Jüdische Erfahrung im DDR-Film: Die Defa als Ausgrabungsstätte

Ein neues Buch von Lisa Schoß untersucht die Darstellung jüdischer Erfahrungswelten in den Filmen der DDR

  • Anna Pollmann
  • Lesedauer: 10 Min.
Die Weltpremiere von »Nackt unter Wölfen« in Ost-Berlin am 10. April 1963 fand am Vorabend des Jahrestags der Selbstbefreiung des KZ Buchenwald statt.
Die Weltpremiere von »Nackt unter Wölfen« in Ost-Berlin am 10. April 1963 fand am Vorabend des Jahrestags der Selbstbefreiung des KZ Buchenwald statt.

»Du bist also gegen die demonstrierenden Leute?« – »Ich bin gegen solche Situationen«, lässt Jurek Becker den jüdischen Überlebenden Aron Blank in seinem Roman »Der Boxer« von 1976 sagen. Die Kulturwissenschaftlerin Lisa Schoß zitiert ihn, um die Komplexität des 17. Juni sowie des gesamten Jahres 1953 aus einer jüdischen Perspektive aufzuzeigen. Für ihre filmhistorische Studie »Von verschiedenen Standpunkten. Die Darstellung jüdischer Erfahrung im Film der DDR« sind die 50er Jahre zentral für die Transformation eines Antifaschismus als Erinnerungsarbeit von Überlebenden hin zur staatstragenden Ideologie (Jürgen Danyel). Die Freilegung einer jüdischen Erfahrung »in den narrativen und visuellen Randzonen« des Defa-Films dient im Buch der Erschließung vergangenheitspolitischer und ideologischer Implikationen der DDR-Kulturpolitik bis in die späten 80er Jahre.

Komplizierte Heimat DDR

Die antisemitischen Schauprozesse in anderen Ländern des Ostblocks, insbesondere der Slansky-Prozess in Prag, hallten auch in der DDR nach. Der (nichtjüdische) Kommunist Paul Merker war 1953 nach einem Geheimprozess zu acht Jahren Haft verurteilt worden. Sein Engagement für materielle Entschädigung aller emigrierten Juden und Jüdinnen war ihm »als Versuch der Restitution kapitalistischer Wirtschaftsstrukturen und als Ausverkauf von deutschem Volksvermögen an jüdische Kapitalisten« ausgelegt worden. Wegen seiner Unterstützung Israels wird er als zionistischer Agent diffamiert.

Parallel übte die SED-Führung Druck auf Mitglieder der jüdischen Gemeinden aus, die der »doppelten Mitgliedschaft« und wegen der Unterstützung durch das American Joint Distribution Committee der Gegenleistungen verdächtigt wurden. Nachdem jüdische Ärzt*innen vom sowjetischen Geheimdienst der »Verschwörung« bezichtigt wurden, veranlasste die ideologisch aufgeheizte Stimmung nicht wenige Repräsentant*innen jüdischen Lebens zum Exodus aus der DDR. Dass selbst die Repressionen und Verdächtigungen der Parteiführung gegen jüdische Bürger*innen nicht alle politische Loyalität und das Vertrauen in Schutz und Stabilität des Staates aufgezehrt hatten, zeigte sich in der Wahrnehmung des 17. Juni als konkreter Gefahr oder gar als »faschistischer Putsch«. Vor dem Hintergrund der Erfahrung der nationalsozialistischen Pogrome erschien dieser, so legt Schoß dar, als »Vorgeschichte zu Schlimmerem«.

Kritische Retrospektive

Die stolze 650 Seiten umfassende Monografie erzählt fulminant die komplexe Nachgeschichte von Nationalsozialismus und Holocaust in der Kulturpolitik des selbsternannten »anderen«, sozialistischen Deutschlands. Sie dechiffriert diese anhand der Rollen und Visualisierungen jüdischer Protagonist*innen, erzählt sie durch die Arbeit jüdischer Filmschaffender unter den spezifischen Produktionsbedingungen des staatseigenen Filmbetriebs. Die Filme der Defa waren nach 1989 weitestgehend von der gesamtdeutschen Bildfläche verschwunden und unter Ideologieverdacht gestellt. Nachdem zum 75. Jahrestag der Defa-Gründung 2019 an diese Filmgeschichte erinnert und viele Filme zum Streaming bereitgestellt wurden, birgt Schoß nun 50 Kinoproduktionen und 80 Fernsehfilme aus der Produktionszeit 1947–1989. Diese fallen zumeist in das Genre des Antifaschismusfilms, dem »Lebensnerv« der Defa. Ihre »kritische Retrospektive« ist in der Schriftenreihe der Defa-Stiftung erschienen.

