Corona: Kapitalistischer Albtraum

Während der Corona-Pandemie verharrte die Linke zwischen Staatsvertrauen und Verschwörungsgeraune – ein Zustand,der mit der Pandemie insgesamt verdrängt wurde. Dagegen legt Maximilian Hauer nun seine bemerkenswerten»Orientierungsversuche im Ausnahmezustand« vor

Gemessen an dem Grad der Superlative, mit denen die Pandemie vor erst wenigen Jahren als Zäsur beschworen wurde, ist von Covid wenig geblieben. Vergessen ist der Stillstand des Alltags und zurück die vermeintlich nie wieder zu erreichende Normalität. Was für die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft im Ganzen gar nicht so verwunderlich ist – dass sich das Bestehende schnell wieder zur Übermacht aufbäumt –, kann für eine Linke eigentlich kein Zustand sein. Zumal diese sich während der Pandemie schon durch eine bemerkenswerte Apathie hervortat, still gestellt zwischen dem Widerspruch, dass die Rufe nach einem solidarischen Lockdown allzu nah am technokratischen Autoritarismus und die staatskritischen Impulse allzu nah am libertären Autoritarismus lagen.

Die Zäsur bestand letztlich darin, dass alle lieb gewonnenen Theorie- und Analysewerkzeuge den Geist aufgegeben zu haben schienen. Die Pandemie traf eine kapitalistische Gesellschaft, aber das gesellschaftliche Naturverhältnis wurde kaum eingehender betrachtet als in der Gewissheit, dass Kapitalismus eben etwas Schlechtes sei. Die Pandemie war irgendwie Biopolitik, ohne dass sich diese Foucaultsche Machtformel mit Gehalt anreichern ließ. Sie war eine Krise oder gar ein Interregnum, ohne dass sich irgendeines der erhofften »Krise als Chance«-Momente verwirklicht hätte. Und dann war sie irgendwann scheinbar einfach vorbei.

»Die Pandemie wird wie ein böser Traum behandelt, den man nach dem Aufwachen am liebsten schnell vergessen möchte«, resümiert Maximilian Hauer diesen Stand des öffentlichen Bewusstseins. Der Albtraum dürfte bis zu einem Gewissen grade dem Zustand geschuldet sein, dass man bis heute nicht ganz verstanden hat, wie einem geschah. Zu dieser Aufarbeitung von links hat Hauer nun seinen Band »Seuchenjahre« vorgelegt, über »Orientierungsversuche im Ausnahmezustand«.

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Die Pandemie umstellen

Seine Analysen als »Orientierungsversuche« zu bezeichnen trifft zwar einerseits das Vorgehen, stapelt aber gleichzeitig tief. Denn die sechs in sich geschlossenen Artikel, die Hauer in seinem Band zusammenstellt, erreichen ein beeindruckendes Erkenntnisniveau und steigen von der Ideologiekritik bis zur Staatstheorie auf. Dabei kommt Hauer ohne besserwisserisches Auftrumpfen aus. Weder will er einen vermeintlichen Plan hinter dem Chaos verstanden haben, noch nimmt er die Pandemie zum Beweis seiner feststehenden Perspektive.

Stattdessen folgt er konsequent einer materialistischen Maxime: Wenn man seinen Gegenstand nicht auf den Begriff bringen kann – und dies schien ja genau das Problem einer linken Auseinandersetzung zu sein –, so ist dies schon der Hinweis darauf, dass man es hier selbst mit einem Moment der Krisenkonstellation zu tun bekommt. Folglich muss man den Gegenstand umstellen, sich ihm in der Durcharbeitung seiner Elemente annähern. Hauers Beiträge sind daher Essays, in denen verschiedene Aspekte der Pandemie und ihrer gesellschaftlichen Situation zu einer Deutung verdichtet werden.

