Das ewige Provisorium

Karlen Vesper fordert eine Rundumerneuerung des Grundgesetzes

»Einen Vorentwurf für einen provisorischen Text« nannte Frank-Walter Steinmeier das, was ein erlauchtes Gremium, ausschließlich männlich, vom 10. bis 23. August 1948 auf Herrenchiemsee niederschrieb. Viel mehr sei die »Unterlage zur weiteren Beratung«, wie das Papier von den Autoren selbst ausgewiesen wurde, nicht gewesen, sagte der Bundespräsident beim Festakt zu 75 Jahre Verfassungskonvent in bayerische Provinz. Recht hat er. Das im Jahr darauf verabschiedete Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verstand sich nur als Provisorium. Und ist es bis heute. Schlimmer: Es ist unzeitgemäß, hinkt Fortschritten im Rechtsdenken sowie Bedürfnissen und Bewusstsein der Mehrheit der Bürger hinterher.

Immerhin haben die »Väter« und diesmal auch zwei »Mütter« des Grundgesetzes den von den Vorarbeitern »vergessenen« Grundsatz »Männer und Frauen sind gleichberechtigt« eingefügt und ein Diskriminierungsverbot der Geschlechter (damals noch konservativ definiert) fixiert. Erklärten die Herren von Herrenchiemsee – an zweiter Position! – »die Würde der menschlichen Persönlichkeit ist unantastbar«, so präzisiert Artikel 1 Grundgesetz: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Das gilt offenbar nicht für alle, wie die Aushöhlung des Asylrechts bezeugt. Seit Jahren wird gefordert, Kinderrechte und das Recht auf Kultur zu kodifizieren, gar Rechte für Tier und Natur. Markus Söder indes, Gastherr der Freiheit und Demokratie bejubelnde Fete, drohte an deren Vorabend Klimaaktivisten mit »Konsequenzen des Rechtsstaats«, falls sie stören. 1990 begehrten Ost- und Westdeutsche eine neue Verfassung. Dies wurde schnöde missachtet. Aus Angst vor plebiszitären Elementen und sozialen Rechten, die mehr als soziale Marktwirtschaft meinen. Wie lange wollen wir noch mit einem Provisorium leben?

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