Die weitverbreitete Annahme, dass die Antifaschismusdoktrin keine Thematisierung der Judenvernichtung und jüdischer Erfahrung zugelassen hätte, wurde in den letzten Jahren in der deutschen wie internationalen Forschung aufgeweicht. Zwar war das Wissen um die Massenvernichtung in den 50er und 60er Jahren meist noch nicht in ein Bewusstsein seiner epistemischen und universalen Dimensionen umgeschlagen. Aber gerade im per se mehrdeutigen Raum von Kunst und Kultur kann dessen latente Wirkungsgeschichte ebenso in Auslassungen und Verallgemeinerungen, wie in ideologischer Einhegung und Überschreitung aufgespürt werden. Schoß schickt vorweg: »(Film-)Kunst war Experimentierfeld, Ersatzöffentlichkeit, Mittel der Kritik.« Sie richte ihren Fokus auf dessen »mehrdeutige Ausdrucksmittel«: Bilder, Töne und Schnitte, die Projektionsfläche sein können; die Bedeutungen, Affekte und Gefühle produzierten. Diese mussten weder beabsichtigt, noch konnten sie kontrollierbar sein. »Genau aus diesem Grund misstraute der Staat dem Film im gleichen Maße, wie er ihn schätzte.«

Antifaschismus und jüdische Erfahrung

Den Buchtitel »Von verschiedenen Standpunkten« hat die Autorin einem Zitat Frank Beyers entlehnt, dem Regisseur zwei der wohl bekanntesten antifaschistischen Romanverfilmungen, die für Schoß jedoch nur eine untergeordnete Rolle spielen. 1963 hatte er mit Bruno Apitz’ Buchenwald-Mythos »Nackt unter Wölfen« den ersten Kinospielfilm über ein KZ gedreht. Die Überhöhung des kämpferischen Widerstands der kommunistischen Häftlinge machte Buchenwald zum zentralen Erinnerungs-Ort der DDR. Apitz’ Roman, in dessen Zentrum die Rettung eines jüdischen Kindes und die »Selbstbefreiung« des KZs unter kommunistischer Führung standen, so führt Schoß aus, wurde in der DDR als Zeitzeugenbericht gelesen; Beyers Verfilmung kreierte ein exemplarisches Vorbild für die Darstellung der Lager. Rund zehn Jahre später verfilmte Beyer Jurek Beckers Romandebüt »Jakob der Lügner« von 1969, das nichts mehr von dem »antifaschistischen Glanz« des Vorgängerfilms trug. Im Alltag des Ghettos, einem Schauplatz jüdischer Katastrophenerfahrung, wird hier eine »Parabel über die Bedeutung von Wahrheit und Lüge« inszeniert. In der DDR habe man keinen Film über den Holocaust im engeren Sinne gedreht, so Beyer. Ostdeutsche Filmschaffende hätten sich dem Thema jedoch von sehr verschiedenen Standpunkten genähert.

Die Kapitel des Buches folgen chronologisch zunächst den partei- und kulturpolitischen Standpunkten, die dann jedoch in einzelnen Filmanalysen unterlaufen werden. Sie beleuchten biografische und professionelle Konstellationen und Kooperationen, zuweilen auch international, die einen erheblichen Einfluss auf den Impuls und die Umsetzung der Filmproduktionen hatten. Von dort zoomt Schoß in die Filme hinein, geht dicht an die Handlung und die in sie gestellten jüdischen Protagonist*innen heran. Zuweilen hätte den Kapiteln, auch der Länge wegen, eine gegenläufige Blickrichtung gut getan, eine Fokussierung der ästhetischen Ebene, die dann beim Herauszoomen mit der historischen verknüpft wird. Es braucht an manchen Stellen etwas Geduld, um mit der Lektüre bei den Filmszenen anzukommen.

