Brigitte Reimann: »Ich bin so hungrig aufs Leben!«

Was war das DDR-Gefühl? Vor 90 Jahren wurde die Schriftstellerin Brigitte Reimann geboren

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.

Vor 90 Jahren wurde Brigitte Reimann geboren. Das kommt einem gar nicht so lange vor, was daran liegt, dass diese Schriftstellerin mittlerweile immens populär geworden ist. Zu ihren Lebzeiten hatte Brigitte Reimann wohl einen Namen in der DDR-Literatur. Nach ihrem Tode 1973 – mit nicht einmal 40 starb sie an Krebs – sorgte ihr unvollendet gebliebener Roman »Franziska Linkerhand« für Aufsehen, als er 1974 als gekürzte Fassung erschien. Doch eine Art Auferstehung erlebte Brigitte Reimann erst mit der Veröffentlichung ihrer Tagebücher und Briefe. Was 1983 im Verlag Neues Leben mit einer Auswahl begann, wurde ab 1993 im Aufbau-Verlag fortgesetzt. »Sei gegrüßt und lebe«, ihre Korrespondenz mit Christa Wolf, eröffnete eine ganze Reihe von Brief- und Tagebuchbänden, um die sich insbesondere die Lektorin Angela Drescher verdient gemacht hat.

Ohne sie, so kann man sagen, hätte das Werk von Brigitte Reimann heute nicht jene Bedeutung (wieder)erlangt, die der DDR-Literatur als Ganzes bekanntlich versagt geblieben ist. Dabei spielte zweifellos die Persönlichkeit dieser Schriftstellerin eine Rolle, wie sie in ihren Selbstzeugnissen so unverstellt zum Ausdruck kommt. »Oh Gott, ich bin so hungrig aufs Leben!« – was sie, schon krank, an ihre Freundin Irmgard Weinhofen nach Amsterdam schrieb, gehörte überhaupt zu ihrem Wesen. Lebenshunger war ihr von Kindheit an eigen. Und sie hatte keine Hemmungen, sich ihren Wunsch nach Glück zu erfüllen, nicht zuletzt auch im erotischen Sinne.

Dieser Drang zur »Selbstverwirklichung«, wie man es heute nennen könnte, macht sie ganz modern. Eine Frau, die frei sein wollte und das als ihr Recht verstand. Dabei wurzelte ihr Lebenswerk in einer Zeit sozialistischer Visionen, von denen sie sich – allen Hindernissen zum Trotz – nie verabschiedet hat. Der Westen war für sie keine Alternative. Mit Bestürzung hätte sie wohl auf die Biermann-Ausbürgerung 1976 und den Ausschluss missliebiger Autoren aus dem Schriftstellerverband 1979 reagiert, aber es hätte sie wohl kaum außer Landes getrieben.

Geboren 1933 im sächsischen Burg, wuchs Brigitte Reimann in einer Familie mit vielen Büchern auf. Sie las und las, verweigerte in der Schule nicht den obligatorischen Hitlergruß, mochte die Freizeitaktivitäten beim BDM und glaubte bis zuletzt an den deutschen Sieg. Erst nach 1945 begann sie die Dinge anders zu sehen. Mit ihren Lehrern hatte sie Glück, das »Kommunistische Manifest« faszinierte sie. Eine Gesellschaft, »in der die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«, war in ihrem Sinn. Dass sie 1948 in der Schule mit einem Laienspiel Erfolg hatte, bestärkte sie im Wunsch, Schriftstellerin zu werden. Da verwandelte sie sich, wie sie selber sagte, in ein »Arbeitstier«.

Schreiben und lieben – das ist wohl ihr Credo gewesen. Vier Ehen, keine Kinder, Liebschaften immer wieder. Förderung erfuhr sie in der Arbeitsgemeinschaft junger Autoren des Schriftstellerverbandes. In Verlagen war man ihr wohlgesonnen, auch wenn Texte mitunter bemängelt wurden, wie es schon bei ihrem ersten Roman »Die Denunziantin« geschah, dessen Urfassung erst in diesem Jahr von Kristina Stella im Aistesis-Verlag herausgegeben wurde. Zurückweisungen konnten Brigitte Reimann in Depressionen stürzen und reizten doch bald wieder zu neuem Bemühen.

Eine wichtige Schaffensetappe begann mit ihrer Übersiedlung nach Hoyerswerda, in die sozialistische Musterstadt, wo sie im Energiekombinat »Schwarze Pumpe« zu arbeiten begann. Die sogenannten Elfenbeintürme zu verlassen und sich der Realität der Werktätigen zuzuwenden, war seit der »Bitterfelder Konferenz« 1959 eine kulturpolitische Forderung, die von vielen Künstlern mitgetragen wurde. Was auch umgekehrt galt: Die Arbeiterklasse sollte »die Höhen der Kultur stürmen«. Ohne ihre Erfahrungen in einer Rohrleger-Brigade hätte Brigitte Reimann 1961 ihren Roman »Ankunft im Alltag« wohl so nicht schreiben können. Wer sich im Westen heute fragt, worin die Ost-Mentalität denn bestand, wird hier Antworten finden.

Ebenso im Roman »Franziska Linkerhand«, in dem die Autorin nach ihrem Umzug nach Neubrandenburg auch ihr Erleben in Hoyerswerda verarbeitete. Wenn es darin um den Wohnungsbau geht, der ja in der DDR sozialpolitisches Programm war, wird eigentlich der gesamte Gesellschaftsentwurf diskutiert: Ideal und Wirklichkeit des Sozialismus. An diesem Widerspruch hat sie sich aufgerieben wie viele kluge Leute in der DDR, die an der Utopie einer neuen, anderen Gesellschaft festhalten wollten.

Romane, Erzählungen, Selbstzeugnisse und auch Unvollendetes – zu den 15 Buchausgaben von Brigitte Reimann bei Aufbau kam in diesen Wochen eine Biografie, die eigentlich viel mehr ist als das. »Ich bin so gierig nach Leben« von Carsten Gansel kommt dieser faszinierenden Frau sehr nahe und weitet den Blick auf größere Zusammenhänge. Ohne dass er dies zuspitzen müsste, widerspricht der Autor vereinfachten Deutungen, wonach Brigitte Reimann an der Enge ostdeutscher Verhältnisse gescheitert sei. Dagegen entsteht in seinem mitreißenden Text ein historisch genaues, differenziertes Bild der DDR, ihrer wechselvollen Geschichte und Literatur. Gerade Brigitte Reimann vermag uns heute noch eine Vorstellung von jenem Alltag zu geben, der in seiner Vielgestaltigkeit jedem Klischee widerspricht.

Carsten Gansel: Ich bin so gierig nach Leben. Brigitte Reimann. Die Biographie. Aufbau, 704 S., geb., 30 €.
nd-Literatursalon mit Carsten Gansel am 1. November 2023, 18 Uhr, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin.

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