Die Texte des Bands sind größtenteils während der Pandemie entstanden und wurden dort auch bereits an verschiedenen Stellen veröffentlicht. Man merkt ihnen den Lernprozess des Autors an, im besten Sinne. So wechseln die Texte im Laufe der Entstehungszeit, wie Hauer selbst sagt, den Charakter; »das eingreifende Moment tritt hinter das analytische Moment zurück«. Während also manche Beiträge noch direkte Interventionen in bestimmte öffentliche Diskurse darstellen, zeichnen die späteren und längeren Texte ein umfassendes Bild der gesellschaftlichen, sprich staatlichen Bedingungen, unter denen die Krise erst voll verständlich wird.

Theoretische Interventionen

Hauers erste Texte dienen dieser »ideologiekritischen Durcharbeitung mythischer Erzählungen über die Pandemie«, allen voran jener Kriegsmetaphorik, mit der die Regierungen gegen das Virus ins Feld zogen. Aus dem äußeren Feind, der durch Abschottung aus dem Land gehalten werden musste, wurde schnell die omnipräsente Bedrohung, gegen die nun alle im selben Boot zu sitzen hatten. Und aus dem Einsatz des Pflege- und Krankenhauspersonals wurde eine Front mystifiziert, in der die ständig abgewertete Sorgearbeit nur Anerkennung finden konnte »durch die Behauptung, sie sei etwas anderes, Männliches: Kriegswerk«. Der Staat stellte in diesem »Krieg« auf Burgfrieden und beschlagnahmte die systemrelevanten Teile, »wenn die soziale Maschine ins Stocken gerät«.

Selbst bei nicht wenigen Linken wirkten »der diskrete Charme des Etatismus« und die Hoffnung auf die Krisenkompetenz des Staates, der wie immer schnell unter Beweis stellte, dass »die Übergänge zwischen der Bekämpfung unbotmäßiger Arbeiterinnen und der von Naturkatastrophen fließend« sind. Hauer polemisiert gegen diejenigen, die der Inszenierung staatlicher Souveränität zwischen Ausgangsbeschränkung und Parkpatrouillen als höhere Vernunft auf den Leim gingen, ohne sich dabei »libertärem Kitsch« hinzugeben. Ihm geht es darum, die Rolle des Staats darin zu erkennen, die »verborgene Stätte der Produktion« aus der Öffentlichkeit herauszuhalten. Dass »drei Menschen in einem Park ein öffentliches Ärgernis, 3000 Menschen in einer Fabrik Privatsache« waren, ist ein zu analysierender Umstand.

Die Grundlagen solcher Ideologien sucht Hauer folgerichtig in den gesellschaftlichen Verhältnissen – und in Bezug auf die Pandemie eben im Verhältnis der Gesellschaft zur Natur. Aus den jeweiligen Naturbegriffen ergeben sich die spontanen Deutungen der Pandemie als wahlweise religiöses beziehungsweise reines Naturereignis oder als finstere Verschwörung. Die Ohnmacht der einen Deutung korrespondiert mit dem Größenwahn der anderen. Aber selbst die aufgeklärten Vertreter*innen des »Follow the Science«-Positivismus können kein Kriterium angeben, was die Ausrichtung an wissenschaftlichen Erkenntnissen von einer bloßen »virologischen Weltanschauung« unterscheidet. Allen Deutungen attestiert Hauer, dass die Trennung von Natur und Gesellschaft in die Ideologie führt, weil dem gesellschaftlichen Faktum nicht Rechnung getragen wird, dass die Pandemie in »ihrer Entstehung und Verbreitung durch die sozialen Formen des Kapitalismus koproduziert ist«.

