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Milan Kundera: Die komische Macht der Missverständnisse
Zum Tod des großen tschechisch-französischen Autors Milan Kundera
Die ersten Nachrufe auf Milan Kundera, der am 11. Juli in Paris im Alter von 94 Jahren starb, hatten offenbar schon längere Zeit in den Schubladen der Redaktionen gelegen, denn sie erschienen zeitgleich mit der Todesnachricht. Journalismus ist ein zynisches Geschäft, ohne Illusionen. Milan Kundera aber war kein Zyniker, er bewahrte sich als Erzähler immer einige Illusionen über die menschliche Natur (etwa von der unerforschlichen Macht der Liebe). Aber diese immer mit einem kunstvoll zelebrierten Augenzwinkern und vielen, vielen Kommas in oft endlos kreisenden Sätzen, die jedoch erstaunlicherweise nie schwer lasteten, sondern zu schweben schienen.
Diese Nachrufe auf den 1929 in Brünn als Sohn eines Pianisten und Musikwissenschaftlers geborenen Milan Kundera triefen vor bitterem Ernst. Welch Streiter gegen den sozialistischen Realismus, Kämpfer gegen jeden Kollektivismus und konsequenter Verteidiger des Individualismus! Eine Haltung, die Kundera 1975 folgerichtig aus der Tschechoslowakei ins Exil nach Frankreich getrieben habe.
Aber für Kundera, das zeigt sein umfangreiches in Frankreich entstandenes Werk, hörte die Absurdität menschlicher Existenz, die Perversion, die in jeder Institution steckt, nicht schon deshalb auf, weil der Autor von Ost nach West ging. Er war kein simpler die Seiten im Kalten Krieg wechselnder Dissident, sondern ein hochgradig komplizierter Autor, dessen Bücher immer so wirken, als hätten Hašeks »Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk« und Kafkas »Das Schloss« ihnen Pate gestanden. Für ihn zählte die Form eines Textes ebenso viel wie sein Inhalt, mindestens.
Die Musik prägt sein Schreiben von Anfang an. Gleich nach dem Krieg arbeitet er als Jazzmusiker, bevor er in die Kommunistische Partei eintritt und in Prag Musik und Literatur studiert. Er gerät umgehend hinein in eine schlimme Phase des Stalinismus. Das ist mehr als bloß das auch in der Tschechoslowakei herrschende »Formalismus«-Verdikt des sowjetischen Kunsttheoretikers Shdanow (das alle moderne Kunst als konterrevolutionär verdammt). Nein, es herrscht Anfang der 1950er Jahre eine Atmosphäre allgegenwärtiger Angst, wie sie sich im Slánský-Prozess zeigt, ein stalinistisches Tribunal, das vermeintliche Westagenten aburteilt und nicht wenige hinrichten lässt.
Diese Zeit war auch für Kundera von Dogmen verdunkelt und was er in diesen Jahren geschrieben hat, das wollte er später nicht noch einmal veröffentlicht sehen. Er brachte es schnell zum Dozenten für Weltliteratur an der Filmfakultät, einer seiner Studenten war Miloš Forman, der mit seiner Verfilmung von Ken Keseys »Einer flog übers Kuckucksnest« weltberühmt wurde. 1955 schrieb er eine Hymne auf Julius Fučík, den 1943 in Berlin-Plötzensee hingerichteten tschechischen Autor und Kommunisten. Was an diesem wichtigen Gedenken dennoch falsch war? Die naturalistische Form, die Kundera nun jedoch hinterließ. Das hat auch mit dem XX. KPdSU-Parteitag in Moskau zu tun, auf dem Chruschtschow erstmals über die Verbrechen Stalins sprach und eine Phase der Liberalisierung einsetzte. Wie auch in der DDR gipfelte in der Tschechoslowakei die Hoffnung auf Demokratisierung des Sozialismus in der Mitte der 60er Jahre. Plötzlich waren unerhörte Dinge möglich.
Nun entstand auch sein erster bedeutender Roman »Der Scherz«, eine virtuos geschriebene Satire über die »Macht der Missverständnisse« im Leben des Einzelnen und ganzer Nationen. Er erschien 1967 auf Tschechisch und machte Kundera mit einem Schlag berühmt. Der 38-jährige Autor wagt darin einen Rückblick auf 20 Jahre seiner Biografie voller Irrungen und Wirrungen. Die Erzählform ist dabei nicht mehr linear, sondern folgt einem musikalischen Rhythmus, in dem verschiedene Perspektiven wechseln. Warum das Ganze? Das wird auf Seite 40 ausgesprochen: »Ich begriff, dass ich den Erinnerungen nicht entkommen konnte, dass ich von ihnen umzingelt war.« Einiges blitzt plötzlich auf und anderes verdämmert. Wie soll man sich dazu verhalten?
