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Rassismus an Schulen: »Permanent in Alarmbereitschaft«
Rassifizierte Schüler*innen kämpfen in Berlins Bildungssystem zunehmend mit Diskriminierung – so die Sozialwissenschaftlerin Olenka Bordo Benavides
Frau Bordo Benavides, in Friedrichshain-Kreuzberg beschäftigen Sie sich beruflich mit Rassismus gegen junge Menschen an Schulen und Kitas. Müssen nichtweiße Kinder und Jugendliche an diesen Orten mit Rassismus rechnen?
Ja. Leider ist es so, dass junge Menschen im Schulsystem, die rassismuserfahren oder vermeintlich migrantisch sind, auf jeden Fall damit rechnen müssen. Gerade erleben wir sogar einen Backlash – in Berlin, aber auch bundesweit. Leider trauen sich Menschen seit den Wahlen zum Abgeordnetenhaus in Berlin, mehr zu sagen als vorher.
Sie meinen, seit der Silvester-Debatte und dem CDU-Wahlkampf gegen migrantische Jugendliche äußern sich Lehrkräfte häufiger rassistisch?
Genau. Wir rechnen damit, dass wir in der nahen Zukunft noch viel mehr angefragt werden.
Wie viele Anfragen bekommen Sie denn zurzeit im Durchschnitt?
Wir führen keine genaue Statistik. Aber wir wissen, dass sich 2021 über 80 Kinder, Jugendliche, Elternteile und Erziehungsberechtigte an uns gewandt haben. 2022 waren es über 95 und 2023 haben wir diese Zahl jetzt schon längst überschritten. Dazu arbeiten wir im Bezirk mit Schulen und Trägerschaften und mit Kooperationspartner*innen in ganz Berlin zusammen, die auch Begleitungen für Horte und Schulen übernehmen. Bei den Beratungsfällen geht es auch um Kitas, aber die Schule nimmt schon einen ganz großen Raum ein. Außerdem hatten wir im vergangenen Jahr über 400 Teilnehmende bei unseren Veranstaltungen. Denn neben der Beratung bieten wir präventive Maßnahmen wie Workshops, Fortbildungen und Informationsveranstaltungen an.
Wir reden hier vor allem über Rassismus, der von pädagogischen Fachkräften gegen Schüler*innen ausgeht. Beraten Sie auch in Fällen, in denen die Diskriminierung von anderen Schüler*innen kommt?
Ja, sowohl als auch. Aber meistens gehen die rassistischen Verhaltensweisen von Erwachsenen aus, weil sie internalisiert sind. Und wenn Erwachsene Rassismus relativieren oder reproduzieren, fördert das natürlich auch, dass Schüler*innen untereinander sich rassistisch verhalten und Rassismen wiedergeben. Mir wurde bei Workshops von Unterrichtssituationen erzählt: Da sagte die Fachkraft, dass es okay sei, das N-Wort auszusprechen. Und am Ende der Stunde sagen die anderen Kinder das N-Wort zu den schwarzen Kindern. Rassismus wird so normalisiert.
Lehrer*innen sollten für Schüler*innen eine Vertrauensperson darstellen. Wenn Sie stattdessen ein gefährliches, unsicheres Umfeld schaffen, stelle ich mir das für die Betroffenen schmerzhaft vor.
Olenka Bordo Benavides ist Pädagogin und Sozialwissenschaftlerin. Seit 2020 ist sie Leiterin der Anlauf- und Fachstelle für Diskriminierungsschutz an Schulen und Kitas in Friedrichshain-Kreuzberg. Die 2020 gegründete Fachstelle unter Trägerschaft der RAA Berlin berät Diskriminierungs- und Rassismuserfahrene und qualifiziert pädagogisches Personal im Bezirk.
