romantik fand, bei Heroen wie Adalbert Stifter, Joseph Eichendorff oder Jean Paul.

Anachronistisch mochte dieses Unternehmen finden, wer seine durchaus bemerkbare Pointe übersah. »Gelenke des Lichts« spielte zu einem guten Teil im Osten Deutschlands vor, während und nach der Wende. In jener Zeit und jenem Gebiet also, die kaum scharf zu stellen sind, da einem gleich schon Narrative von »Widerstand«, »Unterdrückung« oder »Nostalgie« den Blick versperren. Über den Rückgriff auf Stil und Topoi der Romantik ermöglichte Maeß aber neue Einsichten in die jüngere Vergangenheit. Die Landschaften blühten hier tatsächlich, denn er hatte sie mit blauen Blumen gespickt.

Einen Verlagswechsel später, vom kleinen Wallstein-Verlag hin zu Rowohlt Berlin, legt Maeß nun seinen zweiten Roman vor, den man komplementär zum ersten lesen kann. In »Gelenke des Lichts« taumelte ein hochsensibler Literaturliebhaber von einer Empfindung und Universität zur nächsten. In »Alles in allem« begleitet man einen nicht mehr ganz jungen Mann, der dem ersten Helden einmal geähnelt haben mag, inzwischen aber eine Existenz bar jeden Antriebs führt. Der Mittdreißiger ist Theologe und schreibt seit Ewigkeiten an seiner Doktorarbeit, wohnt im gemütlichen Berliner Stadtteil Friedenau, arbeitet als Hilfskraft ein bisschen an der Universität, setzt fleißig Pfunde an und hat sich auch sonst bestens im Leben als ein konstantes Provisorium eingerichtet. Warum auch nicht? Mit der verständnisvollen Assistenzärztin an seiner Seite hat er es weiter gebracht, als man es den meisten Slackern der Hauptstadt zutrauen würde.

Es könnte alles so schön langweilig sein, träfe dieser Erzähler eines Tages nicht auf eine Frau, die seine ganze wohlgeordnete Existenz ins Chaos stürzen soll. Katharina heißt sie, was für ein gewöhnlicher Name für eine solche Ausnahmeerscheinung! Über viele Seiten hinweg schildert der begeisterte Erzähler seine Bewunderung für die Wittenberger Künstlerin, die nicht nur so hochintelligent wie gebildet ist und der Schauspielerin Natalie Portman erschreckend ähnelt, sondern auch noch über eine seltene Gabe verfügt. Ihre Bekanntschaft entfaltet die Wirkung, die ein berühmtes Rilke-Zitat beschreibt, denn im Umgang mit ihr glaubt man, sein Leben ändern zu müssen. So geht es zumindest dem tapferen Erzähler, der eine Affäre mit der geheimnisvollen Muse beginnt, woraufhin er bald alles verliert, was sein Leben so behaglich gemacht hatte: Freundin, Wohnung, Dissertationsvorhaben, Job – alles weg.

Maeß erzählt die Geschichte eines Abstiegs, auch eines geografischen: Vom schmucken Friedenau geht es ins derbe Neukölln, später gar nach Lichterfelde, an den Rand von Berlin – und hinein in existenzielle Erfahrungen. Denn diese Romanze ist eigentlich keine, auch wenn der Erzähler über viele Seiten die Vorzüge des Liebesobjekts preist, in verspielt romantischem Ton allerlei Metaphern heranzieht, um zuverlässig nicht zum Punkt zu kommen – denn wo sollte so etwas Großes wie Katharina seine Begrenzung finden?

Gerade deshalb haben wir es nicht mit einer Liebesgeschichte zu tun, eher mit einem Bildungsroman, der dieses Wort noch im eigentlichen Sinne ernst nimmt. Es geht um die Bildung des Herzens, mithin um passionierte Regression, um die Rückkehr in eine Zeit, bevor das Wissen über die Welt die Faszination begrub. Denn an Bildung im profanen Sinne mangelt es dem Erzähler sicher nicht, er weiß über Beethoven, Augustinus oder die Gotik zu dozieren, ist vielleicht ein Fachidiot, hat aber immerhin dieses spezifische Wissen. Was ihm fehlt, ist ein Zugang zum Leben, ist eine Leidenschaft, ist Abenteuerlust. All das muss ihm abhandengekommen sein im Laufe der Jahre in Bibliotheken. Einmal hatte er sie – sein Dissertationsprojekt zur Ikonenmalerei rührte von echter Faszination her, die aber längst im übermäßigen Studium untergegangen ist.

Natürlich ist es eine Künstlerin, die ihn nun verführt, ihm den Kopf verdreht, hin zu einer ästhetischen Perspektive auf die Welt. Der Pfad ins Offene bleibt jedoch steinig, die Angebetete lässt sich schon bald nicht mehr blicken. Der Erzähler trauert, speckt ab, ächzt im Yogastudio, besucht einen Sexclub, versucht es mit anderen Frauen, ergreift dann endlich verzweifelt die Initiative. Fehlenden Antrieb kann man ihm nicht mehr vorwerfen, wenn er über Dutzende Seiten eine einzige Liebesnacht schildert.

Maeß erzählt diese Geschichte in einer Sprache, die um ihre eigene Antiquiertheit weiß und viel Freude an ihr hat. Ein ironischer Grundton ist unvermeidlich, weil er dem Unerklärlichen auf der Spur ist, für die Suche aber nur stupide Wörter zur Verfügung stehen. All den Büchern, die sich um die Beschreibung von »Beziehungen« verdient machen, das Zusammensein von Menschen also als organisatorisches oder politisches Problem begreifen, setzt er eine Geschichte entgegen, in der die Liebe noch etwas mit der Seele zu tun hat. Sie ist das Agens des Erzählers, der Treibstoff, der ihn in die höchsten Höhen treibt. Mitten hinein in ein Leben also, das nicht nur verbracht werden will, sondern mit voller Präsenz geführt und gefühlt.

Emanuel Maeß: Alles in allem. Rowohlt Berlin, 400 S., geb., 24 €.

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