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- Geschichte der Wohnungspolitik
Vom Sozialismus in einer Siedlung
Kann ausgerechnet das Wohnen ein Gegenentwurf innerhalb der Klassengesellschaft sein? Ein Blick auf die sozialdemokratische Wohnungspolitik im Berlin der 1920er Jahre zeigt: So einfach ist das nicht
Was haben Wolkenkratzer und Berliner Hinterhöfe gemeinsam? In ihrer Bauweise, so verschieden sie sein mag, erscheint das kapitalistische Profitinteresse. Die frühen Wolkenkratzer wuchsen am Ende des 19. Jahrhunderts in den Chicagoer Himmel, da ihre Erbauer mit dem knappen und teuren Bauland in den wachsenden amerikanischen Innenstädten maximalen Ertrag erzielen wollten. So baute man – der unverzichtbaren Technik des Stahlskeletts sei Dank – in die Höhe. Der amerikanische Villenbauer Frank Lloyd Wright bezeichnete diese neue Bauweise abschätzig als »mechanischen Kniff«, der nur darauf abziele, »jene Bauplätze zu vermehren, die so oft Geld einbringen, wie es möglich ist, das Baugelände des ursprünglichen Grundstücks zu verkaufen und wiederzuverkaufen«.
Geschichte der Mietskasernen
Ein ähnlicher dem Profitinteresse folgender »Kniff« waren die Berliner Hinterhöfe, die sogenannten Mietskasernen. Sie sind steinerne Zeugnisse der Phase des liberalen Kapitalismus. Fundament dieser schattigen Behausungen war das sogenannte Oktoberedikt von 1807, das die Bauern befreite und zugleich den Weg freimachte für die Kommerzialisierung des preußischen Bodens. So wurde in den folgenden Jahren fast das gesamte bebauungsfähige Gebiet um Berlin von Terraingesellschaften und den mit ihnen verbundenen Großbanken in Besitz genommen. Nach einer Bauordnung von 1872 durfte nur noch auf diesem kommerziell erschlossenen Gebiet gebaut werden, während die Mobilität innerhalb dieser Räume der Staat gewährleisten musste. James Holbrecht, ein Angestellter des Polizeipräsidiums, entwickelte deshalb den für Berlin bis heute so charakteristischen Bebauungsplan. Um Geld zu sparen, wurden die Straßenblöcke möglichst groß angelegt: 200 bis 400 Meter lang und 150 bis 200 Meter tief. In diese Blöcke konnten die geldinteressierten Bauherren an Lebensraum hineinstopfen, was und so viel sie wollten. Vorschriften gab es kaum. Zugleich wurde der Bodenpreis derart in die Höhe getrieben, dass nur noch dichteste Bebauung genug Profit versprach.
Auch an den Fassaden lässt sich jene bürgerliche Epoche noch heute ablesen. Um potenzielle Mieter anzuziehen, versahen die Hausbesitzer die straßenseitigen Fassaden der Kasernen mit allerlei, zumeist historistischem, Blendwerk. Dieser »Schein von Palastartigkeit« hatte die Aufgabe, das Haus »als Handelsobjekt nach außen zu empfehlen«, wie es der Zeitgenosse Karl Scheffler in seiner »Architektur der Großstadt« bemerkt. Der Bauunternehmer will Diversität schaffen, seine Ware Haus soll sich gegen die anderen Häuserwaren durchsetzen und der Mieter soll als Geldbesitzer die Mietskaserne beziehen. Zu diesem Zweck lässt der Hausbesitzer »nicht etwa den Grundriss verbessern oder den Komfort vergrößern, er ›schmückt‹ die Fassade mit einem ganz besonderen Blender. So allein ist es möglich, dass der Großkapitalist, der ganze Viertel zu bebauen hat, völlig übereinstimmende Rohbauten aufführen und deren Gleichheit dann durch zügellose und absonderliche Stuckkunststücke verbergen kann.«
