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Weltenwahns Umnachten
Die Bayreuther Festspiele wurden mit einer Neuinszenierung des »Parsifal« eröffnet. Ein Erlebnisbericht vom Bühnenweihfestspiel im Kino
Der Komponist Igor Strawinsky, so will es die Legende, reiste im Jahr 1910 zum Grünen Hügel und sah im Bayreuther Festspielhaus den »Parsifal«, so wie ihn Richard Wagner 1882, im Vorjahr seines Todes, inszeniert hatte. Strawinskys Urteil fiel eindeutig aus: Nur die Aussicht auf Zigarette, Bier und Würstchen in den Pausen, in Bayreuth seit jeher auf eine Stunde gedehnt, hätten ihn die Qualen überstehen lassen.
113 Jahre später ist, mal wieder, eine Neuinszenierung des »Parsifal«, die die Festspiele eröffnen soll, angekündigt. Mit der einen oder anderen Abweichung versuche ich es Meister Strawinsky gleichzutun. Um nicht Markus Söder oder Matthias Döpfner oder Ursula von der Leyen zufällig zum Sitznachbarn zu haben, bleibe ich Franken fern und sehe mir eine Übertragung des Spektakels ins Lichtspielhaus im heimischen Berlin an. Auf Würstchen werde ich, der ich dem Fleisch entsage, verzichten. Zigaretten lehne ich als längst entwöhnter Raucher ab. Aber mit ein paar Flaschen guten Bieres bestücke ich meinen Rucksack. Ich schlüpfe in meinen Anzug – Kino hin oder her, der Kunst gehört Respekt gezollt – und begebe mich auf den Weg nach Berlin-Mitte.
Das Kino International ist mein Ziel. Das ehemalige Premierenkino der DDR, 1963 als markanter modernistischer Bau fertiggestellt, ist vielleicht das schönste Lichtspielhaus der Hauptstadt und nimmt an dem Programm »Wagner im Kino« teil. In dessen Rahmen wird alljährlich die Eröffnungsinszenierung der Bayreuther Festspiele auf Leinwände in der ganzen Republik übertragen und Freunden des Musiktheaters so die Teilhabe an einem Ereignis ermöglicht, das noch immer von dem Ruf seiner einstigen Exklusivität lebt. Aber dazu später mehr.
Im großen Zuschauersaal füllt sich allmählich etwa die Hälfte der Sitzreihen. Das Publikum wirkt gut gelaunt. Der eine oder andere greift zum in der Handtasche mitgeführten Rotwein und kommentiert munter das Treiben. Einige lassen durchblicken, dass sie auch schon leibhaftig in Bayreuth zugegen waren, als zu den Festspielen geladen wurde. Andere sind dankbar, wenn ihnen der Nebenmann noch einmal in aller Kürze die Handlung nacherzählt.
Pünktlich wird man zum Augenzeugen des Vorprogramms. Die Wagner-Urenkelin und Festspielintendantin Katharina sowie der Musikjournalist Axel Brüggemann sind beim gutgelaunten Geplänkel zu beobachten. Die Ohrenzeugenschaft weiß indes die Technik zu verhindern. Die Tonübertragung fällt aus. Nun zeigt sich, wer zu den »Wagner im Kino«-Routiniers gehört. Fröhlich tauscht man sich aus, wie im letzten und vorletzten Jahr und überhaupt seit jeher das akustische Erlebnis stark beeinträchtigt worden ist. Erst geht fast gesetzmäßig nichts – und am Ende läuft dann doch alles rund.
Anders ist es heute. Das Vorprogramm kommt zu seinem Ende. Stille im Saal. Auf der Leinwand ist der grüne Vorhang im Richard-Wagner-Festspielhaus zu sehen. Nichts zu hören. Der Vorhang öffnet sich. Kein Ton erklingt. Im Kinosaal hagelt es Protestrufe. Dann tritt ein Mitarbeiter des Kinos nach vorne und erklärt die Veranstaltung aufgrund nicht lösbarer technischer Probleme für beendet. Wäre ich nur nach Bayreuth aufgebrochen!, denke ich mir. So schwer kann es für einen Preußen in Bayern auch nicht sein.
