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Lindners Manöver

Kindergrundsicherung: Wie der Finanzminister versucht, höhere Sozialleistungen zu verhindern

  • Eva Roth
  • Lesedauer: 7 Min.
Überraschung! Damit Kinder spielen, Sport treiben und ins Schwimmbad gehen können, brauchen ihre Eltern genug Geld.
Überraschung! Damit Kinder spielen, Sport treiben und ins Schwimmbad gehen können, brauchen ihre Eltern genug Geld.

Die Bundesregierung will sich spätestens kommende Woche bei ihrer Kabinettsklausur in Meseberg auf Eckpunkte der Kindergrundsicherung verständigen. Finanzminister Christian Lindner (FDP) räumt zwar implizit ein, dass viele Kinder arm sind. Dennoch sperrt er sich gegen höhere Zahlungen. Er hat bereits die Debatte stark geprägt und könnte sich am Ende weitgehend durchsetzen. Wie macht er das? Wir haben uns Einwände von ihm und anderen gegen mehr Geld für Arme angeschaut, die in modifizierter Form auch gegen andere Sozialleistungen einsetzbar sind.

»Soziale Absicherung ist eine der zentralen Erwartungen der Menschen an den Staat und das Gemeinwesen«, sagte der Berliner Soziologe Stefan Liebig bereits vor zwei Jahren. So findet es eine große Mehrheit in Deutschland fair, wenn sich die Gesellschaft um Menschen kümmert, die arm und bedürftig sind. Kinder in Bürgergeld-Haushalten sind bedürftig, die Regelsätze zu knapp, darauf weisen zahlreiche Fach- und Sozialverbände seit langem hin. Insofern sollten sich Politiker etwas einfallen lassen, wenn sie keine ausreichende soziale Sicherheit gewähren wollen. Finanzminister Lindner hat sich etwas einfallen lassen und diese Woche seine Rhetorik nochmal verschärft.

Armut – ein Problem der Anderen

Am vergangenen Sonntag sagte der FDP-Politiker in Berlin mit Blick auf die geplante Kindergrundsicherung: »In Deutschland ist die Kinderarmut ganz, ganz deutlich zurückgegangen – bei den ursprünglich deutschen Familien, die schon länger hier sind.« Für Deutsche ist die Entwicklung demnach bereits sehr gut, kein Grund zum Eingreifen. »Insgesamt ist in Deutschland die Kinderarmut aber noch indiskutabel hoch – wegen der Familien, die seit 2015 neu nach Deutschland eingewandert sind, als Geflüchtete oder aus anderen Gründen«, fuhr Lindner fort. Damit spaltet er Arme, die finanziell in der gleichen Lage sind, in zwei Gruppen auf. Er halte es für »unsäglich, wenn der Finanzminister nun anfängt, arme Kinder aus Deutschland auszuspielen gegen die Kinder, die mit ihren Familien aus der Ukraine zu uns flüchten mussten«, sagte der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider.

Als Fazit erklärte Lindner die Migration zum eigentlichen Problem: »Es gibt also einen ganz klaren statistischen Zusammenhang zwischen Zuwanderung und Kinderarmut.« Wirklich?

Auf Nachfrage bestätigt das Finanzministerium, dass Lindner sich bei alldem auf die Zahl der Kinder in Grundsicherung (früher Hartz IV, heute Bürgergeld) bezieht. Implizit erkennt er damit zunächst einmal an, dass sie arm sind. Schaut man sich die Entwicklung an, so lebten nach Inkrafttreten von Hartz IV in den Jahren 2006 bis Anfang 2008 mehr als 2,2 Millionen Minderjährige in Haushalten, die Grundsicherung erhielten – so viele, wie seither nie wieder. Die Rekord-Kinderarmut war nicht Folge von Zuwanderung, vielmehr war damals die Arbeitslosigkeit hoch und die Löhne oft extrem niedrig.

In den folgenden Jahren schwankte die Zahl Minderjähriger in Grundsicherungs-Haushalten meist um die zwei Millionen, im April dieses Jahres waren es 1,97 Millionen Jungen und Mädchen. Die Zahl der Hartz-IV-Empfänger mit deutschem Pass ist dabei tatsächlich deutlich gesunken, das gilt für Kinder und Erwachsene. Zu den Gründen gehören sinkende Arbeitslosigkeit und der Mindestlohn.

Gleichzeitig stieg nach 2015 die Zahl der Geflüchteten aus Syrien, die auf Grundsicherung angewiesen waren – inzwischen sinkt sie wieder. Mehr als die Hälfte der 2015 nach Deutschland Geflüchteten war 2021 erwerbstätig. Im Mai 2022 war die Zahl Minderjähriger in Bürgergeld-Haushalten insgesamt so niedrig wie nie in den letzten 17 Jahren. Seit Mitte 2022 sind viele Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine auf staatliche Unterstützung angewiesen, was nicht überraschend ist – die Menschen müssen erst mal ankommen und die Sprache lernen.

Bleibt festzuhalten: Knapp zwei Millionen Minderjährige leben hierzulande in Haushalten, die auf Bürgergeld angewiesen sind, ähnlich viele wie im Zeitraum seit 2009. Lindner erklärt nun Kinderarmut zum Problem von Kriegsflüchtlingen und anderen Migranten. Sein Ziel ist offensichtlich, dass die Grundsicherung niedrig bleibt, und zwar für alle, mit und ohne deutschen Pass.