Das Massenhafte, Gleiche und Unschöne der Behausungen des Großkapitals wurde durch erkerhaltende Atlanten, ionisches Säulenwerk oder barocken Stuck vertuscht. Die wohnungssuchenden Geblendeten sollten lediglich ins Innere der Kaserne gelockt werden. In den Hinterhöfen sah es dann freilich weniger opulent aus: Die proletarischen Wohnungen waren überfüllt beziehungsweise mehrfach belegt, Toiletten nicht zu Genüge vorhanden und viele Mieter*innen warteten vergeblich auf einen Sonnenstrahl. Nach einem Besuch im Jahr 1893 bei Wilhelm Liebknecht in der Kantstraße drückte Friedrich Engels sein Missfallen über diese Berliner Zustände recht deutlich aus: »Diese in der ganzen anderen übrigen Welt unmögliche Herberge der Finsternis, der stickigen Luft und des sich darin behaglich fühlenden Berliner Philistertums. Dank schönstens!«
Krise und Befriedung
Im Jahr 1912 stürzte dieser Mietskasernen-Wohnungsbau in eine schwere Krise. Auslöser der Krise waren Krediteinschränkungen der Großbanken, die begannen, ihre Investitionen aus dem zunehmend defizitär wirtschaftenden Baugewerbe abzuziehen. Der »Fiebertaumel« der Berliner Bauherren schien an seine Grenzen zu stoßen. Immer mehr Wohnungen in der wachsenden Stadt fanden keine Mieter mehr und ihr Wert konnte nicht mehr realisiert werden. Das Kapital begann sich deshalb langsam aus dem Wohnungsmarkt zurückzuziehen. Wurden zwischen den Jahren 1905 und 1907 noch 20 000 Wohnungen gebaut, so waren es zwischen 1909 und 1912 nur noch etwa 6000 Wohneinheiten, die auf den Markt geworfen wurden. Das Geld wanderte nun vermehrt in andere Richtungen, unter anderem in die Rüstungsindustrie.
Auf diese Krise des liberalen Wohnungsbaus reagierte der Staat jedoch erst auf Druck von unten, da man soziale Unruhen nach Kriegsende befürchtete. Mit dem Preußischen Wohnungsgesetz von 1918 griff der Staat selbst in die Bau- und Bodenordnung ein und gestand jedem Bürger das Recht auf eine Wohnung zu. Nach dem Scheitern dieser zur Befriedung des Proletariats eingesetzten Maßnahmen und dem Ausbruch der Novemberrevolution baute die nun regierende Sozialdemokratie die Wohnungspolitik aus. Das Reichswohnungsmangelgesetz (Januar 1919) forderte eine Bewirtschaftung des gesamten Wohnraums und die Teilung großer Wohnungen, die Weimarer Verfassung erweiterte die Kompetenzen des Staates im Wohnungs- und Sozialwesen und das Reichsmieterschutzgesetz von 1923 hob das Kündigungsrecht des Vermieters auf.
Da die Novemberrevolution jedoch bloß den Kaiser und nicht die Bourgeoisie davonjagte, blieb das größte Hindernis vernünftigen und gemeinwohlorientierten Bauens bestehen: der private Besitz an Grund und Boden. Zwar schufen das Reichssiedlungs- (1919) und das Reichsheimstättengesetz (1920) die gesetzlichen Voraussetzungen zur bedingten Enteignung ländlicher und suburbaner Gebiete, doch wurden diese legalen »Enteignungen« kaum durchgeführt, da die Entschädigungssummen das staatliche Budget zu stark belastet hätten. Dieser Widerspruch sollte die Wohnungspolitik der kommenden Jahre prägen.
Sozialdemokratische Baupolitik
Der Baumeister, in dessen Werk sich die Widersprüche sozialdemokratischer Politik bis heute versteinert nachverfolgen lassen, war Martin Wagner. Der Architekt Wagner war ab 1918 Stadtbaurat der Stadt Schöneberg, die zwei Jahre später als Bezirk Schöneberg in das neue Groß-Berlin eingegliedert wurde. Im Jahre 1924 übernahm er die Leitung der gewerkschaftlichen DEWOG sowie ihre Berliner Tochter GEHAG, die für die Koordination der gemeinnützigen Bauwirtschaft im Deutschen Reich verantwortlich waren. 1926 wechselte Wagner schließlich in die zentrale Baubehörde Berlins. In diese Zeit fallen unter anderem die Errichtung der meisten Siedlungen der Berliner Moderne, der Ausbau der U-Bahn, der Umbau des Alexanderplatzes oder die Konzeptionen für die Strandbäder Wannsee und Müggelsee.