Ursprünglich hatte Richard Wagner verfügt, dass »Parsifal« ausschließlich in seinem Theater auf die Bühne gebracht werden durfte. Mit Auslaufen der Schutzfrist kämpften die Erben, vergeblich, für die Aufrechterhaltung dieser rigiden Tradition. Vom »Gralsraub« sprachen sie, als das letzte Werk Wagners auch andernorts inszeniert werden durfte. Ich schnappe mir meinen Rucksack – die Biere sind noch ungeöffnet – und stürme auf die Straße. Ich lasse mir den Gral nicht wegnehmen.
Im Delphi Filmpalast in Berlin-Charlottenburg, dem vielleicht zweitschönsten Kinobau der Hauptstadt, ist der »Parsifal« ebenfalls zu sehen. Angeblich darüber hinaus auch zu hören. Ich begebe mich unverzüglich in die U-Bahn, wo ein Mann neben mir – Kann das denn Zufall sein? – genüsslich Bayreuther Helles schlürft. Am Alexanderplatz springe ich in die Regionalbahn und fahre bis zum Zoologischen Garten. Von hier ist es ein kurzer Sprint, einmal am Musical-Publikum nebenan vorbei, zum Filmpalast. Bereitwillig gewährt man mir Einlass in den gut gefüllten Saal. Der erste Aufzug ist schon zur Hälfte vorbei, aber nun sitze, sehe, höre ich.
Zu Beginn des ersten Aktes weckt der Ritter Gurnemanz, durchaus zur Geschwätzigkeit neigend, die Knappen. Man wolle sich des Gralskönigs Amfortas annehmen. Der wurde durch den Heiligen Speer schwer verwundet und siecht dahin. Die ominöse Kundry, eine sündhafte und doch helfende Frau, bringt einen Balsam für den Geschwächten. Unruhe kommt auf. Ein Unbekannter hat einen Schwan geschossen – ab diesem Augenblick darf ich am Bühnengeschehen Anteil nehmen – und wird von den Gralsrittern ergriffen. Es handelt sich um Parsifal, der seinen eigenen Namen nicht kennt. Nur Kundry weiß über ihn bescheid. Handelt es sich hier etwa um den reinen Toren, der prophetisch angekündigt war, Amfortas zu retten? In der Gralsburg wohnt er dem blutsäuferischen Zeremoniell der Gralsritter bei, dem Liebesmahl. Stärkung finden die Ritter so, auch Amfortas und dessen alter Vater Titurel. Parsifal vermag zum Gesehenen nichts zu sagen – und wird von Gurnemanz also vor die Tür befördert.
Pablo Heras-Casado, der Mann hinter dem Dirigentenpult, ist ein Bayreuth-Debütant. Sein Regiekollege, der US-amerikanische Theatermacher Jay Scheib, hat bereits 2021 unter dem Titel »Sei Siegfried« ein 15-minütiges Programm zum Zeitvertrieb in den Pausen beigetragen. Der gewillte Zuschauer durfte sich mit einer VR-Brille ausstatten lassen und als Mythenheld mit dem Schwert gegen einen Drachen kämpfen. Ist das Kunst oder die Fortsetzung der Clownerie mit digitalen Mitteln?
Nun hat er den »Parsifal« inszeniert und sich abermals technologischen Spielereien hingegeben. Die sogenannte Virtuelle Realität hat es Scheib angetan. Und so wird das Bayreuther Publikum mit schweren Brillen versorgt. Allerdings kommen nur 330 der 1900 Gäste, die pro Vorstellung Platz im Festspielhaus finden sollen, in den Genuss. Auch als Betrachter im Kino wird einem die Berichten zufolge kitschig-bunte Assoziationswelt vorenthalten, die Scheib erdacht hat.
Trägt denn seine Interpretation des ersten Aktes auch ohne technologischen Firlefanz? Die Bühne ist in Düsternis gehüllt. Aufdringlich phallisch ragt ein Obelisk in die Höhe. Und die Sänger? Die stehen merkwürdig statisch in der Gegend herum. Es scheint, als hätte der Regisseur sich in formalistischer Manier vorrangig um umfassende Bespaßung der VR-Brillenträger bemüht, aber dabei vergessen, dass auch die Darsteller inszeniert sein wollen. Und so nimmt sich das Liebesmahl aus, als wüssten die Gralsritter selbst nicht so recht, was hier eigentlich vonstatten geht. Die Kostümierung in gelben Röcken hilft leider auch nicht weiter, sondern übersteigt die Grenze zur Peinlichkeit.