Es passiert in »Der Scherz« Ähnliches wie später in Christoph Heins »Tangospieler«, wo jemand für einen erkrankten Musiker in einem Kabarettprogramm einspringt und dafür ins Gefängnis kommt. Dann plötzlich ist das, wofür man ihn verurteilte, die neue Politik, und all die Abgesandten der alten Macht klopfen ihm jovial auf die Schulter: ein Missverständnis, das er vergessen solle. Aber wer kann das schon? Der Student Ludvik hatte einst eine launig-böse Postkarte an seine Freundin Marketa geschrieben, darauf fanden sich die Sätze: »Optimismus ist das Opium der Menschheit! ... Es lebe Trotzki!« Damit reagiert er seinen Unmut darüber ab, dass seine Freundin statt mit ihm wie geplant in eine einsame Berghütte zu reisen, zu einer politischen Schulung fährt. Von Trotzki hatte er keine Zeile gelesen.
Er wird denunziert und umgehend exmatrikuliert, muss für zwei Jahre zur »Bewährung« in die Produktion, sprich in den Bergbau. Auch zahlreiche DDR-Künstler durchlitten solcherart politische Maßregelung, wie etwa B.K. Tragelehn 1961 nach seiner Regie von Heiner Müllers »Die Umsiedlerin« an der Studentenbühne der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst. Aber Ludvik sinnt Jahre später auf Rache, die nennt er »Destruktion«. Er will die Frau des Denunzianten verführen und dessen Ehe zerstören – leider ist ihm dabei entgangen, dass sich das Ehepaar bereits getrennt hat, so geht die Handlung wieder andere Wege als die geplanten.
Seinen größten Erfolg aber, »Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins«, schrieb Kundera bereits in Frankreich, der Roman erschien 1984 (aber erst 2006 in Tschechien, was einiges über das schwierige Verhältnis Kunderas zu seiner Heimat sagt). Er knüpft hier thematisch an »Der Scherz« an, der mit den bösen Sätzen anhob: »So fand ich mich nach vielen Jahren auf einmal zu Hause wieder. ... Aber ich habe mich selbst betrogen: Was ich Gleichgültigkeit nannte, war in Wirklichkeit Hass ...«
Dieses Buch wurde dann zum Welterfolg, und dass es 1988 Philip Kaufman als melodramatische Erotik-Ballade mit Juliette Binoche und Daniel Day-Lewis verfilmte, machte es zum Mythos einer schicksalhaften Liebe. Wieder ist die Hauptfigur – das Alter Ego Kunderas – ein erotomaner Lebemann, der erfolgreiche Prager Chirurg Tomas, der die Kellnerin Teresa trifft. Aus der Affäre wird ein ungleiches Paar, das sich nicht mehr zu trennen vermag, obwohl es Anlässe genug gäbe. Hier kommt dann der Prager Frühling von 1968 ins Spiel, der große Aufbruch, der in Depression endet. Teresa arbeitet jetzt als Fotografin, hält fest, was auf den Straßen passiert. Nach dem Niederschlag von Dubčeks Reformpolitik flieht das Paar in die Schweiz. Gerettet? Nein, Teresa fühlt sich dort fremd und kehrt in die Tschechoslowakei zurück. Thomas folgt ihr nicht lange danach, darf jedoch, da er die sich vollziehende Re-Stalinisierung nicht widerspruchslos hinnimmt, nicht mehr als Chirurg arbeiten, wird Fensterputzer.
Der Westleser ist entsetzt, warum machen die das sehenden Auges, wo die Schweiz doch so ein leichtes Leben verspricht? Da kommt der Satz von der »unerträglichen Leichtigkeit des Seins« ins Spiel. Was ist überhaupt eine sinnvolle Existenz, ist ein leichtes Leben am Ende erfüllter als ein schweres? Was muss man tun, um weiter in den Spiegel blicken zu können? Da werden Dinge sichtbar, die der Westen bis heute oft nicht versteht. Manch einer musste aus Gewissensnot weg aus dem Osten, aber in den Westen wollte er doch nie. Eine Paradoxie, die es zu begreifen gilt. Ein Leben im Transitraum ohne Ankunft – das war übrigens auch das Thema von Uwe Johnson seit seinem erst postum veröffentlichten Erstling »Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953«. Milan Kundera jedoch traf in Frankreich den Nerv des Existenzialismus, der gerade en vogue war. Frankreich war für ihn nie ein Exil, sondern die Wahlheimat, die er sich erträumt hatte. Seine bedeutenden Romane (»Die Langsamkeit«, »Die Identität«, »Die Unwissenheit«), die er nun auf Französisch schrieb und die bis heute nicht ins Tschechische übersetzt sind, zeugen davon.
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