Wagner verachtete nichts mehr als das chaotische Berlin der Mietskasernen, das sich jeder zentralen Planung entzog und die Arbeiter*innenklasse in Dunkelheit und Schmutz leben ließ. Sein nie erreichtes Ziel war deshalb auch der Abriss großer Teile dieser anarchisch gewachsenen Metropole. Als Gegenentwurf zur Urbanität als Raum sich widersprechender und unregierbarer Privatinteressen, schwebte Wagner eine neue planbare beziehunsgweise planende Stadt vor. Diese sollte in ihrer Administration einem großen Unternehmen gleichen und in ihrer Bautätigkeit strenger tayloristischer Rationalisierung folgen.
Ausgangspunkt dieses neuen sozialdemokratischen Bauens müsse die Sozialisierung des Bausektors sein. Wagner saß deshalb 1920 unter anderem zusammen mit Walther Rathenau, Werner von Siemens und Karl Kautsky in der »Sozialisierungskommission über die Neuregelung des Wohnungswesens«. Die Kommission sollte die drängenden Probleme der Wohnungsfrage angehen, ohne dabei die Besitzverhältnisse anzutasten, das heißt, die Betriebe sollten gekauft und nicht enteignet werden. Wagners Vorstellungen eines solchen sozialisierten Bauwesens sind bereits Ausdruck dieser sich sukzessive zuspitzenden Aporie: Er konzipiert einen Produktionsbereich, der »unberührt von dem übrigen wirtschaftlichen und politischen System in Deutschland nach Art eines geschlossenen Kreislaufs produziert, sich selbst finanziert und verwaltet«.
Innerhalb der sozialisierten Unternehmen sollte zugleich auch der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit verschwinden. In den Bauhütten, die ab 1919 in ganz Deutschland gegründet werden, erkannte Wagner diese neuen Formen sozialisierter Unternehmen. Diese »sozialdemokratischen Produktionsoasen, die sich zur Konkurrenz mit der Privatindustrie entschlossen haben«, wie es Ludovica Scarpa in dem Buch »Martin Wagner und Berlin« formuliert, haben keine privaten Eigentümer mehr und sollen nach dem Vorbild der großen Industrie streng wissenschaftlich-tayloristisch organisiert sein. Der Gewinn soll in das Unternehmen reinvestiert werden, das jedoch nur dem Allgemeinwohl und nicht mehr dem Privatinteresse verpflichtet ist. In den Bauhütten sollte die technische folglich die soziale Revolution überflüssig machen.
Widersprüchliche Siedlungsprojekte
Dieses widersprüchliche Verhältnis von sozialdemokratischer Planung und Privateigentum materialisiert sich bald in zahlreichen von Wagners Siedlungsprojekten. Eine frühe charakteristische Siedlung ist die Lindenhofsiedlung, die Wagner zusammen mit Bruno Taut und Leberecht Migge zu Beginn der 1920er Jahre im Schöneberger Süden entwarf und baute. Der sich an einer Gartenstadt orientierende Wohnkomplex soll seinen Bewohner*innen durch seine besondere Landschaftsarchitektur – ein großer Teich bildet das Zentrum, um das sich die Häuser gruppieren – ein Gefühl von Ruhe und Heimat vermitteln. Doch die Natur hat nicht nur einen ästhetischen Zweck: Bewirtschaftbare Gärten sollen in der Phase der Inflation die Menschen mit Nahrung versorgen. Diese autarke Heimat wird zugleich nach Außen architektonisch abgegrenzt.