Die Machtungleichheit im System Schule hat natürlich schwerer wiegende Implikationen und Auswirkungen als in anderen Kontexten. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass Kinder und Jugendliche lange Zeit im Bildungssystem verweilen. Es gibt psychologische Studien, die darauf hinweisen, und auch wir erleben das in der Beratung. Die Wirkmächtigkeit der Handlungen von pädagogischen Fachkräften und Lehrkräften ist einfach viel größer als bei der Peer-Gruppe. Sie hat ganz direkte Auswirkungen auf Identitätsentwicklungsprozesse sowie auf institutioneller Ebene auf die Lebensrealitäten und Lebensverläufe von jungen Menschen. Kinder lernen in der Schule beispielsweise, dass sie sich an erwachsene Personen wenden sollen, um Schutz zu suchen. Wenn sie dann der Lehrkraft erzählen, dass sie rassistisch angegangen wurden, aber von der kommt nur »Sei nicht so empfindlich« oder sogar »Du bist aber auch nicht ohne«, wenn also ihre Erfahrung heruntergespielt und ihnen sogar die Schuld zugeschrieben wird – dann ist das für Identitätsentwicklungsprozesse junger Menschen verheerend. Wir können die negativen Folgen klar beobachten: höhere Empfindlichkeit, teilweise Verhaltensweisen, die als aggressiv gelesen werden, Ängste. Wenn Kinder und Jugendliche immer wieder solche Erfahrungen machen müssen, gerade durch Menschen, die sie eigentlich schützen sollten, sind sie permanent in Alarmbereitschaft und hohem Stress ausgesetzt. Das macht krank. Wenn sie dann nicht mehr zur Schule gehen wollen, wird das wiederum sanktioniert und teilweise kriminalisiert – was am Ende die ganze Familie schwächen kann. Das ist ein großes Problem mit immensen Auswirkungen.
Zusätzlich haben die Lehrkräfte auch einen großen Einfluss auf den Lebensweg der Schüler*innen, oder?
Ja, das erleben wir zum Beispiel in der Beratung junger Muslimas. Sie erzählen, dass sie gerne studieren würden, zum Beispiel Ökonomie, aber ihnen das nach dem mittleren Schulabschluss oder dem Abitur abgesprochen wird. Einmal hatte ich eine junge Muslima in der Beratung, der gesagt wurde, sie solle lieber bei Rossmann arbeiten als studieren, weil sie sich ja so gerne schminke. Hier spielen antimuslimischer Rassismus und Sexismus zusammen: Die Lehrkraft denkt, als Muslima kann das Mädchen nicht emanzipiert sein, deshalb solle sie lieber nicht studieren. Ihre Ziele, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten werden der Schülerin dabei abgesprochen.
Von welchen Rassismen sind typischerweise rassifizierte junge Männer betroffen?
Bei ihnen fällt oft die Bestrafung viel härter aus als bei weißen Kindern und Jugendlichen. Es wird dann gesagt, dass das Kind gewalttätig gewesen sei, aber die Situation davor wird nicht betrachtet, die Frage, ob es sich zum Beispiel verteidigt hat, wird nicht gestellt. Gerade im Fall von antimuslimischem Rassismus wird dann oft so getan, als sei das Kind sowieso aggressiv. Ich kenne einen Fall, da hieß es, ein Kind habe einen Streit angefangen, dabei war es an dem Tag nicht einmal in der Schule. Solche Handlungs- und Denkweisen werden durch rassistische gesellschaftliche Diskurse gestärkt, wie zum Beispiel in der Silvester-Debatte oder im CDU-Wahlkampf gegen migrantisierte Jugendliche. Sehr oft wird mit der Polizei gedroht oder sie sogar angerufen, sodass die Kinder Panik haben. Für schwarze Kinder oder Kinder aus geflüchteten Familien bedeutet das unter Umständen eine Retraumatisierung. Die Polizei hat in Kitas und Schulen, insbesondere als pädagogische Maßnahme, nichts zu suchen. Bei antischwarzem Rassismus spielt außerdem Dehumanisierung eine große Rolle. Bei schwarzen Kindern und Jugendlichen wird viel später reagiert, wenn sie in Handgreiflichkeiten oder Streitigkeiten verwickelt sind – weil gedacht wird, sie könnten das eher aushalten als gleichaltrige nichtschwarze Kinder.