Schoß schildert eindrücklich, wie die kurze Zeitspanne zwischen Kriegsende und Staatsgründung der DDR von einer enormen Produktivität geprägt war, die jedoch auch mit enormer Verdrängungsleistung einhergingen; Jahre des »Aufbaus und Ballasts«. Bereits am 28. April 1945 hatte Nikolai Bersarin, erster sowjetischer Stadtkommandant von Berlin, die Wiedereröffnung der Berliner Theater und Kinos verfügt. Die Militäradministration förderte das kulturelle Leben und den Wiederaufbau der deutschen Filmproduktion. »Misst man die Situation an dem antifaschistischen Anspruch«, so Schoß, »dann hätte ein Großteil der Filme nicht gedreht werden dürfen«. Auch die Filmgeschichte der DDR kannte keine Stunde null. Die Personalpolitik der Defa, die auch das Erbe der Ufa angetreten hatte, war keine der konsequenten Entnazifizierung gewesen.

Auf den ersten Blick seien die jüdischen Opfer und Überlebenden nicht Teil des »Trümmerkinos« gewesen, schreibt die Autorin, um sodann ein feines Gespür dafür vorzuführen, wo sich eine jüdische Erfahrung Bedeutung verschaffen konnte: in ambivalenten Figuren ohne Geschichte in »Die Mörder sind unter uns« (1947), als Statthalter eines bildungsbürgerlichen Humanismus wie im Melodram über eine »Mischehe« in »Ehe im Schatten« (1949). Auch im sozialistischen Aufbaukino gab man der Vergangenheit Raum – zugunsten der Zukunft. Der jüdische Ingenieur folgt in »Unser täglich Brot« (1949) der Einladung, den Aufbau eines neuen Werkes voranzutreiben, mit dem nicht bekehrbaren Kriegsheimkehrer verschwindet auch die Vergangenheit aus dem Plot. Schoß ruft in Erinnerung, dass Ende der 40er Jahre in allen Besatzungszonen eine Reihe von Filmen der jüdischen Verfolgungserfahrung einen zentralen Platz eingeräumt hatten. Dies war jedoch nur unter bestimmten Bedingungen der Darstellung – Aufklärung, Brückenschlag zur Tätergesellschaft, Verzicht auf Anklage und sozialistischer Zukunftsoptimismus – möglich.

Verhärtung des Kalten Krieges

Diese »Ambivalenz des Anfangs«, wurde in der neu gegründeten DDR bald von den ideologischen Verfestigungen des Kalten Krieges kassiert. Diesen vergangenheitspolitischen Paradigmenwechsel führt Schoß anhand der komplexen Verbotsgeschichte von »Das Beil von Wandsbek« (1951) vor. Die Romanvorlage von Arnold Zweig war 1943 erstmals in Palästina veröffentlicht worden. Verfilmt wurde das »Psychogramm eines Mitläufers« von Falk Harnack, dem künstlerischen Leiter der Defa. Zweig war von Johannes R. Becher höchstpersönlich eingeladen worden, nach Ost-Berlin überzusiedeln. Umso fataler schien das Verbot nur wenige Wochen nach dem Premierenerfolg. Dieses war mit den im Film erzeugten »falschen« Empathien begründet worden, die nicht dem Widerstand sondern dem Mitläufer galten. Schoß verweist darüber hinaus jedoch auf die facettenreiche Darstellung des jüdischen Kommunisten Menger, die angesichts der antisemitisch gefärbten Kampagnen der frühen 50er Jahre keineswegs selbstverständlich war. Antisemitismus wurde nur mehr als Problem der »Refaschisierung« jenseits der Zonengrenze behandelt, wie in »Zwischenfall in Benderath« (1956), einem Film, der kurz nach dem Verbot der KPD in Westdeutschland entsteht und Exil und DDR sowie Antisemitismus und Antikommunismus analogisiert.

Anhand der Courtroom-Dramen der 60er Jahre beschreibt Schoß, wie die Täter-Opfer-Beziehungen der Kriegsverbrecherprozesse unter Bedingungen des Kalten Krieges in Filmstoffe transformiert wurden. Die Überlebenden, zumeist weibliche Figuren, treten nun als Zeug*innen und Handelnde, zuweilen auch als »Unerlöste« und Rächende in Erscheinung. Dabei wurden auch die »Grauzonen« (Primo Levi) nicht ausgespart, in denen die Opfer moralisch ambivalent handeln konnten oder mussten. Schoß erörtert dies in einer ausführlichen Besprechung des Films »Lebende Ware« von 1966, der die Verhandlungen Joel Brands und Reszö Kasztners mit der nationalsozialistischen Führung zur Freilassung von Juden und Jüdinnen im Jahr 1944 thematisiert. Er zeigt als einer der wenigen Filme überhaupt auch das Schicksal der Judenräte, der von den Nazis eingerichteten Zwangskörperschaften, die zur Kollaboration in der lokalen Verwaltung und bei Deportationen gezwungen wurden. Schoß rekonstruiert hier eine enge Verzahnung von Rechts- und Filmgeschichte: Der Filmstoff stammte aus der Feder des Ostberliner Rechtsanwalts Friedrich Karl Kaul, der sein Wissen als Beobachter beim Eichmann-Prozess und seine Rolle als Nebenklagevertreter in den Verfahren gegen die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen als Bühne für den ideologischen Kampf gegen die Bundesrepublik und Israel zu nutzen wusste.