Das durch Bruno Taut entworfene Ledigenheim soll zum einen als Gemeinschaftsraum den Bewohner*innen Platz bieten, zugleich stellt es Tor und Mauer zur Außenwelt dar: im Inneren sozialdemokratische Harmonie, außen das chaotische Berlin der Mietskasernen und Halsabschneider. Dabei war die Bauwirtschaft, folgt man Wagner, selbst noch alles andere als harmonisch: »Die betriebstechnische Rückständigkeit unserer Baubetriebe ist mir niemals so klar zum Bewusstsein gekommen wie bei diesem Werk. Zu dem kam, daß die Arbeiten an diesem Werk in die Revolutionszeit hineinwuchsen und mir den sozialen Gegensatz zwischen dem Unternehmer und dem Arbeiter in erschreckender Klarheit vor Augen führten. Diese Erfahrungen ließen in mir die Bauhüttenidee reifen.«
Mithilfe dieser Bauhütten und der gewerkschaftlichen GEHAG baute Wagner, erneut zusammen mit Bruno Taut, ab 1925 die Großsiedlung in Britz. Die Harmonie, die in der Lindenhof-Siedlung noch durch die Natur gestiftet wurde, ist hier Resultat der endlich umgesetzten Rationalisierung. Auf der Baustelle wird ein Bagger eingesetzt, Förderbänder und Gleise transportieren die Materialien ins Innere der Baustelle und es werden nur vier verschiedene Wohnungstypen gebaut. Diese Rationalität des Wohnungsbaus kann nicht nur die Kosten senken, sie hat gleichzeitig auch eine neue Architektur sowie eine geförderte Lebensweise zur Folge. Sie schafft »Battaillone von immergleichen Wohnungen« (Wagner), die, nach dem Rhythmus der Masse gestaltet, »ganz entkleidet sind von all dem aufgespeicherten leblosen dekorativen Reichtum«. Die neue Gemeinschaft, die das Chaos und den Schmutz der Mietskasernen hinter sich lässt, wurde in der Hufeisensiedlung durch wissenschaftliche Rationalität hergestellt: »Ordnung, Disziplin, Gleichheit, Sauberkeit, Wiederholbarkeit widerspiegeln in der Großsiedlung Britz gleichermaßen die Besitzverhältnisse in der Gemeinschaft und die Bedingungen der rationellen Produktionsweise«, schreibt Wagner. Und auch in Britz schließt sich diese neue saubere rationale Gemeinschaft durch die Hufeisenform von der Außenwelt ab.
Unter dem Stadtbaurat Wagner werden die meisten Großsiedlungen der Berliner Moderne erbaut. Für die Weiße Stadt in Reinickendorf und die Siemensstadt in Charlottenburg hatte er die Gesamtleitung inne. Andere moderne Siedlungen, wie die Siedlung Onkel Toms Hütte in Zehlendorf, wurden von ihm konzeptuell unterstützt und von der GEHAG finanziert. Doch trotz Größe und Strahlkraft dieser Siedlungen verzweifelte Wagner an den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen und der Sozialdemokratie, die eine einheitliche Planung der Stadt nicht zuließen. Schon zur Arbeit der Sozialisierungskommission bemerkte Wagner: »Was soll man dazu sagen, wenn 71 Jahre nach der Aufstellung des Kommunistischen Manifests durch Marx und Engels und 28 Jahre nach der Aufstellung des Erfurter Programms die Frage der Sozialisierung der Betriebe nicht weiter durchdacht ist als im Kautskyschen Aktionsprogramm vom Februar 1919?«
Mit dem Ende der 1920er Jahre und der Weltwirtschaftskrise spitzen sich zugleich die ohnehin bestehenden Probleme, die Wagner mit der Stadtverwaltung hatte, zu. Die Stadt als ein funktionierender Betrieb scheint nun vollständig illusorisch, da die Reichsregierung immer häufiger Finanzmittel kürzt und Freiräume der Stadtverwaltung schließt. Auf Einladung von Ernst May unternimmt er 1930 eine Reise in die Sowjetunion und tritt 1931 schließlich aus der SPD aus, um sich der konsequenten Planwirtschaft zuzuwenden: »Der Individualbesitz muß mit tausend Gesetzen gefesselt werden, und diese Fesselung erreicht im Endresultat nichts anderes als Unzulänglichkeiten und Verwirrungen. Der Kollektivbesitz dagegen kennt nur ein einziges Gesetz: das Gestaltungsgesetz, da ganz positiv auf das Wohl aller und damit in höchstem Maße auch auf das Wohl jedes einzelnen eingestellt ist.« Der sich selbst als antipolitisch verstehende Wagner erklärt sich auch die immer lauter werdenden »Rufe nach einem Führer« aus dieser Konstellation. In ihnen drücke sich der Wunsch nach Befreiung von den Einschränkungen des Privateigentums aus.