Giftiges Geld

Familienministerin Lisa Paus (Grüne) hat im Frühjahr erklärt, dass sie mit der Kindergrundsicherung die Leistungen erhöhen will, auch für Kinder, die derzeit Bürgergeld erhalten. Nicht nur Lindner stellt das infrage: »Hilft man ihnen am besten dadurch, dass man den Eltern mehr Geld aufs Konto überweist?« Er nennt als womöglich bessere Alternative, beispielsweise Kitas besser auszustatten und in die »Beschäftigungsfähigkeit der Eltern zu investieren«. Der arbeitsmarktpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion nannte eine Erhöhung von Sozialleistungen in der »FAZ« ein »süßes Gift: Es bringt die Menschen nicht in den Arbeitsmarkt, sondern macht sie abhängiger vom Staat«.

Nach der Erfahrung von Sozialverbänden brauchen Familien in der Grundsicherung indes mehr Geld, für den täglichen Bedarf und »gerade bei Kindern und Jugendlichen für die soziale Teilhabe«, sagt etwa Alexander Nöhring, der bei der AWO die Abteilung Kinder, Jugend, Frauen und Familie leitet. Er nennt Beispiele: »Ein Schulbesuch kostet Geld, für Ranzen, Hefte, Lineale. Die 150 Euro, die es derzeit gibt, reichen nicht. Auch die 15 Euro für den Sportverein oder eine Musikschule reichen oft nicht. Und Jugendliche können ohne Taschengeld nicht mit Gleichaltrigen mal ins Kino gehen«, sagt Nöhring dem »nd« und betont: »Im Kapitalismus kostet Teilhabe Geld. Vieles ist durch eine bessere Infrastruktur – etwa gute Kitas – möglich, aber nicht alles.«

Er fürchtet, dass die Ampelkoalition dennoch lediglich Leistungen für Kinder zusammenfasst und nicht erhöht. Die 3,5 Milliarden Euro, die derzeit in Medien kursieren, deckten allenfalls zusätzliche Ausgaben ab, wenn mehr Menschen ihre bereits bestehenden Ansprüche auch geltend machen. Derzeit beantragen beispielsweise viele keinen Kinderzuschlag, der verhindern soll, dass Familien auf Bürgergeld angewiesen sind.

Eltern ist zu misstrauen

Seit Jahren taucht immer wieder der Verdacht auf, arme Eltern würden zusätzliches Geld vertrinken oder verrauchen und jedenfalls nicht den Kindern zugutekommen lassen. »Es gibt keine Studien, die das bestätigen«, so Nöhring. »Nach unserer Erfahrung sparen die meisten Eltern eher an sich, bevor sie die Klassenfahrt nicht zahlen.« Selbstverständlich gebe es in manchen armen Familien Schwierigkeiten, »die gibt es auch bei reichen Familien«. Dafür brauche man die Kinder- und Jugendhilfe, die ebenfalls völlig unterfinanziert sei. Laut »SZ« plant die Ampelregierung im Übrigen auch Kürzungen bei der Migrationsberatung.

Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung hat 2018 versucht herauszufinden, wofür genau Familien mehr ausgeben, wenn etwa das Kindergeld steigt. Dafür wurden Veränderungen beim Kindergeld abgeglichen mit Angaben von Eltern zu ihren Ausgaben bei den jährlichen Soep-Befragungen. Heraus kam, dass die Familien ein höheres Kindergeld für Dinge wie eine höhere Miete und eine größere Wohnung, Kinderturnen und Musikerziehung verwendeten. Laut Studie haben zudem in einigen Jahren Väter mehr geraucht, »seit 2008 ist keine derartige Steigerung mehr nachweisbar«, heißt es in der Studie. Interessant ist dieser Hinweis: Aufgrund des Misstrauens gegenüber Eltern wurde 2011 das Bildungs- und Teilhabepaket mit Sachleistungen für Kinder in Hartz-IV-Haushalten eingeführt. Die Verwaltungskosten lagen demnach zunächst bei knapp 30 Prozent der Fördersumme.

Arbeiten gehen!

Statt höhere Sozialleistungen wird Erwerbsarbeit als Alternative ins Spiel gebracht – von Lindner, der CDU, und auch das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) schreibt: »Arbeit ist die beste Armutsvorsorge.« Umso wichtiger sei es, »dass Eltern immer einen Anreiz haben, zu arbeiten – und sich das durch höhere Sozialleistungen nicht ändert.«

Auffallend ist zunächst, dass hier nicht gemutmaßt wird, ob die Eltern mehr Geld aus Erwerbsarbeit für ihre Kinder ausgeben oder sich Schnaps kaufen. Ansonsten mag es für Unternehmen günstig sein, wenn Sozialleistungen niedrig sind, damit Menschen auch schlecht bezahlte Arbeit annehmen müssen. Für Beschäftigte erhöht das den Lohndruck. Im Übrigen waren zuletzt rund 783 000 Menschen erwerbstätig und trotzdem auf Bürgergeld angewiesen.

Der Fokus auf Erwerbsarbeit blendet auch arme Menschen aus, die keinen Job annehmen können oder sollten. Das gilt beispielsweise für Alleinerziehende, von denen fast 40 Prozent auf Grundsicherung angewiesen sind. Auch sie werden kaum mehr Geld für ihre Kinder erhalten, wenn sich Lindner durchsetzt.

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