Akt zwei ereignet sich im Zaubergarten von Klingsor. Weil dem die Keuschheit der Gralsritter abgeht, hatte er sich kurzerhand selbst entmannt. Gegen die Verführungskünste von Kundry einsichtigerweise immun, zieht er sie auf seine Seite. Auf dem Weg zum Zaubergarten begegnet Parsifal einigen Gralsrittern, die sich haben von den Zaubermädchen verführen lassen. Er bringt sie gekonnt zur Strecke. Selbst von den Mädchen alsbald betört, entzieht er sich ihnen doch. Kundry, von Klingsor angeleitet, nähert sich dem Titelhelden. Sie erzählt ihm seine Familiengeschichte und bringt ihn so zur Erschütterung. Nun versucht sie ihn zu verführen. Der Kuss der beiden, so kann’s gehen, führt bei Parsifal zur Erleuchtung. Er wird »welthellsichtig«, begreift, was mit Amfortas geschehen ist und welche Rolle ihm selbst zukommt. Er fordert Kundry auf, ihn zum Gralskönig zu führen. Sie aber verflucht ihn. Klingsor wirft den Heiligen Speer auf ihn, der aber über Parsifal schwebt und von ihm schließlich ergriffen wird. Er schlägt ein Kreuz mit dem Speer und bringt so den Zaubergarten, dessen Herr eingeschlossen, zu einem Ende.
In Scheibs Regiearbeit geraten die Zaubermädchen zu Blumenmädchen, die wunderbar auch in den neuen »Barbie«-Streifen passen würden. Eine hippieske Ästhetik weiß der immanenten Misogynie der Wagner’schen Handlung nichts entgegenzusetzen. So mühen sich die Sänger ab, leisten mit dem Orchester Beeindruckendes und bleiben doch Opfer einer verfehlten Regie. Schon in den letzten Wochen sorgten kurzfristige Umbesetzungen für allerhand Wirbel.
Eine ganze Menge Zeit ist ins Land gegangen. Wir befinden uns im dritten Aufzug. Der Gral wurde ewig nicht von Amfortas, ganz in Erwartung seines herbeigesehnten Todes, enthüllt. Titurel hat sein Lebensende bereits ereilt. Gurnemanz führt nunmehr ein Einsiedlerdasein. Er stößt auf die gänzlich veränderte Kundry. Und da kommt auch Parsifal um die Ecke. Gurnemanz salbt ihn und kürt ihn zum neuen Gralskönig. Kundry wiederum erfährt durch Parsifal die Taufe. Während die zerfallende Gralsgesellschaft die Totenfeier für Titurel begeht, ohne indes den Gral erblicken zu dürfen, erscheint Parsifal auf der Burg. Er schließt die Wunde des Amfortas mit dem Speer, der sie erzeugt hat. Schließlich wird der Gral, durch den neuen König, wieder enthüllt. Erlösung, endlich.
Einzig im finalen Akt, der im Ganzen die Biederkeit der Inszenierung doch nicht zu unterlaufen imstande ist, rafft sich Scheib zu einem wirklichen Regiezugriff auf, indem er den Titelhelden den Gral nicht nur enthüllen, sondern auch zerschlagen lässt. Aber ein bisschen trashige Illustration der Handlung, auch ironisch lesbare Zeichen hier und da und das pseudosubversive Ende sind nicht der Widerstand, den das wahrscheinlich reaktionärste und quasi-religiöse Werk Richard Wagners einfordert.
So wirklich verwundert ist man ob des fast schon unbedarften theatralen Umgangs mit »Parsifal« bei zugleich hohem musikalischen Niveau aber kaum. Es kriselt gewaltig auf dem Grünen Hügel. Die Festspiele sind keineswegs mehr ausverkauft; lange vorbei sind die Zeiten, in denen man mitunter Jahre warten musste, um in den Genuss eines Vorstellungsbesuchs zu kommen. Nun will das Land Bayern weitere Anteile am Festspielbetrieb erwerben, der Bund wird aller Voraussicht nach mitziehen. An der künstlerischen Leiterin Katharina Wagner waren indes vonseiten der Politik bisher keine Zweifel laut geworden und man fragt sich: Wird es nicht Zeit, Wagners Erbe allmählich aus den Händen des Bayreuther Familienclans zu entreißen?
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