Die Nazis übernehmen
Am 13. März 1933 wird Martin Wagner zusammen mit den sozialdemokratischen Mitgliedern des Magistrats als Stadtbaurat von den Nazis beurlaubt. Zwar wird sein Abgang aus der Akademie der Künste, die er aus Protest gegen die Entfernung von Käthe Kollwitz und Heinrich Mann verlässt, von Mann als »ruhmreich« und als Resultat starker Überzeugungen gelobt. Doch trotz dieses Abgangs scheint Wagner eine eher technische Beziehung zu den Nationalsozialisten zu unterhalten. 1934 publizierte er in der »Deutschen Bauzeitung« einen Artikel über die Sanierung des Stadtzentrums: Das freie Spiel der Kräfte habe es nie vermocht, sich dieser Aufgabe adäquat zu nähern. Dies ändere sich jedoch möglicherweise mit dem neuen Staat. Wagner spricht hier vom »Führer der City«, von Städtebauern von »Blut und Adel« und davon, dass der nationalsozialistische Staat, als »Erbe des preußischen Sozialismus des 17. und 18. Jahrhunderts«, die Zusammenarbeit von Stadt und Wirtschaft verwirklichen könne, die die Voraussetzung einer rationalen Stadtplanung wäre. Im Jahr 1935 erhielt der bis dahin arbeitslose Wagner eine Berufung zum städtebaulichen Berater nach Istanbul; 1938 wanderte er von dort in die USA aus, wo er bis zu seinem Tod 1957 blieb.
Die Nazis diffamierten die Werke der Berliner Moderne als »Baubolschewismus« oder »gebauten Sozialismus«, dem bald eine brutale Neoklassik oder heimelige Spitzdächer entgegengesetzt wurden. Laut dem marxistischen Architekten und Theoretiker Manfredo Tafuri sind die Siedlungen allerdings als »verwirklichte Sozialdemokratie« zu verstehen, die das Privateigentum nicht abschaffen und deshalb scheitern müssen: »Die Isolation der Siedlungen spiegelt sich im fragmentarischen Charakter der städtebaulichen Eingriffe wider, die die Widersprüche der bestehenden Stadt unangetastet lassen; man ist nicht in der Lage, das gesamtstädtische Gefüge zu kontrollieren.« Innerhalb dieser sich über ganz Berlin verteilenden Siedlungen versucht man, im Kontrast zum Rest der kapitalistischen Stadt, harmonische Verhältnisse herzustellen, den Sozialismus sozusagen in einer Siedlung zu errichten.
Die neuen Räume sollen »Oasen der Ordnung« und Beweis dafür sein, dass die Arbeiterklasse in der Lage ist, ein dem Kapitalismus entgegengesetztes Lebensmodell zu entwerfen. Doch nicht nur im architektonischen Entwurf tendierte diese verwirklichte Sozialdemokratie häufig zum Kleinbürgerlichen, Ähnliches gilt auch für die Klassenzusammensetzung ihrer Bewohner*innen: Die von der GEHAG gebauten Wohnungen wurden zu großen Teilen von Angestellten bewohnt. Glaubt man den vorliegenden Statistiken, so machten sie 1928 etwa 50 Prozent der Bewohner*innen aus. Und auch dies war Folge der unvollendet gebliebenen Revolution, denn, anders als von Wagner erhofft, war die Rationalisierung nicht in der Lage, die Kosten zu genüge zu senken.
Das Problem besteht weiter
Bis heute haben linke Versuche, die Wohnungsfrage zu lösen, mit ähnlichen Problemen zu kämpfen. Haus- und Wohnprojekte, die man mit Müh und Not dem Markt abringen konnte, verkommen oft zu öden und selbstbezüglichen Gemeinschaften, die als Oasen der Sicherheit versuchen, die Widersprüche der Außenwelt mikroskopisch zu lösen. Größere Ansätze wie die Kampagne Deutsche Wohnen & Co enteignen, die den Sozialismus zumindest in einer Stadt errichten wollen, kämpfen hingegen mit den Schwierigkeiten legaler Enteignung. Sie befinden sich damit in sozialdemokratischer Gesellschaft.
Will man räumlich erfahren, was wirkliche Sozialdemokratie bedeutet, so sei ein Spaziergang durch die Siedlungen der Berliner Moderne empfohlen. Die sofort ansteckende grüne Idylle der Schöneberger Lindenhofsiedlung wird, verlässt man diese Oase der Ruhe, sogleich durch ein häßliches Chaos an Eisenbahnbrücken und Straßen unterbrochen, ehe man den Trümmerberg Insulaner erreicht. Hier läuft man möglicherweise auch über die Reste des sozialdemokratischen Tors zur Außenwelt: Das Ledigenheim von Bruno Taut fiel dem Bombardement während des Zweiten Weltkriegs zum Opfer. Und in der letzten großen sozialdemokratischen Siedlung, die unter Martin Wagner entworfen und gebaut wurde, die Großsiedlung Siemensstadt, kann man die organisch und nautisch anmutenden Wohnblöcke, die der Siedlung als Eingang dienen, regelrecht am Block der Siemenswerke zerschellen sehen.
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