Vom Standpunkt der Reproduktion

Fernab davon, ein bloßes kapitalismuskritisches Lippenbekenntnis zu geben, macht sich Hauer an die Analyse dieser sozialen Formen des Kapitalismus. Das Herzstück seines Bandes bildet daher der mit Abstand längste Artikel zum »Staat in der Covid-19-Pandemie«. Hier kann Hauer schließlich zahlreiche Zusammenhänge treffend benennen. So bringt er etwa das unendliche öffentliche Lamentieren über eine gesellschaftliche Spaltung mit dem Gegensatz von technokratischem Zentrismus und libertärem Populismus auf den Punkt, nämlich auf das Verhältnis zum Staat. Dessen Entwicklung zeichnet er nach, von Hobbes’ »Leviathan« – auf dessen Buchtitel nicht umsonst die pestverseuchte Stadt prangt – über den Staat der Kapitalisten hin zum Staat als ideellem Gesamtkapitalisten und im Zuge der neoliberalen Umgestaltung wieder zurück. Vom Standpunkt der Reproduktion der Produktionsbedingungen erhellt sich das gesellschaftliche Chaos mit einem Schlag.

Hauer sieht den Staat damit in der Zwickmühle, den »banalen Notwendigkeiten der Akkumulation« zu genügen, während sowohl der Betrieb wie auch die dafür notwendige Arbeitskraft bei Laune gehalten werden muss. »Die Gesundheitskrise wirkt als Trigger für Destruktionskräfte« wie gesellschaftliche Angst oder Panik an den Märkten, die der Staat einhegen muss und er setzte dabei auf Maßnahmen kontrollierter Unterbrechungen, Gesundheitsschutz oder kurzfristige Umverteilungen, ohne dass dies eine Abkehr von seiner Kernaufgabe bedeutete. Den Fokus darauf, inwiefern dieser Normalbetrieb bereits die Katastrophe ist, verloren Hauer zufolge auch linke Initiativen wie #ZeroCovid und ihr »Schwanken zwischen Utopie und Realpolitik«. Die Kampagne hatte somit »paradoxerweise den Effekt, den Normalzustand krankmachender Arbeits- und Lebensverhältnisse in einem rosigen Licht erscheinen zu lassen«.

Doppelter Lichtblick

Hauers treffende Analysen sind im doppelten Sinne ein Lichtblick. In seiner essayistischen Annäherung an eine kapitalistische Gesellschaft in der pandemischen Krise beweist er den Erkenntnisgehalt linker Theorie, aus der er zahlreiche Bezüge von Marx und Engels über Agnolis Staatstheorie zieht, bis zu zeitgenössischen Kulturkritiken Peter Sloterdijks oder Judith Butlers. Die Widersprüche dieser Theorien müssen ihn nicht aufhalten, denn er visiert kein geschlossenes Gedankengebäude an, sondern eben einen »Orientierungsversuch«.

Gleichzeitig zeigt Hauer damit eindrücklich, zu welcher Klarsicht diese theoretische Erkenntnis eigentlich fähig ist – und von wo diese Analysen zu erwarten sind. Sie kamen und kommen nicht aus den staatlichen Instituten der Universitäten oder von öffentlichen Intellektuellen. Die mitunter peinlichen Schnellschüsse zahlreicher Sammel- und Diskussionsbände, die sich während der Pandemie in Spekulationen über die kommende Weltordnung oder bloße Tautologien erschöpften, brauchte kein Mensch – außer jene, die im akademischen Geschäft ihre Publikationen als Währung einsetzen müssen. Stattdessen kommt Hauers Erkenntnisqualität von durchgearbeiteter Erfahrung in den wenigen Nischen emanzipatorischer Theorieproduktion, die sich zumindest noch teilweise in linken Zeitschriften und Gegenöffentlichkeit erhalten konnten.

Und schließlich kommen seine Analysen nicht aus der Isolation des theoretischen Genies, sondern sind in gemeinsamer Reflexion entstanden. Hauer beschreibt, wie seine Mitarbeit und der Austausch im Rahmen des Blogs »Solidarisch gegen Corona« die Bedingung war, »angesichts einer übermächtigen Bedrohung nicht in Angst zu erstarren«. Es brauchte »die Existenz dieses Kollektivs, um eine Sprache zu finden«, wie er schreibt. So unscheinbar das Ergebnis in den Maßstäben der Aufmerksamkeitsökonomie anmuten mag, der Band leistet jene in der Praxis durchgeführte Erkenntnis, die es braucht.

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