Eine herausragende Rolle im Buch nehmen die Filme Konrad Wolfs ein. Die Massenvernichtung der Juden und Jüdinnen, die er in seinen Kriegstagebüchern als junger Rotarmist erwähnt, ist dort nicht vordergründig, aber doch konstant präsent. Hervorgehoben wird vor allem »Sterne«, eine ostdeutsch-bulgarische Koproduktion von 1959. Der an Originalschauplätzen gedrehte, mehrsprachige Film bedient sich konventioneller Narrative wie der inneren Wandlung eines Wehrmachtsoldaten und der Liebesgeschichte zwischen dem deutschen Unteroffizier und der Jüdin Ruth. Zugleich bereiten Symbolik, etwa die Wiederkehr des jiddischen Liedes »S’brent« von Mordechai Gebirtig, und die zeitliche Struktur des Films die Unentrinnbarkeit der Vernichtung vor.

In weiteren Kapiteln werden die Spielräume für eine neue Formensprache des antifaschistischen Films zwischen kulturpolitischer Öffnung und »Kahlschlagplenum« von 1965 gezeigt. Durch verschiedene Fernsehproduktionen führt Schoß uns schließlich von den späten 50ern bis in die Zeit nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976, nach der für den Film ein neuer Wirklichkeitsbezug gefordert wurde. Mit Blick auf die jüdische Erfahrung hieß dies vor allem eine stärkere Offenheit der Figuren, aber auch eine Verknüpfung des Antisemitismus mit anderen Formen gewaltförmiger Ausgrenzung wie Antiziganismus und Homophobie, die das gegenwärtige politische Streben nach Allianzbildung filmisch vorwegnimmt.

Erfahrung statt Identität

Bei der Lektüre fällt auf, dass das Buch fast vollkommen auf den so verbreiteten wie entleerten Begriff der Identität verzichtet. Einzig das abschließende Kapitel zu »Die Schauspielerin« (1988), geschrieben von der jüdischen Theaterautorin Hedda Zinner und verfilmt von Siegfried Kühn, operiert mit dem Begriff und verhandelt ihn als Prozess des Sichtbarmachens und -werdens. In der Behandlung ihres historischen Materials drängt sich Schoß stattdessen der – titelgebende – Begriff der Erfahrung auf. Diesem ist Nachträglichkeit eingeschrieben, ein nachholendes biografisches und historisches Verstehen.

Dass dieses Verstehen in der Betrachtung der politischen Biografien vor und hinter der Kamera als ebenso komplexer wie widersprüchlicher Prozess nachvollzogen wird, der sich identitätspolitischer Vereinfachung widersetzt, macht die Studie absolut lesenswert. Das in ihr aufbereitete Filmmaterial macht einmal mehr deutlich, dass das, was heute mit Blick auf den Holocaust leichtfertig als »Singularitätspostulat« kritisiert wird, das Ergebnis eines ebenso langwierigen wie umkämpften historischen Erkenntnisprozesses ist.

Zur Autorin
Anna Pollmann; Quelle: privat

Anna Pollmann ist Kulturhistorikerin und arbeitete zur modernen jüdischen Geschichte und zur Nachgeschichte des Holocaust.
Sie ist Autorin des Buches »Fragmente aus der Endzeit. Negatives Geschichtsdenken bei Günther Anders« und hat gemeinsam mit
Jan Gerber und Philipp Graf den Band »Geschichtsoptimismus und Katastrophen­bewusstsein. Europa nach dem Holocaust« herausgegeben. Derzeit beschäftigt sie sich an der Universität Konstanz kritisch mit der politischen Leitvokabel des »Gesellschaft­lichen Zusammenhalts«.

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