Sie erleben in Ihren Workshops viele Lehrkräfte – gibt es da zumindest bei manchen ein Bewusstsein für Rassismus?
Natürlich gibt es engagierte Lehrer*innen. Aber das Thema fehlt komplett in der pädagogischen Grundausbildung und in der Lehrer*innenausbildung. Manche, die mit einem genuinen Interesse zu uns kommen, erleben viele Aha-Momente und entwickeln Strategien, wie sie ihre Schüler*innen unterstützen können. Das ist schön, aber es ist auch traurig, dass es am Ende so beliebig ist. Der Schutz vor Diskriminierung ist gesetzlich vorgeschrieben. Aber viele denken, dass beim Thema Rassismus das Allgemeinwissen ausreicht – anders als zum Beispiel bei Mathe, wo es klare Vorschriften gibt, was zur Ausbildung gehört. Deshalb sprechen wir auch nicht von Sensibilisierung, sondern von Professionalisierung, wenn es um pädagogische Fachkräfte und Lehrkräfte geht.
Welche Rolle spielt dabei der Lehrkräftemangel in Berlin?
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Es gibt Leute, die einfach müde sind. Das schwächt die Haltung gegen Diskriminierung. Aber es ist auch ein Privileg von weißen Lehrkräften, sich nicht damit auseinandersetzen zu müssen. Dann gibt es Fachkräfte, bei denen ich und auch die betroffenen Kinder und Jugendlichen sagen würden, dass sie nicht mehr unterrichten sollten. Die haben rechtsextreme Einstellungen und sagen öffentlich entsprechende Sachen. Trotzdem bleiben sie im Dienst – da spielt der Lehrkräftemangel auch eine große Rolle. Wenn sie verbeamtet sind, können sie aber auch nicht so einfach gekündigt werden.
Ja, die Situation an Schulen zu ändern, dürfte sehr mühsam und aufwendig sein. Wie helfen Sie Schüler*innen, wenn sie mit Rassismen konfrontiert sind und sich daran auf kurze Sicht nichts ändern wird?
Wenn sie zu uns kommen, und damit haben sie schon eine ganz große Hürde genommen, hören wir erst einmal ganz lange zu und bestätigen die Erfahrungen und Gefühle, die sie gemacht haben. Es bedeutet schon sehr viel, dass sie erzählen können, ohne in Frage gestellt oder fertiggemacht zu werden. Dadurch entsteht der stärkende Moment: »Das, was ich erlebt habe, ist wahr.« Der nächste Schritt ist zu besprechen, was möglich ist und was wir machen können. Dabei stehen die Bedarfe und Bedürfnisse der zu Beratenden im Fokus. Eine Schülerin aus der zweiten Klasse, die antischwarzen Rassismus erlebt hat, hat sich Empowerment-Treffen gewünscht. Wir haben uns also mehrmals innerhalb eines Jahres getroffen und Handlungsstrategien geübt. Das war eine Zweitklässlerin, muss man betonen. Solche Kinder benötigen Unterstützung, sowohl von ihren Familien als auch im schulischen Umfeld, da sie in der Schule häufig mit Repressalien konfrontiert sind. Eigentlich wollen Kinder entspannt zur Schule gehen und dort in Ruhe lernen. Die wenigsten wollen rechtliche Schritte einleiten. Wenn die Kinder und Jugendlichen mit ihren Familien das wollen, kontaktieren wir die Schulleitung und organisieren zum Beispiel ein klärendes, intervenierendes Gespräch und gegebenenfalls eine Mediation. In krassen Fällen haben wir aber auch schon die Empfehlung ausgesprochen, die Schule oder sogar den Bezirk zu wechseln. Aber so ein Wechsel bedeutet eine riesige Anstrengung für die Familie. Zusammenfassend: Ja, leider müssen rassifizierte Kinder und Jugendliche im Bildungssystem mit Rassismus rechnen. Hierbei haben wir eine bedeutende gesellschaftliche Verantwortung und Aufgabe vor uns.
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