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Der Sündenfall
Vor 55 Jahren wurde der Versuch eines menschlicheren Sozialismus in der ČSSR unter russischen Panzerketten zermalmt
Es war ein gewaltiger Schock. Vergleichbar mit jenem vom 24. Februar vergangenen Jahres. Am 21. August 1968 rollten sowjetische Panzer in Prag ein. Im April des Jahres hatten tschechoslowakische Kommunisten erklärt, einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« schaffen zu wollen: mehr Demokratie, Liberalisierung, Meinungs- und Pressefreiheit, Abschaffung der Zensur, Abbau des Zentralismus und Umbau der Wirtschaft. Das Aktionsprogramm der KPČ unter Alexander Dubček, Teilnehmer am slowakischen Nationalaufstand 1944 gegen die deutsch-faschistische Okkupation, wurde von der Mehrheit der Tschechen und Slowaken mit Begeisterung angenommen.
Der sogenannte Prager Frühling hatte sich lange angekündigt. Die internationale Kafka-Konferenz in Liblice, deren Spititus Rector der Germanist Eduard Goldstücker war, als Jude und Kommunist 1939 vor den Nazis ins Exil geflohen, hatte Ideen entzündet, die nicht mehr zu ersticken waren. Die Debatten unter Intellektuellen und Künstlern inspirierten auch die Ökonomen. Dubčeks Mann für die Wirtschaftsreformen war Ota Šik, Widerstandskämpfer gegen die Nazis und Mauthausen-Häftling. Obwohl (oder gerade weil) Walter Ulbricht selbst ein umfassendes Reformprogramm in Gang gesetzt hatte, gehörte der Partei- und Staatschef der DDR zu jenen Führern im »Ostblock«, die schon die Konterrevolution im Nachbarland auf dem Vormarsch sahen. Dabei sprachen sich im Juli 1968 laut einer Umfrage 89 Prozent der tschechoslowakischen Bevölkerung für eine Beibehaltung des Sozialismus aus. Und obwohl nach neueren Forschungserkenntnissen KPdSU-Generalsekretär Leonid Breschnew bis zuletzt auf eine politische Lösung hoffte, marschierten dann doch vor nunmehr 55 Jahren eine halbe Million Soldaten der Warschauer Vertragsstaaten in das Bruderland ČSSR ein. Ulbricht verhinderte, nach dringlichst erbetenem Segen aus Moskau, quasi in letzter Minute per eiligst ausgesandtem Kurier nach Strausberg, ins Headquarter der NVA, eine Beteiligung von DDR-Streitkräften. Das minimiert Mitschuld nicht.
Dem Einmarsch folgte ein schmerzhafter Exodus. Tausende Tschechen und Slowaken, kreative Köpfe und geschickte Hände, verließen die Heimat. Goldstücker emigrierte zum zweiten Mal nach Großbritannien; Šik, der zum Zeitpunkt der Intervention in Belgrad weilte, ging in die Schweiz; Dubček wurde aus der Partei ausgeschlossen und in die Forstwirtschaft verbannt. Die »Samtene Revolution« im Herbst 1989 rückte ihn noch einmal ins Schlaglicht der Öffentlichkeit, doch der neue Held hieß jetzt Václav Havel, Dramaturg und Bürgerrechtler. Alsbald wollten Tschechen und Slowaken nicht mehr vereint in einem Staat leben. Mit dem Nationalismus gedieh Rechtspopulismus.
Unterm Strich bleibt zu konstatieren: Vom Sündenfall des 21. August 1968 hat sich der Realsozialismus nicht mehr erholt. Ob heute alles besser ist, mag diskutabel sein.
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